... oder einfach so!. Kathy Sdao

... oder einfach so! - Kathy Sdao


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wissen nicht, wie es ist, einen aggressiven Hund zu haben“, versichere ich ihm, dass ich genau weiß, was er meint.

      Ich war stolz auf meinen Erfolg mit Nick – bis zum Dezember. Dann schockierte er mich damit, dass er zwei Mal – beide Male in meinem Wohnzimmer – eine Freundin in den Fuß biss. Die Bisse waren gehemmt; niemand wurde verletzt. Den ersten Vorfall sah ich als einmaligen unglücklichen Zufall und nahm ihn nicht weiter ernst. Als es einige Wochen später jedoch zu einem weiteren Biss gegenüber einer anderen Freundin kam, verzweifelte ich. Weil ich nicht verstand, was passiert war, fragte ich mehrere Kolleginnen um Rat.

      Erst wandte ich mich an eine Trainerin und langjährige Freundin, die ich zutiefst respektiere. Sie war meine Mentorin gewesen, als ich beschloss, fortan Hunde anstatt großer nasser Tiere im Zoo zu trainieren, teilte ihr Wissen großzügig mit mir und ging verständnisvoll damit um, dass ich arroganterweise glaubte, Hunde zu trainieren wäre für jemanden, der mit Walen und Walrossen gearbeitet hatte, ein Kinderspiel. Auch war sie eine jener Kolleginnen, die mir zu erkennen halfen, dass ich noch viel zum Thema Hundeverhalten lernen musste. Jederzeit durfte ich von ihren Trainingstechniken, ihrer Kursgestaltung und ihrem Geschäftsmodell lernen. Nun wandte ich mich also an sie, um Rat bezüglich Nicks Aggression einzuholen. Unser Gespräch sollte über meine gesamte Trainingsphilosophie hinweg Wellen schlagen.

      Meine Freundin schlug vor, mich zum Mittagessen zu besuchen und bei dieser Gelegenheit über Nicks Verhalten zu sprechen. Das Meeting begann wie eine Sitcom-Folge. Ich hatte nicht oft Besuch. Die Fliegengittertür in meinem Eingangsbereich war kaputt, weshalb sie aus dem Rahmen und meiner Freundin entgegen fiel, als Nick in seiner Aufregung daran hochsprang. Kein vielversprechender Beginn! Dies war natürlich mein Fehler – ich hätte Nick nicht zum Eingang laufen lassen sollen. Ich rief ihn zu mir und war erleichtert, dass er weder bellte noch knurrte, sondern sich über unsere Besucherin zu freuen schien.

      Meine Freundin hatte Mittagessen für uns mitgebracht. Wir packten das Essen am Couchtisch im Wohnzimmer aus. Nick war es nicht gewohnt, verlockende Köstlichkeiten auf diesem niedrigen Tisch zu sehen. Er tat das Naheliegende und kostete bei der ersten Gelegenheit aus meiner Suppenschüssel. Dieser Fauxpas war unhöflich, aber nicht weiter überraschend. Langsam wurde mir der Eindruck, den ich gegenüber meiner geschätzten Kollegin erwecken musste, ein wenig peinlich; jedoch kam ich nicht auf die Idee, dass Nicks Mangel an Tischmanieren mit seiner Aggression zusammenhängen könnte. Nick war ganz einfach lästig. Er war weder aggressiv noch dominant, sondern zeigte, dass ich ihm nie beigebracht hatte, wie er sich gegenüber Besuchern verhalten sollte – das ging zu 100% auf meine Kappe.

      Während wir es uns zum Essen auf der Couch gemütlich machten, sprang Nick in meinen Lehnsessel, um neben mir zu sitzen. Er sah glücklich aus und hoffte, dass etwas für ihn abfallen würde. Meine Kollegin saß uns gegenüber und stand gerade im Begriff, mir ihre Vorschläge zu unterbreiten, wie ich Nick helfen könne. Nie hätte ich eine Verbindung zwischen den Bissen und Nicks Hochspringen an der Tür, dem Stibitzen meiner Suppe oder Nicks Platz am Lehnsessel vermutet – bis sie sagte: „Genau das ist dein Problem! Nick ist verwöhnt; er hat zu viele Freiheiten. Er sollte an der Leine sein und neben dir am Boden liegen. Warum darf er auf den Stuhl?“

      Was?! Meine Nackenhaare sträubten sich und ich ging in die Defensive. Die Frage kam unerwartet. Ich stammelte eine unzusammenhängende Antwort, während ich versuchte, meinen Ärger hinunterzuschlucken. Ich konnte mich unmöglich damit abfinden, dass DAS der Grund für Nicks Bisse sein sollte. Rückblickend bin ich mir sicher, dass meine Freundin mir noch viele weitere Ratschläge gab, die aber gar nicht mehr zu mir durchdrangen.

      Warum brachte mich ihr Rat dermaßen aus dem Konzept? Meine Freundin hatte mein Weltbild ins Wanken gebracht. Sie trug keine Schuld – vielmehr machte sie mir ein unbezahlbares Geschenk: Sie eröffnete mir eine neue Perspektive.

      Warum war ich eigentlich so aufgebracht? Bei ihren Kommentaren handelte es sich um genau jene Ratschläge, die ich im Laufe der Jahre selbst zahlreichen Kunden mit auf den Weg gegeben hatte. Ich hatte sie zuhause besucht und ihre Situation, die der meinigen zum Verwechseln ähnelte, ebenso analysiert wie meine Kollegin meine Beziehung zu Nick. Jetzt, wo ich denselben Rat erhielt, anstatt ihn zu geben, schien er mir kein bisschen stimmig. Ehrlich gesagt war ich begeistert, dass Nick in meinem Sessel saß: Er wirkte entspannt und kein bisschen aggressiv! Seinen nicht vorhandenen Tischmanieren zum Trotz war ich stolz auf ihn! Meine Freundin hingegen meinte, dass das Hochspringen an der Tür, das Kosten meiner Suppe und Nicks Platz auf meinem Stuhl der Grund für seiner Aggression gegenüber Besuchern war! Ich schüttelte den Kopf. Hing Nicks Anspringen von Gästen und Nach-Füßen-Schnappen tatsächlich mit seinen unverdienten Privilegien zusammen – mit Dingen wie der Möglichkeit, auf der Couch und am Bett zu liegen oder von meinem Essen zu kosten, ohne erst etwas dafür tun zu müssen? Bald erkannte ich, dass ich mich nicht über meine Freundin ärgerte – schließlich hatte sie ein großes Herz und bemühte sich sehr, uns zu helfen! –, sondern von der Erkenntnis irritiert war, meinen Kundinnen und Kunden etwas geraten zu haben, was keinen Sinn zu machen schien.

      Wenig später unterhielt ich mich mit einer anderen Kollegin – einer Tierärztin, die sich auf Verhaltensberatung spezialisiert hatte – über Nicks Aggression. Sie wusste nicht, was ich bereits erfahren oder versucht hatte, und fragte, ob ich sicher sei, alle potenziellen Auslöser Nicks gegenkonditioniert zu haben: „Gibt es in den Situationen, in denen er gebissen hat, ungewöhnliche Reize?“ Gemeinsam analysierten wir den Kontext der Beißvorfälle und entdeckten mehrere mögliche Faktoren. Besonders fiel uns auf, dass beide Freundinnen Wein getrunken hatten, bevor sie gebissen wurden. Sie waren nicht betrunken, hatten aber jeweils ein Glas intus. Nicks gehemmte Bisse traten nicht auf, als meine Freunde ankamen, sondern erst, nachdem sie eine Zeitlang hier gewesen waren, etwas Wein getrunken hatten und dann über den neben ihnen am Boden liegenden Hund hinweg stiegen. War es möglich, dass der Geruch von Alkohol an einem Menschen Nicks Bisse provozierte? Bevor Nick in das Trainingsprogramm des Gefängnisses aufgenommen wurde, hatte er als Streuner auf der Straße gelebt. Hatte er negative Erfahrungen mit Menschen gemacht, welche nach Alkohol rochen? Bis meine Tierärztin mich auf diese Möglichkeit hinwies, hatte ich nicht daran gedacht, dass auch für Menschen nicht wahrnehmbare Gerüche Verhalten auslösen können. Ihre Vermutung, dass der Alkoholgeruch der Schlüssel zu Nicks Problemen sein könne, ermöglichte es mir, seine Gegenkonditionierung weiter auszubauen. Nachdem die entsprechenden Trainingseinheiten Alkohol erforderten, waren sie bei meinen Freunden sehr beliebt!

      Meine Kollegin wies mich auf zwei weitere Faktoren hin: 1) Beide Beißvorfälle waren im Wohnzimmer aufgetreten – einem Raum, in dem ich nur selten Besucher empfing. 2) Das Licht im Wohnzimmer war schummrig. Seither fällt mir vermehrt auf, dass auch aggressive Vorfälle unter den Hunden meiner Klienten verstärkt während der Dämmerung oder zu einem Zeitpunkt auftreten, zu dem es draußen dunkel ist, im Haus jedoch kein Licht eingeschaltet wurde.

      Ich arbeitete daran, Nicks Assoziationen zu diesen Auslösern zu ändern, und er hat seit sieben Jahren niemanden mehr gebissen. Was ich abgesehen von der Freude, mein Leben mit einem liebenswerten und in den meisten Situationen selbstbewussten Hund zu teilen, an dieser Erfahrung am meisten schätze, ist, dass sie mir zwei verschiedene Modelle im Umgang mit unerwünschten bzw. gefährlichen Verhaltensweisen aufzeigte: Eines basiert auf Kontrolle und Rationierung von Privilegien und Freiheiten; das andere auf dem Gegenkonditionieren von Auslösern unerwünschten Verhaltens und dem Training von Alternativverhalten. Während die beiden Modelle einander nicht ausschließen, setzen sie doch ganz andere Schwerpunkte.

      Ichthogramm

      Nachdem ich in einem Moment der Hilflosigkeit meinen eigenen Standard-Ratschlag erhalten und diesen nicht als hilfreich empfunden hatte, ging es mir nicht gut. Ich musste meine Trainingstipps überdenken! Also beschloss ich, mich selbst und meinen Umgang mit meinen Hunden eine Woche lang genau zu beobachten. Die nächsten sieben Tagen über schrieb ich mit, welche Dinge Effie und Nick im Alltag „umsonst“ bzw. ohne Gegenleistung erhielten. Im Grunde stellte ich eine Art Ethogramm, das heißt eine quantitative Beschreibung der Verhaltensweisen eines Tieres, über mich selbst auf: Wie und wann ließ ich meinen Hunden Verstärker zukommen? Meine Beobachtungen ergaben, dass ich im Sinne einer „Ohne Fleiß kein Preis“-Philosophie im Training meiner Hunde jämmerlich versagte. Sie erhielten täglich jede


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