Trotzdem: Was uns zusammenhält. Группа авторов
Asyl und Migration – zur moralischen Leitnation Europas zu erheben, und der Hang deutscher Politiker, die Europäische Union auf eine sehr deutsch anmutende föderalistische und postnationale Vorstellung von der Finalität des europäischen Einigungsprozesses einzuschwören.
1986, vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entbrannte in der »alten« Bundesrepublik, ausgelöst durch einen Zeitungsaufsatz des Berliner Historikers Ernst Nolte, der »Historikerstreit« über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung.20 Noltes Versuch, den Rassenmord durch die Nationalsozialisten aus dem Klassenmord der Bolschewiki abzuleiten, also historisch zu relativieren, stieß auf verbreiteten Widerspruch. In einer Entgegnung auf Nolte formulierte der Philosoph Jürgen Habermas eine These, die seitdem immer wieder zitiert worden ist: »Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein konnte.« 21
Dreißig Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erscheint die »vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens« nicht mehr als eine Errungenschaft, die auf Dauer gesichert ist. Erfolgen konnte die Öffnung nur dort, wo es die Möglichkeit der freien selbstkritischen Auseinandersetzung mit der nationalen und namentlich der nationalsozialistischen Vergangenheit gab: im Westen des geteilten Deutschland. Die DDR hat, herrschaftssoziologisch betrachtet, einen viel radikaleren Bruch mit der deutschen Geschichte vollzogen als die Bundesrepublik, die ehemaligen Nationalsozialisten in großer Zahl die Fortsetzung oder den Beginn neuer beruflicher Karrieren ermöglichte. Der »verordnete Antifaschismus« der SED erreichte aber nicht dieselbe gesellschaftliche Tiefenwirkung wie die offen ausgetragenen Geschichtskontroversen im Westen Deutschlands. Unter der Decke der offiziellen Ideologie konnten in der DDR deutschnationale Geschichtsdeutungen und Ressentiments überleben, die in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren weithin verpönt waren. Die radikale Ungleichzeitigkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte wirkt bis heute fort. Sie erklärt zu einem guten Teil auch, warum eine nationalistische Partei wie die Alternative für Deutschland in den neuen Bundesländern sehr viel mehr Zulauf hat als in den alten.
Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch eine Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen gilt es, politische Entscheidungen nicht dadurch zu überhöhen, dass man sie als die jeweils richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt.
Die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens wird nicht nur durch Nachwirkungen der deutschen Teilung, sondern auch durch alles infrage gestellt, was auf eine politische Instrumentalisierung des Holocaust hinausläuft: die Berufung auf ein vermeintlich vorbildliches Lernen aus den nationalsozialistischen Verbrechen in der Absicht, der eigenen Politik eine höhere Legitimation zu verschaffen, ja für Deutschland eine überlegene Sondermoral zu beanspruchen. Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch eine Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen gilt es, politische Entscheidungen nicht dadurch zu überhöhen, dass man sie als die jeweils richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt.
Deutschland ist erst spät, im Gefolge des katastrophalen Scheiterns seiner Auflehnung gegen die politischen Ideen des Westens, zu einer liberalen westlichen Demokratie geworden. Aus seiner Geschichte lässt sich ableiten, dass es hinter die nach 1945 gewonnenen Einsichten nicht zurückfallen darf. Die deutsche Spaltung wird erst dann wirklich überwunden sein, wenn sich diese Erkenntnis in beiden Teilen des vereinigten Deutschland gleichermaßen durchgesetzt hat.
Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung gilt es aber auch, eine andere, neue Spaltung zu überwinden: die Spaltung der deutschen Gesellschaft, hervorgerufen durch die Corona-Pandemie von 2020. Der soziale Zusammenhalt der Deutschen wird sich nur sichern lassen, wenn die, die materiell weniger oder gar nicht unter dem Virus zu leiden haben, mit denen zu teilen bereit sind, deren berufliche Existenz durch Corona bedroht oder bereits vernichtet ist.
Auf Deutschland könnte eine Umverteilung in den Dimensionen des Lastenausgleichs zugunsten der Heimatvertriebenen und Ausgebombten in der »alten« Bundesrepublik oder der wirtschaftlichen Anstrengungen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit nach 1990 zukommen. Doch die deutsche Verantwortung für die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise endet nicht an den Grenzen der Bundesrepublik. Von dem, was Deutschland tut oder nicht tut, hängt in hohem Maß die Zukunft der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung ab. Eine größere Herausforderung der deutschen Politik als die im Zeichen von Corona lässt sich kaum denken.
Anmerkungen
1 Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen. 3. Auflage. Stuttgart 1961, S. 90, 235.
2 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Hrsg. auf Beschluss der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von Franz Wigard. 9 Bde. Leipzig 1848/49, Bd. 6, S. 4596.
3 Vgl.: Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. 5. Auflage. München 2012, S. 214 f.
4 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 268, S. 7728.
5 Richard Löwenthal: »Bonn und Weimar. Zwei deutsche Demokratien«, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.): Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945–1953. Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 5 (1979), S. 9–25, hier S. 11.
6 Fritz René Allemann: Bonn ist nicht Weimar. Köln 1956, S. 274.
7 Egon Bahr: Zu meiner Zeit. München 1996, S. 152 ff.
8 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 6. Wahlperiode, 5. Sitzung, Bd. 71, S. 21.
9 Bundesverfassungsgericht: Entscheidungen der amtlichen Sammlung, Bd. 36, Grundlagenvertrag Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Tübingen 1974, S. 1–36.
10 Carl-Christian Kaiser, Hermann Rudolph und Theo Sommer: »Die Elbe – ein deutscher Strom, nicht Deutschlands Grenze. Ein Interview mit Günter Grass«, in: DIE ZEIT, Nr. 6, 30.1.1981.
11 Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. 6. Auflage. Köln 1979, S. 544 (Nachwort zur 5. Auflage).
12 Vgl.: Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung. 5. Auflage. München 2012, S. 431 ff., 470 ff.
13 Oskar Lafontaine: Die Gesellschaft der Zukunft.