Das kleine 1 x 1 der Oralchirurgie. Группа авторов
ein gezieltes Gespräch mit dem Patienten bzw. ein Nachfragen zu ermöglichen. Es werden alle relevanten durchlaufenen oder aktuellen Erkrankungen und Diagnosen des Herz-/Kreislaufsystems, Gastrointestinaltrakts, Stoffwechsel-, Nerven-, Blut- und Gerinnungssystems, Bewegungsapparats sowie etwaige Infektionskrankheiten erfasst. Durch die demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft hin zu einer immer älteren Bevölkerungsstruktur wird das Erkennen von Patienten unter Polypharmazie und mit Multimorbidität immer relevanter.
Eine einheitliche Begriffsdefinition von Polypharmazie (Synonyme: Polymedikation, Polypharmakotherapie) existiert leider nicht. In der Regel ist die Anzahl von (gleichzeitig) eingenommenen Arzneimitteln das Kriterium der Definition, wobei die konkrete Anzahl in der Literatur variiert. Am häufigsten wird die Menge von fünf oder mehr gleichzeitig eingenommenen Arzneimitteln genannt. Als Multimorbidität wird das gleichzeitige Auftreten von zwei oder mehr chronischen Krankheiten definiert. In der Schweiz sind heute rund 30 % aller Personen definitionsgemäß multimorbid, wobei diese Tendenz steigend ist. Multimorbidität und Alter sind als Hauptrisikofaktoren für eine Polypharmazie zu betrachten. Dies zeigt sich exemplarisch an folgenden eindrucksvollen Zahlen: 80 % der > 70-Jährigen in der Schweiz nehmen täglich Medikamente ein, davon 50 % fünf und mehr pro Tag. Wenn sich also Patienten ab 60/70 Jahren als völlig gesund bezeichnen und auch die Einnahme von Medikamenten verneinen, lohnt es sich nachzufragen (Abb. 1-2).
Abb. 1-2 Zwei Beispiele, wie Patienten auf Nachfrage nach Medikamenteneinnahme reagieren: a) Eine 75-jährige Patientin zeigt das Kärtchen zur regelmäßigen Kontrolle des INR-Wertes (mitsamt Quick) und auch ihre selbst geführte Medikamentenliste, wobei die Häkchen die derzeit eingenommenen Medikamente kennzeichnen. Momentan sind dies inkl. der Antikoagulation fünf Stück; somit liegt eine Polypharmazie vor. b) Eine knapp 80-jährige Patientin aus Hong Kong führt keine separate Medikamentenliste, aber hat alle eingenommenen Medikamente inkl. Dosierungsschema zur Erstkonsultation mitgebracht.
Zudem kann auch – das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt – gezielt beim Hausarzt nachgefragt werden. Besonders vor geplanten invasiven oralchirurgischen Eingriffen kann es äußerst wichtig sein, dass das durch den Patienten gewonnene Wissen sowie die Krankengeschichte interdisziplinär vernetzt werden und Berichte, Diagnose- und Medikamentenlisten beim Hausarzt und beim Facharzt angefragt werden. Diese Angaben gilt es regelmäßig zu aktualisieren. Im folgenden Abschnitt sollen einige wichtige Problemkreise und potenzielle Risikofaktoren kurz hervorgehoben werden.
Infektionskrankheiten
Für die Zahnärztin und das Praxispersonal ist es wichtig zu wissen, ob eine Infektionskrankheit, wie beispielsweise HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) oder Hepatitis, vorliegt, damit entsprechende Schutzmaßnahmen getroffen werden können. Zudem kann dann im Verlauf der extra- und intraoralen Untersuchung auf gegebenenfalls vorhandene typische kutane oder orale Effloreszenzen geachtet werden.
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellen kardiovaskuläre Erkrankungen bei Menschen ab 50 Jahren die häufigste Gruppe der chronischen Erkrankungen dar. Dabei ist es besonders wichtig zu erfassen, ob der Patient Antikoagulanzien einnimmt, da dies eine erhöhte Blutungsneigung bei Eingriffen zur Folge hat. Idealerweise sollten die verschiedenen Gruppen von Antikoagulanzien (Vitamin-K-Antagonisten, neue direkte orale Antikoagulanzien, Thrombozytenaggregationshemmer) vor Therapiebeginn erkannt und ihre Wirkung bzw. deren Risiken im Zusammenhang mit dem Eingriff verstanden werden. Liegt ein Endokarditisrisiko vor (z. B. Patienten mit Herzklappenersatz oder angeborenen Herzvitien), ist eine antibiotische Prophylaxe vor oralchirurgischen oder auch parodontalen Eingriffen indiziert.
Knochenstoffwechsel (vor allem antiresorptive Medikation)
Bei älteren Patienten ist es ratsam gezielt nach einer Osteoporose (Cave: auch bei Männern, wobei dies oft eine Lebensdekade später relevant wird) oder einer onkologischen Grunderkrankung nachzufragen – dies besonders im Hinblick auf die aktuelle oder frühere Einnahme antiresorptiver Medikamente, wie Bisphosphonate oder monoklonale Antikörper (Denosumab). Besonders die Bisphosphonate haben eine hohe Halbwertszeit und beeinflussen den Knochenstoffwechsel auch noch Jahre nach einer therapeutischen Einnahme. Bei Denusomab ist andererseits speziell der Reboundeffekt beim Absetzten des Medikaments problematisch, da es dann zu einem markanten Knochendichteverlust kommt, der mit Knochenbrüchen einhergehen kann.
Bei Patienten unter einer Therapie mit antiresorptiven Medikamenten gilt es vor allem auf ein erhöhtes Risiko einer Osteonekrose des Kieferknochens bei oralchirurgischen Eingriffen zu achten. Hier gehören Malignompatienten (metastasierende Mamma-, Prostata- oder Lungenkarzinome) zur Hochrisikogruppe (Abb. 1-3) und Osteoporosepatienten eher zur Niedrigrisikogruppe (Abb. 1-4), was aber auch von der Dosis, der Dauer der Medikamenteneinnahme und auch den möglicherweise zusätzlich vorhandenen systemischen Erkrankungen bzw. deren pharmakologischer Therapie abhängt.
Abb. 1-3 Die Panoramaschichtaufnahme (a) eines 77-jährigen Patienten mit metastasierendem Prostatakarzinom und unter Zoledronat-Therapie (i. v.) zeigt den Zustand nach diversen Zahnentfernungen im Ober- und Unterkiefer. Im Oberkiefer Regio 14 (b) und im Unterkiefer Regio 44 (c) ist es zu Wundheilungsstörungen mit teilweise freiliegendem Knochen gekommen. Somit besteht der Verdacht auf eine Medikamenten-assoziierte Osteonekrose unter hochdosierter Bisphosphonattherapie.
Abb. 1-4 Die Panoramaschichtaufnahme (a) einer 84-jährigen Patientin mit Osteoporose und unter langjähriger oraler Bisphosphonattherapie (Alendronat) zeigt den Zustand nach Entfernung der Restzähne im Unterkiefer. In Regio 47/48 (b) und 37/38 (c) zeigt sich eine deutliche Wundheilungsstörung mit freiliegendem Knochen. Somit besteht der Verdacht auf eine Medikamenten-assoziierte Osteonekrose unter niedrig dosierter Bisphosphonattherapie.
Diabetes mellitus
Bei einem bekannten Diabetes mellitus sollte vor einer invasiven Behandlung geprüft werden, ob dieser gut eingestellt ist. Ein guter Richtwert ist dabei der Langzeitzucker (HbA1c), der idealerweise unter 7 % sein sollte. Bei ungenügender Kontrolle des Diabetes ist nach oralchirurgischen Eingriffen mit einer verzögerten Wundheilung zu rechnen.
Medikamente mit Auswirkungen auf die Mundgesundheit
Aus präventivzahnmedizinischer Perspektive sind allgemeinmedizinische Faktoren und Medikamente zu prüfen, die einen Einfluss auf die orale Gesundheit – besonders die Speichelproduktion und die Gingiva (Gingivahyperplasien) – haben. Es gibt zahlreiche Medikamente, wie Antihypertensiva oder Antidepressiva, welche die Speichelproduktion quantitativ und qualitativ deutlich beeinträchtigen, was sich dann klinisch als Hyposalivation (subjektiv: Xerostomie) manifestiert. Andererseits sind bei Organtransplantierten die Immunsuppressiva, bei Epileptikern Antiepileptika oder bei Patienten mit Bluthochdruck die Einnahme von Kalziumantagonisten (Nifedipin, Amlodipin) zu beachten, die zu Gingivahyperplasien führen können (Abb. 1-5).
Abb. 1-5 Generalisierte Wucherungen an der Gingiva im Ober- und Unterkiefer (a) bei einem 59-jährigen Patienten unter Amlodipin-Therapie wegen einer Hypertonie. Besonders die Papillenregionen im Seitenzahnbereich im Oberkiefer (b) und in der Frontzahnregion im Unterkiefer (c) zeigen ausgeprägte