Eberhard Arnold. Markus Baum
schon früh die intellektuelle Auseinandersetzung und war bereit, sie um seiner Auffassung von der Wahrheit willen recht weit zu treiben. Jedenfalls durchliefen Eberhard Arnold und seine Geschwister eine anstrengende, aber unterm Strich erfolgreiche Persönlichkeitsschule.
Eine Frage wurde im Haushalt der Arnolds nicht offiziell behandelt, und das war die Sache mit den Standesunterschieden. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte Eberhard Arnold recht wenig Berührung mit Leuten aus der „einfachen Bevölkerung“. In der Schule begegnete er fast ausschließlich Jungen aus ebenfalls standesbewussten bürgerlichen Familien. Erstaunt und erregt entdeckte er daher, dass manche Leute viel unkomplizierter und einfacher lebten als er und trotzdem fröhlich und herzlich und echt sein konnten. Er schleppte einen jugendlichen Landstreicher ins vornehme Patrizierhaus seiner Eltern. Er tauschte bei einem Urlaubsaufenthalt in den Bergen seinen Hut gegen die schmuddelige Mütze eines alternden Weltenbummlers und fing sich damit außer den Vorwürfen seiner Eltern auch noch Läuse ein. Er war mit den ausweichenden Auskünften der Eltern nicht immer zufrieden und widersprach gelegentlich: warum sollte jemand, der arm ist, deshalb auch zwangsweise schlecht oder lasterhaft sein? Umgekehrt musste er am Breslauer Johannesgymnasium feststellen, dass Reichtum und ein geachtetes Elternhaus noch lange keine Garantie für Anstand und ein vorbildliches Leben sind. Ein stehlender Fabrikantensohn, flegelnde und boshafte Offiziers- und Beamtenkinder: Im Weltbild des Heranwachsenden kam einiges ins Wanken.
Jugendliche Eskapaden
Die Mitgliedschaft in einer (verbotenen) Schülerverbindung namens „Suevia“ blieb eine kurze Episode. Die Tapferkeitsrituale, die Stockgefechte (den Mensuren der schlagenden Studentenverbindungen nachempfunden), das Gerede von ritterlichem Geist, die Biertrinkerei konnten ihn nur anfangs begeistern. Vom Vater in betrunkenem Zustand erwischt und deshalb schwer beschämt, mit einer drastischen Schulstrafe belegt, setzte er sich zusammen mit einem Freund entschlossen von dieser Art von Vergnügen ab.
Unbefriedigende Konfirmation
Den Konfirmandenunterricht haben Eberhard Arnold und seine Schwester Clara mit großen Erwartungen verknüpft und waren dann eher enttäuscht, dass die kirchliche Unterweisung ähnlich langweilig und bemüht fromm ausfiel wie der Religionsunterricht im Gymnasium. Die Konfirmation selbst war auch keine Offenbarung. Carl Franklin Arnold hatte seiner Familie eine vergleichsweise bescheidene Feier verordnet. Eine Patentante aus Berlin kam zu Besuch; den kurzen Weg von der Kirche nach Hause legte man ausnahmsweise per Droschke zurück. Nachmittags stießen ein paar Freunde der beiden Geschwister zur Gesellschaft. Es gab harmlose Spiele im Salon und zum Ausklang mehrstimmige Volkslieder. Nachdem alles vorbei war, muss Eberhard noch einmal das Gespräch mit seinem Vater gesucht haben. Sinngemäß fragte er ihn, ob und wie die Konfirmation, die Vergewisserung des Glaubens, persönlich erfahrbar werden könne. Carl Franklin Arnold musste ihm eine befriedigende Antwort schuldig bleiben. Er hatte zwar im Haushalt der Gildemeisters in Bremen eine innige und fröhliche Frömmigkeit erlebt; die Pflegeeltern und ihre Verwandten standen in der Tradition des Biblizisten Samuel Collenbusch und des pietistischen Bremer Pastors Gottfried Menken. Den Respekt vor diesen Vorbildern hatte er übernommen; z. B. mutete er Frau und Kindern endlose Lesungen aus alten Predigten von Menken zu; aber ihre selbstverständliche und unbeschwerte Art zu glauben war ihm fremd geblieben. Er empfand stets eine tiefe Ehrfurcht vor dem heiligen Gott und seinen Geboten und fühlte sich verpflichtet, mit dem größten Ernst um persönliche Heiligung und sittliche Besserung zu kämpfen. Stundenlang konnte er über Psalmtexte meditieren oder im Gebet mit Gott um die tiefsten Menschheitsfragen ringen. Dazu schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein. Wenn er nach Stunden die Studierstube verließ, erlebten ihn die Kinder oft zerknirscht und bedrückt. Kraft oder gar Freude fand er im Gebet offenbar nicht. Seinem Sohn konnte er auch nichts anderes sagen: er versprach sich Gewissheit der Vergebung oder gar des ewigen Heils nur durch diesen harten und mühsamen Weg, durch ständiges Ringen und Beten.
Schärfer als jemals vorher ist Eberhard Arnold anlässlich seiner Konfirmation die soziale Kluft zwischen den gebildeten, wohlhabenden Ständen und den einfachen Leuten aus der Arbeiterschicht bewusst geworden. Auslöser war die Kleiderordnung. So wie sie zur Kirche gezogen waren – er im neuen schwarzen Anzug, Clara im weißen Kleid –, konnten sich das buchstäblich nur gut betuchte Familien leisten. Ärmere Kinder hatten keine extra Gesellschaftsgarderobe. Er fand das ungerecht und zog für sich daraus die Konsequenz, dass er sich mit Standesunterschieden nicht abfinden wollte. Der Entschluss blieb vorerst ohne praktische Folgen, außer für die Dienstmädchen im elterlichen Haushalt: Er behandelte sie von da an freundlicher und nahm ihnen die eine oder andere Handreichung ab.
Zerstreuungen
Für die Schule tat er weiterhin wenig (er glaubte, es werde ihm – wie im materiellen Bereich ja auch – alles zufallen). Seine Interessen richtete er nun auf den Sport: Fußball, Turnen, Rudern auf der – und Schwimmen in der Oder. In der Freizeit bummelte er ganz gerne über die Schweidnitzer Straße, Breslaus Einkaufs- und Flaniermeile. Außerdem hatte er eine Dauerkarte fürs Pferderennen (die Begeisterung für rassige und schnelle Pferde bewahrte er sich sein Leben lang).
Entscheidende Wochen
Eberhard Arnolds älterer Bruder Hermann hatte inzwischen sein Studium angetreten. Clara war mittlerweile 17, Eberhards 16. Geburtstag stand bevor. Die Ferien sollten die beiden nicht mehr, wie bisher stets, mit der Familie verbringen. Das hätte sich schlecht mit der Schule vereinbaren lassen, denn die Sommerferien dauerten bis zum 7. August, die vorlesungsfreie Zeit an der Universität begann aber erst Anfang August. Stattdessen arrangierte die Mutter einen Ferienaufenthalt bei ihrer Cousine Lisbeth und deren Mann. Ernst Ferdinand Klein war Pfarrer in Lichtenrade bei Berlin. Er hatte früher ein Pfarramt in einem schlesischen Weberdorf innegehabt, hatte sich dort weit über das übliche Maß hinaus für die Interessen der Heimarbeiter stark gemacht und hatte ihre Ausbeutung durch die Tuchfabrikanten öffentlich angeprangert. Das Konsistorium der schlesischen evangelischen Kirche hatte ihn daraufhin in eine andere Kirchenprovinz versetzt. Dem streitbaren Pfarrer war die Bewunderung des 16-jährigen Eberhard sicher.
Eberhard Arnold als 19jähriger im Familienkreis (stehend von links: Clara, Carl Franklin Arnold, Betty, sitzend von links: Hermann, Elisabeth Arnold, Hannah, Eberhard)
Just im Sommer 1899 hatte sich Ernst-Ferdinand Klein mit seiner kompromisslosen Wahrheitshebe auch an der neuen Wirkungsstätte Feinde geschaffen. Er hatte durchgesetzt, dass der Kantor wegen unsittlicher Handlungen an einigen Mädchen der Dorfschule entlassen wurde. Der Kantor war nun zwar weg, aber dafür boykottierte ein großer Teil der Dorfbevölkerung die Gottesdienste. Eberhard und Clara Arnold fanden einen festungsmäßig verrammelten Pfarrhof vor. Gelegentlich gingen Scheiben zu Bruch; Drohbotschaften flogen durchs Fenster.
Durch die Umstände stieg der Onkel noch in Eberhard Arnolds Achtung. Der hatte sich von einem Erwachsenen noch nie so gut verstanden gefühlt. Und noch etwas beeindruckte ihn. Er schreibt später, an seinem Onkel habe er zum ersten Mal ein lebensfrohes und mutiges Christentum gesehen, eine Liebe zu Jesus und zu den Armen, wie sie ihm vorher noch nicht begegnet sei.
Eine Episode verfolgte der Gymnasiast nur als stummer und staunender Zeuge: Ein Heilsarmeesoldat war zum Essen eingeladen. Ernst-Ferdinand Klein begrüßte ihn herzlich, nannte ihn „Bruder“ und hörte sich sehr aufmerksam und bewusst den Bericht über die „Seelenrettungsarbeit“ in den dunklen Winkeln Berlins an. Eberhard Arnold war nach eigener Aussage tiefbeeindruckt – einerseits vom Respekt des Onkels vor dem einfachen Salutisten, noch mehr aber von der Hingabe und Selbstverleugnung, die er diesem Mann abspürte.
Ebenfalls im Lauf dieser vier Wochen entdeckte er das Neue Testament. Die Evangelien vor allem. Es war ihm peinlich, wenn hereinplatzende