Eberhard Arnold. Markus Baum
Kirchen radikal verfolgt. Dennoch konnten sich Täufergemeinden vor allem in den Niederlanden (Mennoniten), in der Schweiz und in Mähren halten.
II.
Ohne Überzeugung
Wenn es nach Eberhard Arnolds Wunsch gegangen wäre – er hätte gerne Medizin studiert, träumte von einem selbstlosen Beruf im Dienst der Barmherzigkeit. Leib- und Seelsorge Hand in Hand: seit ein paar Jahren hatte er insgeheim solche Vorstellungen entwickelt und gepflegt. Den Eltern hatte er diese Gedanken nie offenbart; sie stellten inzwischen eigene Überlegungen an, und die gingen in eine andere Richtung.
So fiel der frisch dekorierte Abiturient aus allen Wolken, als ihm der Vater am Abend nach der Prüfung im versammelten Familienkreis eröffnete, er freue sich darauf, den eigenen Sohn an der theologischen Fakultät unter seinen Zuhörern zu sehen. Der suchte mühsam nach Argumenten, wandte ein, er fühle sich nicht zum Theologen berufen, er wisse es schon jetzt, dass er nie Pastor werden könne, aber als Mediziner werde er Tüchtiges leisten.
Carl Franklin Arnold wischte die Wünsche und Bedenken seines Sohnes vom Tisch. Er wollte wenigstens einen seiner Söhne an der Theologischen Fakultät sehen, nachdem Hermann, der Erstgeborene, bereits Jurist geworden war. Er verwies auf den großen Einfluss, den ihm der Dienst auf der Kanzel sichern werde, und auf die lange Kette von Theologen und Pastoren unter den Vorfahren. Und schließlich das vernichtende Argument: das Medizinstudium dauere lang und sei kostspielig, Eberhard habe bereits unnötig viel Zeit an der Schule verbummelt. Fazit: „Du studierst Theologie!“ – Ende der Debatte.
Die DCSV
So fand sich Eberhard Arnold im Sommersemester 1905 als Theologiestudent an der Universität Breslau wieder. Glücklich war er nicht, dabei traf er unter den Kommilitonen genügend andere, die mit ihm die Liebe zu Jesus und den Willen zur bedingungslosen Nachfolge teilten. Sammelpunkt für die jungen bekennenden Christen an der Universität war die Breslauer Sektion der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung, abgekürzt DCSV4. Dort trafen sich Studenten verschiedener Fakultäten mehrmals wöchentlich zu Bibelstunden, besprachen alltägliche Erlebnisse, teilten Freuden und Sorgen. Eberhard Arnold fühlte sich wohl in diesem Kreis, brachte aber nicht das Feuer und Engagement auf wie zuletzt im Bibelkreis und in der Heilsarmee. Er war mit sich unzufrieden, fühlte sich innerlich leer, ärgerte sich über unnütze Debatten und Nichtigkeiten und verzweifelte fast an der Ungeduld, mit der es ihn zu den Armen und Verlorenen hinzog.
Bestätigt fühlte sich Eberhard Arnold durch einen Brief des greisen Heilsarmeegründers und -generals William Booth5. Zwischen Juni 1902 und November 1904 war Booth fünfmal zu evangelistischen Einsätzen (Heilsarmeejargon: „Feldzüge“) in verschiedenen Städten Deutschlands gewesen. Wer ihn wo und wann auf den jugendlichen Eiferer mit der missionarischen und seelsorglichen Begabung aufmerksam gemacht hat, ist nicht mehr auszumachen. Im bewussten Brief jedenfalls hat Booth Eberhard Arnold aufgefordert, in den Dienst der Heilsarmee zu treten.
In einer Aussprache mit den Eltern spielte dieser Brief dann auch eine Rolle, aber er machte auf Carl Franklin und Elisabeth Arnold nicht denselben Eindruck wie auf ihren Sohn. Sie zeigten Verständnis für seine innere Zerrissenheit und seine Selbstzweifel und legten ihm nahe, er möge keine voreiligen Entschlüsse fassen, sondern erst einmal zur DCSV-Konferenz fahren und seine Situation dort mit Freunden beraten.
Die 15. Allgemeine Christliche Studentenkonferenz fand Anfang August 1905 in Wernigerode statt. Eberhard Arnold reiste hin zusammen mit Clara (die somit die Gründungsversammlung der „Deutschen Christlichen Vereinigung studierender Frauen – DCVSF“ erlebte – vier Jahre, nachdem sich die ersten deutschen Universitäten für Frauen geöffnet hatten). Anders als die Blankenburger Allianzkonferenzen, die bereits damals regelmäßig 1.500 und mehr Besucher anzogen, waren die DCSV-Konferenzen familiär und überschaubar: mal 180, mal 250 Teilnehmer aus allen Ecken Deutschlands. Eberhard und Clara tauchten ein in eine herzliche, offene Atmosphäre. Clara Arnold schreibt später von „begeisterter Jesusliebe“, von „tiefer Einheit der Gesinnung“. Hier hörten die Geschwister Ansprachen von General von Viebahn und erlebten den DCSV-Vorsitzenden und Mitgründer Graf Pückler. Hier hat sich Eberhard Arnolds Lebensweg erstmals mit dem von Karl Heim gekreuzt: Heim hielt in Wernigerode ein beeindruckendes Referat zum Thema „Bilden ungelöste Fragen ein Hindernis für das Glaubensleben?“ Noch mehr Gesprächsstoff lieferte ein Gast aus Übersee: der Evangelist R. A. Torrey aus Chicago. Er sprach enthusiastisch über „Die persönliche Erfahrung von der Kraft des Heiligen Geistes“ und von der Erfahrung der „Geistestaufe“ und würzte sein Referat mit beeindruckenden, leider kaum nachprüfbaren Anekdoten aus dem Leben Dwight L. Moodys. Clara Arnold erwähnt Torrey nicht ausdrücklich, bezeugt aber mit vielen anderen Teilnehmern der Konferenz, man habe „die Gegenwart des Heiligen Geistes deutlich spüren“ können. Eberhard Arnold hat Torreys Büchlein „Wie erlangen wir die Fülle der Kraft?“ noch Jahre später sehr geschätzt und weiterempfohlen („Torrey ist in der Tat sehr gut“).
All diese Eindrücke und der Zuspruch jüngerer und älterer DCSV-Genossen halfen Eberhard Arnold, die Unzufriedenheit zu vertreiben und das freudlose Dasein der vergangenen Monate zu beenden. Einige Wochen auf der Nordseeinsel Langeoog im Anschluss an die Konferenz taten das Übrige. Mit Billigung der Eltern setzte er sich von der Familie ab und konnte mit der Natur, mit sich und mit Gott allein sein. Am Ende war er noch immer nicht überzeugt von einer Berufung zum Theologiestudium, aber zumindest bereit, dem Wunsch der Eltern zu folgen und das Studium entschlossen voranzutreiben.
Halle
Halle an der Saale im November 1905: eine stolze, geschichtsbewusste Stadt. Eine blühende Stadt. Dreieinhalb Jahrzehnte Frieden und rasante wirtschaftliche Entwicklung und wilhelminische Architektur. Besonders nach Norden hin hat sich die Stadt entwickelt: breite Straßen, schattige Alleen, großzügige Bürgerhäuser, helle Fassaden, Stucksimse und Kapitelle und mächtige Fensterfronten, wohin man sieht. Entlang der Großen Ulrichstraße haben sich noble Geschäfte angesiedelt. Handel und Gewerbe blühen; die Anzeigenseiten des „Hallischen Tagblattes“ und anderer Zeitungen zeugen davon.
Auch kulturell ist das Angebot beachtlich. Um die Aufmerksamkeit der 2.000 Studenten in der Stadt werben etwa ein Dutzend studentische Verbindungen, darunter auch ein paar „christliche“ Korporationen, gerade noch einmal so viele evangelische und katholische Jünglings- und Jungfrauenvereine, der Christliche Verein junger Männer, der Jugendbund für Entschiedenes Christentum, verschiedene Turn- und Brauchtumsvereine, politische Clubs und Vaterlandsvereinigungen. Und natürlich gibt es auch im Umfeld der Königlichen Universität Halle-Wittenberg eine DCSV-Gruppe. Dort taucht der Name Eberhard Arnold erstmals in einer Mitgliedsliste im November 1905 auf. Im Wintersemester 1905/06 studierte er also in der Saalestadt. Auf der Matrikelbescheinigung („Album Nr. 1132/05“) hat er penibel mit eigener Hand als Anschrift vermerkt: „Albrechtstraße 13“.
Albrechtstraße 13, dritte Etage: das war das Domizil von Heinrich Voigt, Elisabeth Arnolds jüngerem Bruder. Ein Gelehrter wie aus dem Bilderbuch: Doktor der Theologie, Gastmitglied der k. u. k. Wissenschaftsakademie in Prag, seit 1894 in Halle mit einer außerordentlichen Professur für Kirchengeschichte. Ein schnurriger Junggeselle, menschenscheu, lärmempfindlich und nervenschwach, aber mit einem innigen Glauben und mit goldenen Fingern. Klavier und Harmonium, Gluck, Mendelssohn und Schubert, Choräle der Reformationszeit und die „Hymns“ der englischen Erweckungsbewegung halfen ihm über die Einsamkeit hinweg. Und nun sollte ihm der Neffe Gesellschaft leisten.
Eberhard Arnold wohnte hier in jeder Hinsicht günstig. Gleich um die Ecke in der Geiststraße lag das Vereinslokal des CVJM, wo sich seit Anfang 1906 die DCSV traf, immer donnerstagabends um halb neun. Über die Friedrichstraße waren es fünfzehn Minuten Fußmarsch bis zur Universität und zehn Minuten bis zum Stadtmissionshaus „Rosenthal“ am Weidenplan, eine Querstraße hinterm Theater. Etwas