Revolution. Viktor Martinowitsch
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Viktor Martinowitsch (auch: Victor Martinovich), 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Er schreibt regelmäßig für ZEIT online. Martinowitsch wurde bekannt mit dem Roman Paranoia (Voland & Quist 2014), der in Belarus nach Erscheinen inoffiziell verboten wurde und 2013 auch auf Englisch erschienen ist. 2016 erschien sein Roman MOVA bei Voland & Quist, wie schon Paranoia in der Übersetzung von Thomas Weiler. 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis. Von Dezember 2016 bis Mai 2017 war er Gast des Literaturhauses Zürich.
Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Oleg Senzow.
Auf der Seite fussnoten.eu hat er seine Übersetzung von Revolution ausführlich kommentiert.
Originaltitel: Революция, übersetzt aus dem Manuskript
© Viktor Martinowitsch, 2017
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Deutsche Erstausgabe
© by Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2021
Korrektorat: Kristina Wengorz
Umschlaggestaltung: HawaiiF3
Satz: Fred Uhde
ISBN 978-3-86391-280-2
eISBN 978-3-86391-298-7
Inhalt
Erstes Kapitel,
in dem ich erkläre, dass dieses Buch eine Fälschung ist, und dich dir vorstelle
Nihao.
Bist du gerade zusammengezuckt bei diesem Wort, mit dem ich meine SMS immer anfing? Hast du für einen Moment geglaubt, dieses Wort aus einem zufällig gekauften Buch könnte direkt an dich gerichtet sein? Genügen dir diese beiden Fragen, den Tonfall zu erkennen und hinter dem kaum bekannten Autorennamen, der mein Geschreibsel tarnt, auch mich?
Du hast dieses Buch zur Hand genommen, weil ein Detail auf dem Buchrücken deine Aufmerksamkeit erregt hat. Ein Atlantisartefakt. Ein Objekt unserer romantisch versunkenen Zweierwelt. Ich habe dir die Angewohnheit mitgegeben, in allen Dingen Zeichen zu sehen und ihnen zu folgen. Und sie zu interpretieren, aber unbedingt verkehrt!
Wieso ein Buch? Nun, erstens wollte ich dich ausfindig machen. Zweitens wäre es mir ganz lieb, wenn sie davon nichts mitbekämen. Mein Kalkül ist simpel: Ernst zu nehmende Menschen lesen keine Bücher.
Das geschriebene Wort ist als Kommunikationsmittel überholt. Außer dreihundert zufälligen Lesern mit der Angewohnheit, die Stände mit dem verstaubten Altpapier zu durchstöbern, wird niemand meine Stimme hören.
Irgendwie muss ich durchdringen zu dir, meiner einzigen wahren Zuhörerin. Für alle anderen ist dieser Roman Fiction. Für dich ist er Doku-Theater. Ich glaube nicht, dass ich diesen dreihundert detailgeilen Fremden deinen Namen verraten will. Schon gar nicht im Zusammenhang mit den schweren Verbrechen, die noch kommen. Beim Verlassen des Labyrinths sollte der rote Faden wieder aufgewickelt werden, damit sich kein Minotauros mit Dienstausweis der Abteilung Tötungsdelikte an Ariadne heranmacht.
Deshalb will ich dich spaßeshalber »Olja« nennen. Dabei wissen wir ja beide, dass du unmöglich eine Olja sein kannst. Ausgerechnet Olja hieß ja das Objekt unserer Spötteleien, das Plüschpony von nebenan, das jeden Morgen in seinem flauschigen Anzug vor unserem Fenster seine Morgengymnastik absolvierte. Es begleitete mich mit seinen kranken Augen regelmäßig bis zur Haustür. Ich hatte dir versprochen, ich würde dich lieben wie Olja.
Noch ein paar Wendungen, damit die Erinnerung wieder erwacht.
»Frohsine.«
»Marmorküchlein« – so habe ich dich genannt.
Das Denkmal für die ruhmreichen Klempner, das du mir nach dem Sieg über den Wasserhahn errichtet hast.
Wish you were here.
Versand schafft Leiden.
Die spanischen Galeonen auf dem Teich im Ostankino-Park. Das Quartier im Vierten des Fünferwürfels. Die Gastherme mit ihren rostigen Rohren bis in die Kessel der Hölle. Einen Millimeter am Ventil geschraubt, schon warst du bei Alighieri zu Gast. Wir krochen verbrüht aus dem Bad, aber wir lebten auch wie verbrüht.
Erinnerst du dich noch an den Fernsehturm vor dem Fenster, den du ausreißen, rösten und zum Abendessen servieren wolltest? Bis dann ein neuer nachgewachsen wäre, würde es ein paar Jahre dauern. Geschmacklich dürfte der Ostankino-Turm einem geschmurgelten Pilz am nächsten kommen. Bei den Moskauern heißen diese Pilze »Schirmchen«, in meiner Heimat haben sie einen anderen Namen: »Henne«. So ein Fladen auf einem langen Ostankino-Bein. Weißt du