Revolution. Viktor Martinowitsch

Revolution - Viktor Martinowitsch


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      Aber ich darf nicht vergessen, dass dieses Buch sich als Roman ausgibt. Also habe ich mich als »Held« dieses »Romans« ordentlich vorzustellen.

      Ich bin Moskauer. Das heißt, ich bin vor sechzehn Jahren aus meiner kleinen Heimat, die aus Angst vor dem Hypnoseblick des polessischen Zauberers durchgedreht ist, nach Moskau gezogen.

      Ich weiß noch, wie ich die ersten Monate durch Moskau ging und diese Englishman-in-New-York-Gefühl nicht mehr los wurde:

       If manners maketh man as someone said

       He’s the hero of the day

       It takes a man to suffer ignorance and smile

       Be yourself no matter what they say

      Es fühlte sich an, als wäre ich aus einer kompakten europäischen Hauptstadt, in der die Autofahrer für Fußgänger bremsen und die Menschen die Buchstaben des russischen Alphabets sorgfältig aussprechen, in eine platte, wüste, fluchende Zehn-Millionen-Steppe geraten. Das Provinzielle und Zweitklassige an Moskau verblüffte mich in allen Bereichen: in der Art, sich zu kleiden, in diesem besonderen Verständnis von Luxus, das im Rest der Welt augenblicklich als kitschig erkannt wird, in den vorgestrigen Markenartikeln, die hier als Ausweise der Erfolgreichen gelten. In diesem sich für originell haltenden Epigonentum, diesem besonderen Snobismus, wie er nur unter Sultansdienern anzutreffen ist. Darin, wie die Bedienungen keine Eile haben, Tische abzuräumen, für die die nächsten Gäste anstehen, sodass man sich hier manchmal setzen muss, damit sie die Überreste eines fremden Croissants endlich auf den Boden fegen. Mit Ingrimm.

      Und noch einmal: mit Ingrimm.

      Pariž – pas riche. Moskwa, qua qua.

      Ich murmelte eine Paraphrase des Warhol-Satzes vor mich hin: dass jeder in seinem nichtswürdigen Leben seine fünfzehn Minuten Moskau wert sei. Wenn du deine fünfzehn Minuten bekommst, halt dich ran. Schließlich gibt es, wo viel Übel ist (und in Moskau ist viel Übel!), immer auch viel Gutes.

      Das Böse sticht in Moskau sofort ins Auge, erschreckt und stößt ab – bloß weg, nach Hause, zum Teufel! Das Gute erschließt sich dagegen nur dem Geduldigen.

      Es erschließt sich, wenn du dich auf das Moskau-Tempo eingestellt hast, auf die Boxerhaltung mit den erhobenen Fäusten vorm Gesicht.

      Wäre ja auch seltsam, wenn all diese unglaublichen menschlichen Millionen in einer Stadt lebten, die nichts Gutes zu bieten hat außer Geld, das dir diese Stadt schneller wieder wegfrisst, als du es aus ihr herausquetschen kannst.

      Allmählich schleicht sich dann das andere Moskau in dich ein, ohne Prada, Mongolen, Pferdestärken und folkloristischen Firlefanz. Mit diesem Sonderling in der Metro, der dich inmitten der menschlichen Schutthalde plötzlich anlächelt, noch dazu so aufmunternd, dass du den Tag überstehen kannst.

      Moskau ist mehrdimensional. Wer es geschickt anstellt, kann sein gesamtes Leben in der Dimension verbringen, die ihm am angenehmsten ist. Und doch leben alle jahrein, jahraus ausgerechnet in der ungemütlichsten. Dabei, Olja, ist der größte Vorzug der Stadt diese besondere Spielart von Einsamkeit in einer Zehn-Millionen-Metropole, die dermaßen voll ist von komplett gleichgültigen Menschen, dass du auf der Straße das Gefühl haben kannst, du hättest aufgehört zu existieren.

      Hier allein zu sein, fühlt sich zehn Millionen mal so kalt an wie in jeder anderen Stadt der Erde. Weggehen kann ich ja nicht. Wer einen Krieg gewonnen hat, geht nicht weg.

      Wieso ich dich ausfindig machen wollte? Weil ich glaube, dass ich dich zurückholen kann. Unser schlichtes Quartier im Vierten des Fünfers zurückholen, die Gastherme, unseren immer noch ungerösteten Ostankino-Turm. Mit meinen jetzigen Möglichkeiten wäre es mir ein Leichtes, dich aus jeder Versenkung zu holen, und wenn du als Aussteigerin irgendwo in Chiang Mai verschwindest. Aber ich möchte meine quirligen Heerscharen lieber nicht einschalten. Einmal aufgescheuchte Fledermäuse bekommt man mitunter nur mühsam zurück unters Dach.

      Du hast Ostankino verlassen, und bei unserer Gastherme wohnt jetzt ein Mann mit fortgeschrittener Glatze und derart verschrecktem Blick, dass ich sofort sehe, er sagt die Wahrheit, wenn er behauptet, er wisse nicht, wo du hin seist und wer das überhaupt wäre, dieses »Du«.

      Und es wäre ja nicht damit getan, dich zu finden.

      Du bräuchtest ja auch noch eine Erklärung für alles. Meine Geschichte passt nicht in ein einziges Gespräch. Seit unserer letzten Begegnung sind aus den Nullerjahren die Zehner geworden. Angesichts dieses Abstandes (auch die Zeit kennt Distanzen), der zwischen uns getreten ist, darf ich von dir höchstens eine kurze Unterredung zwischen Tür und Angel erwarten.

      Vielleicht würde uns eine bloße Umarmung schon genügen. Aber da ist noch eine Sache: Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich noch richtig umarmen kann. Wie du meiner Beichte entnehmen wirst, bin ich ein gänzlich anderer Mensch geworden. Falls überhaupt noch Mensch. Was von mir übrig ist, hat nicht nur so seine Schwierigkeiten damit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sondern, überhaupt welche zu haben.

      Ich kann nur mutmaßen, wie du unsere plötzliche und rätselhafte Trennung aufgefasst haben magst. Wahrscheinlich hat es so ausgesehen: Schon einige Monate vorher hast du auf einmal die klassischen Symptome wahrgenommen. Die Symptome aus dem Seitensprung-Witz. Ich wurde schmallippig. Roch nach Angst. Kam abends später nach Hause. Keine freie Minute mehr. Das ist ja das erste Anzeichen für Fremdgehen, auch wenn du das Wort nicht ein einziges Mal in den Mund genommen hast. Dann fiel dir die rasante Veränderung meines Wesens auf, für die du keine Worte hattest, und du erklärtest lediglich, ich würde dir allmählich »richtig Angst einjagen«. Du wirst sehen, dass ich mir selbst »Angst einzujagen« begann.

      Später kam ich plötzlich zu Geld und legte alle Merkmale einer selbst für die Moskauer Nullerjahre übersteigerten Großspurigkeit an den Tag. Schließlich, nach komplett vollzogener Mutation, nahm ich dich mit ins Café und eröffnete dir zu Björk-Gesängen, deinen Blicken ausweichend, wir müssten uns trennen, aber ich würde mich bald wieder bei dir melden.

      Ich habe mich nicht bei dir gemeldet. Nicht ein Jahr danach, auch nicht fünf. Für mich hätte das verdächtig nach Tod gerochen. Warum nicht für dich? Warum hast du geglaubt, dass ich dich verlassen habe?

      Eine Beichte erleichtert die Seele, ein Geständnis aus freien Stücken mindert das Strafmaß. Mein Anliegen ist es, so rauszukommen, dass ich dich nach diesem Text wieder vernünftig umarmen kann.

      Deshalb will ich den Einsatz erhöhen und spaßeshalber von meinem ursprünglichen Vorhaben absehen, mich bis zuletzt hinter einem Pseudonym zu verstecken. Du weißt ohnehin, dass der Autor auf dem Einband meine Erfindung ist. Und nicht umgekehrt.

      Für die anderen bin ich eine »Erfindung« ebenjenes Autors. Ja, was ich hier zusammenschreiben will, wird für mehrfach »Höchststrafe« reichen. Auch wenn das in Moskau heute nicht mehr Erschießung bedeutet (Erschießung wäre in meinen Augen eine höchst halbseidene Strafe, weil sie dem Opfer unterm Strich auch nichts mehr bringt). Am Ende ist es doch ganz nett, damit zu protzen, dass mir auch nach der vollumfänglichen Verlautbarung keiner was können wird.

      Also (Trommelwirbel), ich heiße Michail Alexejewitsch German, und ich werde euch erzählen, was Macht ist.

      Nicht die kalorienarme Machtbrühe, mit der sie euch im Fernsehen vor der Wettervorhersage abspeisen. Nicht die Handvoll Zwerge mit den Schlitzohrgesichtern, die ständig irgendwen bekämpfen, etwas verbieten oder aber gegen Verbote protestieren. Diese öffentliche Unterhaltungsversion von Macht wurde nur erfunden, damit ihr nicht hinterfragt, wieso der Ort, in dem ihr lebt, wo ihr eure Steuern zahlt und euch den gesetzlichen Forderungen der Polizei unterwerft, sich »Staat« nennt.

      Nein, ich werde euch von der Macht erzählen, die euch längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, die euch aus euren Reflexen heraus regiert. Von der Macht, die der Code hinter unserer Welt ist, die hinter jedem einzelnen Schritt steht, vom Krieg bis zu eurem Gang zum Geldautomaten.

      Die Lektorin hat darum gebeten, hier einzufügen, wie und wo du und ich uns kennengelernt haben. Das geht euch


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