Revolution. Viktor Martinowitsch

Revolution - Viktor Martinowitsch


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ich an meinem altersschwachen Laptop den Lehrplan tippte, eine Rolle. Die Bedienung hatte aufgelacht und auch danach noch sehr häufig gelacht, ich hatte mir dieses fröhliche Lachen gezähmt und in ihm bis zu zehn verschiedene Schattierungen entdeckt, von begeisterter Zustimmung bis hin zu rumpeliger Zärtlichkeit.

      Ja, Olja arbeitete als Bedienung in einem Café. Mehr will ich zu diesem Thema nicht sagen. Und ich will nichts mehr hören, das geht euch nichts an. Ja, ich habe in Architekturgeschichte promoviert. Und sie serviert Essen und nimmt Bestellungen auf.

      Lieber erzähle ich euch etwas von den Kurilen. Sie hat in einem Laden in der Bolschaja Ordynka gearbeitet (jetzt nicht mehr, wo sie hin ist, weiß kein Mensch, versteht sich), im »Restaurant für russische und japanische Küche Kurilen«. Russische und japanische Küche waren auf der Speisekarte zu gleichen Teilen enthalten, aber der Wechsel von einer geografischen Phase zur anderen war eng an die Tageszeit gekoppelt. Tagsüber war hier eine manierliche, ruhige Sushi-Bar, Büroangestellte malten auf die Servietten Summen, auf die sie nach der Beförderung zum stellvertretenden Abteilungsleiter spekulierten, ertränkten zitternde Shrimps in schwarzer Soße, verschlangen California Rolls und nestelten an lauwarmen Feuchttüchern herum.

      Abends spülte es diese Kundschaft in gesichtslose Clubs mit weißen Wänden, wo sie weiter Summen auf Servietten malten, diesmal aber jene, die sie dem Dealer für das Gramm Kokain bezahlen wollten, während in den Kurilen auf ihren Rappen die »Goldene Horde« aus allen Teilen der Stadt einfiel, überwiegend schwarz gekleidet, jede Menge Metallschmuck, unbelehrbar, gedrungen, hauteng, fahrig, kroch sie jetzt, im Zeitalter der Aufklärung, erst in den dunklen Stunden heraus und nur an die »eigenen«, fürs Besoffen-auf-dem-Tisch-Tanzen prädestinierten Orte.

      Ungefähr von einundzwanzig Uhr bis früh um halb sieben waren die Kurilen in der Gewalt des russischen Gaunerchansons, Karaoke singender Mädels, saftiger Flüche und »hundertfuffzig und ’n Glas Saft«. Die komplette Tatarengeschichte dieses Stadtviertels lebte im Tabakrauch wieder auf: Da fraßen kahl geschorene Männer mit runden Gesichtern fettiges Fleisch, und es lief übers Gesicht, und es lief über den Schnauz, und es lief auf die Plauz und traf in den Mund und traf auf den Kiefer und wohl auch mit dem Fuß in die Nieren zuweilen. Häufig kam die Ambulanz, nie jedoch die Polizei, weil die Kurilen in der Macht der Russen waren, nicht dieser mittäglichen Japano-Manager, die schon bei einem Rechtschreibfehler im »Teriyaki« auf der Speisekarte die Polizei gerufen hätten. Gegen Morgen erleuchtete das nüchterne Licht des Landes der aufgehenden Sonne das Lokal, die Chansons liefen aus, die Tataren schliefen ein, Leiber wurden fortgetragen, Tische gewischt, Vasen mit Schilfschösslingen tauchten auf, und du gingst nach Hause, dich ausschlafen. Du arbeitetest dort jeden dritten Tag und warst bald Japanerin, bald Tatarin, und dein Haar war golden wie im Spinnennetz gefangenes Morgenlicht.

      Manchmal warst du zu müde zum Einschlafen, dann erzähltest du mir, wie heute einer von ihnen plötzlich auf Französisch »Salut, c’est encore moi« gesungen hatte, aber so, dass die Leute feuchte Augen kriegten (besser noch: die Feudel Leuchteaugen) und dass er direkt danach voll über den Fernseher gekotzt hatte und umgekippt war, du wolltest ihn wieder aufwecken, weil er dir leidtat, aber dann haben sie ein Taxi gerufen und ihn mit ihren Taxifahrer-Antialko-NLP-Methoden wiederbelebt, um zu erfahren, dass er nirgends hinkonnte, dass ihm irgendwas passiert war, dass er in dieser Stadt überhaupt nirgends mehr hinkonnte.

      Und ich erzählte dir, warum alle Lokale hier auf ihre Weise Kurilen sind (du nanntest sie Skurilen). Warum aus historischen Gründen jedes Restaurant hier zu Verka Serduchka, Fleischsalat, Umpa-umpa, Suff und Prügelei tendiert. Drüben, in Europa, ist das Café der Treffpunkt für die aufgeklärte Bourgeoisie, die Konzentration des weltlichen Lebens, in Russland dagegen ein Ort, an dem der Staat daran verdient, Alkohol an seine betrunkenen Sklavenkinder zu verticken. An dieser Stelle warst du natürlich schon am Einschlafen. Meine soziologischen Randnotizen wirkten immer einschläfernd auf dich. Dein plötzlich zuckendes Bein verriet mir, dass du schon die Leinen losgemacht hattest, und ich nahm dich in meine Arme, glitt unter den weißen Segeln deines Atems in den Schlaf, um zehn Minuten später vom Wecker wieder herausgeklingelt zu werden und zu meiner Architektursemiotik-Vorlesung zu fahren, die auf meine Studierenden dieselbe einschläfernde Wirkung erkennen ließ wie auf dich.

      So sah es aus, unser leinenes Glück, das ich in meinen Träumen auf das gesamte mir zugemessene Leben ausdehnen wollte, doch plötzlich klaffte ein Riss in der Leinwand mit dem Bild des gemütlichen heimischen Herds, und dort, jenseits des abgebildeten Feuerholzes, des Feuers, jenseits von Kessel und Suppe, zeigte sich eine Tür, die hinausführte aus der Stube. Und in meiner Hand ein Schlüssel, und eine Stimme, die nachdrücklich verlangte: »Schließ auf!« Und meine ganze Welt mit ihren Vorstellungen von Gut und Böse, von dir und den anderen, prasselte zu Boden wie die Mosaiksteinchen bei einem Erdbeben von der Wand. Anschließend stürzten auch die Wände ein.

      Begonnen hatte alles an einem verregneten Aprilabend, an dem ich erstmals Geheimnisse vor dir bekam, und zu ebenjenem Abend wollen wir zurückkehren, die Geheimnisse eins ums andere zu lüften.

      Zweites Kapitel,

       in dem ich mit den Sitten auf Moskaus Straßen heftiger aneinandergerate, als mir lieb ist

      Normalerweise kann ein in Bewegung befindliches Objekt A eine Strecke B in einem bestimmten Zeitintervall C zurücklegen. Zwischen achtzehn und zwanzig Uhr kann sich in Moskau dieses Intervall jedoch verzwei-, verdrei- und sogar verfünffachen, aufgrund einer in mathematischen Textaufgaben nicht anzutreffenden Variable namens »Stau«. Und da noch niemand die Subjektivität des Zeitempfindens abgeschafft hat und jede Minute im Stau mit ausgeschaltetem Motor zwei-, drei- oder fünfmal so lang dauert wie die Minute bei einer Tasse Kaffee, kommt für einen Teil der Moskauer die Zeit zwischen achtzehn und zwanzig Uhr vollkommen zum Stillstand, während sie sich für einen anderen Teil, den mit dem Kaffee und der sanften Hintergrundmusik, sogar beschleunigt bis zum Ohrensausen.

      Die Universität, in der ich die Studierenden mit meinen Architekturvorlesungen quälte, hatte der Philanthrop (heute klingt dieses Wort hier fast so schräg wie »Entrepreneur« oder, sogar noch schräger, wie »Resident« oder »Ombudsmann«) George Soros in einer Zeit erbaut, da der Name Soros in Russland noch kein Schimpfwort war. Er hatte das vielgeschossige Gebäude mit Schwimmbecken und Bibliothek mitten auf den Nowy Arbat geklatscht.

      Soros war überzeugt, der Grund dafür, dass »Demokratie« in Russland ein Schimpfwort ist, sei die mangelnde Bildung der Russen. Aus Unwissenheit hätten sie keinen Respekt vor den Werten, an die er glaubte, wenn er Hunderte von Millionen für Grundstück, Bau und Beamtenbestechung ausgab. Wenn man nur jedem Russen von Isaiah Berlin und Jürgen Habermas erzählte, würden sie schon aufhören zu saufen, sie würden sich vom Schlaf befrein, den Schein des wunderbaren Glücksterns schauen und in der Willkür Trümmer …, na ja, und so weiter.

      Der Bau wurde hingestellt, Russland befreite sich nicht vom Schlaf. Mehrfach sollte die Uni geschlossen werden, sie wurde zwangsweise umbenannt, aber immer wieder lenkten sie unter dem Geheul der Botschafter ein, da sie verstanden, dass weder Berlin noch Habermas von Übel waren, eher trauerten sie um das Grundstück, auf dem man so schön einen Autosalon oder eine Spielhölle hätte hochziehen können. Die Eigentümer würden regelmäßig etwas springen lassen, und alles wäre in Butter. Stattdessen stand hier die »Moskauer Europa-Universität«, kurz MEU, die wir Entrepreneure westlichen humanistischen Denkens, Residenten halb legalen sozialen Wissens und Ombudsmänner der Kritischen Theorie und der Culture Studies unter uns nur MIAU nannten. Wäre die MIAU dichtgemacht und nach außerhalb der Ringautobahn verlegt worden, um Platz für im modernen Moskau zeitgemäßere Bauten zu schaffen, hätte mich das nur gefreut. Umso leichter hätte ich Raum und Zeit in Einklang bringen können auf dem Weg von meinem Arbeitsplatz zu unserer Küche im bläulichen Schein der Gastherme.

      Aber gleich schläfere ich dich noch gänzlich ein mit meinen langweiligen Überlegungen, wichtig ist doch nur, dass ich an jenem Aprilabend in unserer Uni-Bar die Zeit zwischen achtzehn und zwanzig Uhr totschlug, damit nicht sie mich in meinem Auto erwischte, eingezwängt im Strom irgendwo bei der Auffahrt zum Prospekt Mira. Du warst als Japanerin in den


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