Revolution. Viktor Martinowitsch
eine Spange aus deinem Haar und versetztest dem rechten Lautsprecher einen schnellen Stich, in der Hoffnung, den rasselnden Opa ruhigzustellen. Aber der Sänger verstummte nicht. Sein Timbre wurde penetrant, unerträglich. Am Abend flog die rechte Achswelle raus. Und wir hatten gelernt, dass wir besser nicht versuchen sollten, die Seele des Wagens abzuwürgen.
Ich fuhr auf den Nowy Arbat, aus den Lautsprechern kam es wie Zugluft an den Füßen: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm, wolosss byl tscherneje smoli – stal sedymmmm«. Ich sang mit, weil ich guter Laune war und Rosenbaum nicht nervte, und der Rosenbaum hatte ordentlich Zug, die Gänge kamen beim Schalten auf Anhieb.
»Bei einem phänomenologischen Zugang zur Musik«, sagte ich mir heiter, »geht es wohl im Wesentlichen darum, dass gar nicht entscheidend ist, was da aus den Lautsprechern tönt. Wahre Musik kann sowieso nirgends entstehen. Sie ist eine Erfindung deines Bewusstseins, das Töne hört. In deinem Inneren entsteht aufgrund des Gehörten die Empfindung von Schönheit oder eben von Genervtheit. Deshalb kann der Weise, solange er will, mit derselben Kassette herumfahren und bei den längst auswendig gelernten Liedern bald glücklich sein, bald genervt.«
Bei diesem Gedanken bemerkte ich, dass sich ein winziger Jaguar Sport vor mich gesetzt hatte, Baujahr zwischen 1945 und 1970. Wie jeder teure Oldtimer sah er nach einer Perle aus dem Antiquitätenladen und nicht nach einer peinlichen Rostlaube vom Gebrauchtwagenhändler aus. Ich sehe seine Farbe noch vor mir, ein dunkles Kirschrot, sehe noch das Veloursverdeck, wie straff er nach den Ampeln beschleunigte. Ich wollte mich dahinterklemmen, aber der Rosenbaum packte es nicht, japste und griff sich an sein 1,2-Liter-Herz. Das Anhimmeln eines fremden Spielzeugs, dieses Raubtiers aus einer anderen Klasse, in die ich niemals aufsteigen würde, war keine grauen Rauchwolken aus einem zur Überdrehung genötigten Motor wert.
In diesem Augenblick, als ich die Verfolgung der kirschroten Schönheit, bei der noch die Bremsleuchten ihren eigenen, auf die Karosserie abgestimmten Ton hatten, gerade resigniert abbrechen wollte, tauchte hinter mir plötzlich ein überdimensionierter silberner Mitsubishi Pajero auf, mit Seilwinde, auf dem Dach eine Batterie Scheinwerfer. Als wäre er auf dem Sprung ins Walhall mit einem Zwischenstopp in deinen Kurilen, Olja. Der Jeep schubste mich an, fuhr so dicht auf, dass die Seilwinde die hintere Stoßstange meines kaum noch atmenden Rosenbaums touchierte. Ich drückte aufs Gas, wollte weg, hatte aber zu wenig Dampf. Der hinter mir ließ sein Fernlicht aufflammen: Bahn frei! In seiner Monstrosität ließ der japanische Transformer in mir nicht das Bedürfnis aufkommen, ihm durchs geöffnete Fenster den Mittelfinger meiner Linken zu zeigen (dabei hatten sie, wie ich jetzt weiß, genau darauf spekuliert).
Ich setzte den rechten Blinker und verzog mich auf die Außenbahn zu den Pflanzenfressern. Dort ging ich vom Gas, aber hinter mir strahlte es immer noch, als wäre der Rosenbaum ein Fußballstadion. Jetzt verstand ich nicht mehr so richtig, was da vor sich ging. Ich fuhr doch schon auf der »lahmen« rechten Spur, was denn noch? Der Jaguar war auch hier, er fuhr dasselbe Tempo wie der Pajero, sie gehörten zur selben Kolonne, und ich hatte mich wohl zwischen den Kaiser und die Samurai gedrängt, die folglich ihre Strahler leuchten ließen. Unverzüglich ordnete ich mich klaglos wieder auf der mittleren Spur ein.
Doch da schwenkten in einem synchronen Doppelmanöver auch Jaguar und Pajero auf die mittlere Spur um, einer vorn, einer hinten. Der Pajero beschleunigte wieder, drängelte mit seiner Seilwinde und schob mich förmlich vor sich her, dass auch ich Gas geben musste, und so schossen wir dahin: hinten der Jeep, vorne das Cabrio, dazwischen ich. Die anderen Spuren waren leer, wir waren ganz unter uns (was ging hier vor?).
Ich schwenkte wieder nach rechts, die beiden mir nach, wie die Ansaugerfische. Das Profil des Jaguarpiloten hatte etwas von einem Raubvogel. Offenbar hatte er sich nur deshalb kein Blaulicht aufs Dach gepappt, weil bei dem weichen Gewebe seines Cabrios unweigerlich die Schönheit des Wagens gelitten hätte.
Ich wedelte von Spur zu Spur, sie klebten weiterhin an mir, der Vordere hielt meine Geschwindigkeit, der Pajero schob, damit ich beschleunigte. Wir jagten den gesamten Nowy Arbat hinab, von der Moskwa bis zur Wosdwishenka, dort bog ich in eine Seitenstraße ab, in der Hoffnung, sie loszuwerden, aber sie kamen beide mit, zuerst nur der hinter mir, dann, nach einem Ritt über die Parallelstraße und einem Satz über die Gegenfahrbahn (was ging hier vor?), auch der Jaguar. Ich wollte unbedingt die Polizei rufen, aber dafür hätte ich anhalten müssen, schließlich flogen wir gerade mit neunzig Sachen über eine zweispurige, kurvenreiche, zugeparkte Straße. Ich versuchte zu bremsen, aber der hinter mir ließ seine Sirene aufheulen und stellte auf Dauerfernlicht. Von wegen anhalten, weiter geht’s!
Ich war wild entschlossen, rechts ranzufahren, sobald die Straße breiter würde, notfalls auch auf den Gehweg, und den Motor abzustellen, sollen sie doch zu zweit ihre Rennen fahren. Wir querten die Twerskaja, hier hätte ich einbiegen sollen, aber bei dem Tempo schaffte ich es einfach nicht, sondern hüpfte von einer Röhre in die nächste.
Ihr Genossen, die ihr die UdSSR lobpreist! Ihr mit eurer Verklärung von Pachmutowa-Melodien, Billigwurst, der Freiwilligen Gesellschaft zur Unterstützung von Armee, Luftstreitkräften und Flotte, von Stabilität und was ihr sonst noch so üblicherweise verklärt … Also, meine Lieben, ein Tipp: Versucht mal wieder, mit einem WAZ 2105 zu fahren! Steigt um von eurem SUV auf dieses Wunderkind der späten Sowjetunion und dreht eine Runde durch die Nachbarschaft. Versucht, den dritten Gang einzulegen. Versucht, auf über sechzig zu beschleunigen. Dann habt ihr ein für alle Mal diese UdSSR-Sache verstanden und empfunden. Dann kehrt ihr unverklärt ans Steuer eures SUV zurück.
Wieder diese Enge, das Entsetzen beim Blick auf den Tacho, Rosenbaum schwieg, nur das Klackern des kaputten Autoreverse, aber keine Zeit, den Knopf zu drücken.
Von hinten ein Leuchten wie bei einer Atombombenexplosion, sogar das Flutlicht hatte er zugeschaltet, der Nomade. Weiter vorn, noch vor dem Jaguar, weitete sich das Unterholz der Häuser zu einer rettenden Lichtung, dort war irgendein Platz, ich bereitete mein Manöver vor, aber da verschwand der Jaguar vor mir in einer Wolke aus Rauch und Tröpfchen (die Pfützen auf dem Asphalt); das kam daher, dass, wie ich fünf oder zehn Meter weiter erkennen sollte, ja, es kam daher, dass er hart auf die Bremse gestiegen war und die Fahrbahn blockierte, so hart, dass er sogar mit seinem sportlichen ABS und den Scheibenbremsen ins Schwimmen gekommen war. Den Jaguar hatte es leicht zur Seite gedreht, das Heck nach links, sodass er mir seine appetitliche Beifahrerseite zuwandte.
In diese Seite nun (fast ungebremst, da ich erst im letzten Moment aufs Pedal latschte, es bis zum Anschlag durchtrat, sodass ich spüren konnte, wie es sich in die Gummimatte presste, sie zusammenstauchte), in dieses lackierte Museumsmetall von dunklem Kirschrot – Metall aus einem Jahr, in dem ich, möglicherweise, noch gar nicht auf der Welt war … Alles in meinem Rosenbaum bremste, um den letalen Zusammenprall abzuwenden. Greisenhaft krallte er sich mit dem kahlen Gummi in den Asphalt, ächzte, brach sich die Nägel ab, ich glaubte, längst den Boden durchgetreten zu haben, nun mit dem Fuß zu bremsen und mir die Schuhsohle abzuschleifen … Komischerweise kam der Rosenbaum überhaupt nicht ins Schleudern. Er schleuderte nicht, weil er auch nicht ordentlich bremste – mit blockierten Rädern rutschte er wie auf Kufen geradewegs auf die kirschrote Vintage-Schönheit zu und semmelte mit Karacho mitten hinein. Ich nahm noch so einiges wahr, bevor der Sicherheitsgurt anzog und es mich dermaßen zurückriss, dass in meinem Hals etwas knackte (tot oder querschnittsgelähmt, dachte ich. Aber im nächsten Augenblick stieß ich mit den Ellbogen gegen das Armaturenbrett und wurde von einem stechenden Schmerz durchzuckt, der nur bedeuten konnte, die Halswirbel waren noch ganz, was mich freute). Folgendes hatte ich wahrgenommen: die zu Berge stehende Kühlerhaube, die, aufgeworfen, gegen die Windschutzscheibe schlug, zurückfederte und wieder runterrauschte, um zuzuklappen. Nur leider war da, wo sich vor Sekundenbruchteilen noch mein Motorraum befunden hatte, nun ein fremder Jaguar, und meine Kühlerhaube hieb gierig ins Veloursverdeck. Vor allem aber setzte der Stoß den Kassettenrekorder wieder in Gang, und es tönte: »Kak tschasto wishu ja son, moi udiwitelny son, w kotorom ossen mne tanzujet wals-boston«.
In der nächsten Sekunde bemerkte ich, dass von dem Zusammenprall die Fahrertür des Jaguars aufgesprungen war, der Airbag (offenbar nachträglich eingebaut, beim Tuning) sich aufgeblasen hatte und der Fahrer, der darauf lag, sich noch rührte – er war okay, lebte noch, Gott sei Dank.
Als ich