Revolution. Viktor Martinowitsch

Revolution - Viktor Martinowitsch


Скачать книгу
machen? Möge es in Ewigkeit in dieser Leichenhalle der Miliz ruhen, bis die Posaunen des Jüngsten Automobilgerichts ihm dereinst zur Auferstehung blasen!

      Nach einer Schweigeminute für den Alten am Ort seines Ablebens machte ich mich auf in Richtung Ostankino. Es war schon spät, Busse und Bahnen fuhren nicht mehr, dafür hielten immer wieder die privaten Taxigeier mit möglichst effektiven Bremsmanövern, schnitten mich scharf und hüpften sogar noch auf den Gehweg, mir direkt vor die Nase: »Wo soll’s denn hingehn, mein Lieber?« Aber ich winkte nur müde ab und bedeutete so, ich sei vollkommen ruiniert, auch finanziell, und sie jagten weiter, dreist und verwegen, nächtliche Großstadtkakerlaken, und ich war hier der Auswurf, unbrauchbar selbst für die Kakerlaken. Und es waren an die zehn Kilometer bis nach Hause, eine halbe Nacht zu Fuß, und die Beine konnten kaum noch. Aber jetzt musste Geld gespart werden, ich wollte dir etwas hinterlassen, bevor ich für fünf Jahre würde von dir lassen müssen. Nein, Olja, das ist nicht wahr, ich hatte damals noch gar nicht begriffen, dass sie mich tatsächlich einlochen würden. Ich dachte noch nicht ans Gefängnis, schmiedete noch keine Pläne, nein, ich spürte einfach instinktiv, dass ich besser kein Geld ausgab, vielleicht liefen mir ja irgendwo siebenundvierzigtausenddreihundert Dollar über den Weg, dass mir bis zu den fünfzigtausend nur noch ein am Ende durchaus zusammenkratzbares Sümmchen fehlte, und es wäre doch zu ärgerlich, es dann doch nicht ganz zusammengekratzt zu bekommen, nur weil ich mit einer völlig überteuerten Kakerlake zu diesem Fünfgeschosser gefahren war, wo ich dich sowieso nicht antreffen konnte, weil du nachts in deinen Kurilen arbeitetest.

      Nach einem Zehntel der Strecke, als mich plötzlich entsetzliches Selbstmitleid überkam (ein gänzlich neues Gefühl, Moskau macht einen hart gegen sich selbst), hielt neben mir ein unbeleuchteter Bus mit einem Schild »Depot«, und die Tür zischte auf, und der Fahrer rief laut: »Wohin, Kumpel?« Ich antwortete und sagte, ich hätte kein Geld, aber er wies nur mit dem Kinn auf die leeren Sitzreihen und brauste los und gab während der gesamten Fahrt ganze zwei Halbsätze von sich: »Liegt nicht auf meiner Strecke, aber egal, ich bring dich hin.« Da sage noch einer, in Moskau gebe es keine guten Menschen.

      Zu Hause angekommen wusch ich mir das Blut ab, klebte mir Pflaster über die Schürfwunden und riss, da ich so beklebt endgültig wie ein Invalide aussah, die Pflaster wieder runter und begann, auf dich zu warten. Ich wollte dich bestimmt nicht anlügen, Olja, aber ich wollte auch nicht gleich Gefängniszwieback auf Vorrat rösten, die verbleibende Zeit galt es so zu verbringen, als hinge keinerlei Bedrohung über mir. Ich saß im Sessel neben der Schlagseitenstehlampe mit dem Zugschalter und ging in Gedanken durch, was ich dir in viereinhalb Tagen sagen würde, bevor sie mir die Handschellen anlegten.

      Als ich unten schon das Röhren der Dienst-GAZelle hörte, die euch immer nach Hause fuhr, wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit über am Wesentlichen vorbeigedacht hatte. Und dass ich erklären musste (wobei diese Erklärung jetzt schnellstens erfunden werden wollte), warum mein Gesicht so zerschrammt und wo der Rosenbaum abgeblieben war. Du kamst rein, müde, ein Päckchen zerquetschte Honigwaffeln in Plastikfolie in der Hand, deine Trophäe vom Schlachtfeld. Nach einem Kuss auf die Wange gingst du ohne weitere Fragen in die Küche und erkundigtest dich, ob ich nicht einen Kaffee wollte, und ich wollte natürlich.

      Mit einem Blick auf meine zerschrammte Stirn sagtest du: »Ich habe eine Schwäche für Männer mit Schrammen und Kampfwunden. Es waren ihrer fünfzig, verborgen im Gebüsch?«

      »Ach was, ich hab mich beim Rasieren geschnitten.«

      Nichts weiter!

      »Lass uns eine Weile auf den Rosenbaum verzichten, ja?«

      »Ist gut, kleine Polem-polem-polem-Pause.«

      Genau so, immer nur das Nötigste beredend, lebten wir zusammen. Dann gingst du schlafen, und ich verfluchte den Wecker, der mich wieder zu den »Kindern« rief, zur Architektursemiotik. Ich verrate deinen Geheimtipp, ja? Weißt du noch, wie du, die Expertin für Vierundzwanzig-Stunden-Schichten, einmal gesagt hast, wenn man mit nur drei Stunden Schlaf auskommen möchte, muss man das Fenster gekippt lassen, und dass das im Winter besonders gut funktioniert? Ich führe das hier nicht als Beispiel für ein Rezept gegen Schlafmangel an, ich kann nicht behaupten, dass es besonders wirksam ist, aber mir hilft es, weil du es mir gesagt hast. Ja, ich erzähle das an dieser Stelle, um deinen Kosmos zu veranschaulichen, deine Ansichten zur Metaphysik, denn, weißt du noch, wie du die Notwendigkeit des gekippten Fensters begründet hast? Du hast gesagt, dass die Seele so leichter aus der Wohnung und in den Himmel findet, wo sie fliegen und richtig ausspannen kann. Dass die Seele nachts die meiste Zeit auf der Suche nach einem Ausgang an Wände stößt, während sie hier gleich nach oben kann – was für ein rührender Stuss!

      Und während ich mich anzog, wusch, heißes Wasser schluckte, den Kaktus goss, der die wunderbare Eigenschaft hatte, dass man ihn auch ein Vierteljahr vergessen und nur füreinander da sein konnte, während ich also all dies tat, dachte ich nicht mehr an das, womit ich nachts eingeschlafen war. Meine Seele war wahrhaftig durchs offene Fenster bis zum hohen Himmelszelt hinaufgeflogen, sodass ich erst auf der Treppe bei der Rekonstruktion des Themas meiner anstehenden Vorlesung plötzlich begriff, was da schon den ganzen Morgen für ein Gewusel, Gefiepe und Gekratze unter dem Bodenbelag meines Gedächtnisses hervordrang. Eine Sekunde später, an der Tür, stand es mir vor Augen. Mein Herz stolperte, die Ratten fiepten im Ultraschall. Dort stand ein Milizfahrzeug mit zwei Ordnungshütern, die Fenster geöffnet, die Funkgeräte, in Betrieb, bekrächzten etwas. Ich dachte, die würden mich bestimmt vom Fleck weg verhaften, dabei hatte ich doch noch vier Tage (ganze vier!), aber die Miliz war wegen einer anderen Sache hier, sie schauten mich nicht einmal an, und ich schritt aus zur Metro, schluckte die Ratten im Hals herunter. Zwei Stunden später kam ich in unseren Hof zurück, nachdem ich mich krankgemeldet hatte und vor den Studierenden geflohen war, die ob dieser Flucht in helle Begeisterung gerieten (in solchen Momenten war mir der Sinn meiner Arbeit immer besonders schleierhaft, wenn der Ausfall einer Vorlesung so eine Freude auslöste, bei mir wie bei ihnen). Ich entschied, dass die vier Tage des mir noch verbleibenden Lebens zu kurz waren, um sie mit so einem Mumpitz zu vergeuden.

      Kaum im Hof angekommen, erblickte ich dasselbe Fahrzeug, in unveränderter Position, und nun, da ich es von hinten betrachtete, erkannte ich in den Kopfstützen der Rücksitze zwei Gefechtshelme und stellte mir vor, wie ich gleich im Vorbeigehen zu hören bekäme: »Augenblick, junger Mann …« Und die ersten Wolken hoch am Himmel kamen mir vor wie aus Stacheldraht, aber ich kam heran, erstarrte, erwartete den Schuss der Frage, aber die Miliz blieb stumm. Und der auf dem Fahrersitz schlief, schnarchte, den Kopf im Nacken. Würden sie vier Tage lang hier stehen? Und mich in vier Tagen in den Wagen bitten und ins Untersuchungsgefängnis fahren?

      Ich kehrte zu dir zurück, und du schliefst, deine Seele war irgendwo dort oben, in den Federwolken. Ich setzte mich zu dir aufs Bett, wusste nicht, wie dich wecken und ob, und ich berührte dein Haar, streichelte sogar über dein Gesicht, im Millimeterabstand, um dich nicht zu erschrecken. Ich zeichnete dich mit meinen Fingern, prägte dich mir ein, für immer. In diese stehen gebliebene Stille brüllte unser Schnurtelefon, das grundsätzlich noch existierte, sich aber in eine Art Einrichtungsgegenstand verwandelt hatte, schließlich nutzten wir längst unsere mobilen Kleinen, war jenes doch wuchtig, schwarz und grobschlächtig. Wir wollten sogar schon einmal ein Museumsstück daraus machen, die Schnur abschneiden und es an einem repräsentativen Ort aufstellen, auf dem Fernseher zum Beispiel, fürchteten aber sicher nicht zu Unrecht, dass die Wohnungsinhaberin wegen der abgeschnittenen Schnur mir etwas abschneiden würde, das nicht so leicht zu ersetzen war wie ein Telefonkabel. Ich wühlte mich durch die Ecken, versuchte, mich zu erinnern, wo wir es versenkt hatten, und es lärmte weiter, im Timbre einer Schulglocke nicht unähnlich, einer aus diesen grün angestrichenen sowjetischen Schulen, in die wir beide vor langer, langer Zeit gegangen sind. Das Telefon stand weder auf dem Bord im Eingang noch über dem Spiegel, und ich griff nach dem Ariadnefaden neben der Wohnungstür und spürte den Schuft auf, während ich deine Sachen durchpflügte. Das Telefon hatte sich hinter dem Schrank versteckt.

      »Ja?«, sagte ich erstaunt.

      »Gmanmchalaxejitsch?« Die brünierte Amtsstimme schien ohne Lippen auszukommen, sie hatte die Hälfte verschluckt wie aus dem Zahnfleisch gefallene Zähne – so liederlich konnte nur sprechen, wer von niemandem zurechtgewiesen,


Скачать книгу