Revolution. Viktor Martinowitsch
Mensch kapieren, der nicht dort gewesen ist). Natürlich bereitete ich mich vor, »röstete Zwieback«, aber auf meine Art, wie sich ein Akademiker eben aufs Gefängnis vorbereiten kann. Mein »Zwieback« waren Bücher, ich war ja selbst spröde wie trocken Brot.
Ich ging zum Bücherbasar in der Krasnoselskaja, schlug das Buch Die Gefängnisse Russlands auf, verschlang das Kapitel »Was ein Neuling wissen muss« und stieß sofort auf den Ratschlag, sich möglichst aggressiv zu gebärden, jemandem mit dem Hocker den Schädel einzuschlagen, um einen jähzornigen Charakter zu signalisieren. Und ich versuchte, mir die Gesellschaft vorzustellen, in der man sich durch gegenseitiges Schädeleinschlagen miteinander bekannt machte. Ich konnte doch sowieso keine Schädel einschlagen, so war ich nicht, und ich sah auch keine Möglichkeit, so zu werden. Aber ich bin es, ich bin so geworden, jawohl!
Ich dachte, es wäre nicht verkehrt, in die Bibliothek zu gehen und diese Frage eingehender zu untersuchen – Zwieback den Zwiebäcken –, aber dann rief ich mich selber zur Ordnung. Das wäre vertane Zeit, dieses Wissen ließe sich sowieso nicht in die Praxis konvertieren, durch Lektüre machst du keine Bestie aus dir. Ich merkte mir, merkte mir für alle Fälle, Olja, dass man die Venen nicht quer aufschneiden darf, das kriegst du leicht wieder verbunden und genäht, sondern längs, der ganzen Länge nach, dann bist du auf der sicheren Seite.
Das Milizfahrzeug in unserem Hof stand immer da, Tag und Nacht, dreimal täglich wechselte die Besetzung, zwei verschlafene Milizionäre wurden von zwei genauso verschlafenen abgelöst. Und am zweiten oder dritten Tag kam dir das komisch vor, und du wolltest mich fragen schicken, was denn los sei, aber ich antwortete mit ihren Worten (und die Antwort konnte gar nicht anders lauten): »Wir sind hier, weil die operative Notwendigkeit gegeben ist.« Und ich hielt dich fern, schob dich aus dem Hof, erklärte, sie hätten überhaupt nichts mit uns zu tun, und mutmaßte, was diese Show wohl kosten mochte, zwei Milizionäre vor der Tür, rund um die Uhr, fünf Tage am Stück. Und ich redete mir ein, es gehe nicht um meine Wenigkeit, sie stünden bloß da, aber als ich vor die Tür ging, bemerkte ich, wie der eine dem anderen einen Rippenstoß gab und eindeutig zu mir zeigte, und ich hatte das gesehen, und für diese Geste konnte es nur eine Lesart geben, ja, sie überwachten mich. Sie hatten mir de facto einen Wachtposten vorgesetzt, unser Quartier war nun eine Bastion, bewacht von Gendarmen. Eigentlich, sagte ich mir leichthin in einem jener Momente, da die gute Laune überschäumte und mich zum schwarzen Humor hintrieb, eigentlich kommt mir dieses Fahrzeug als eine Art mobile U-Haftzelle entgegen, damit ich genau weiß, wo ich mich zu stellen habe. »Grüß Gott, Sie haben meinetwegen tagelang hier gestanden, ich werde verdächtigt (bzw. soll in zehn Minuten, wenn es sechse schlägt, verdächtigt werden), ein Mobiltelefon entwendet zu haben, können wir schon mal die Formalitäten regeln?«
Was wir getan haben? Womit uns beschäftigt? Lauter Nichtigkeiten. Wir waren im Kino Puschkinski, haben Händchen gehalten, und der Arm auf der Lehne ist eingeschlafen. Die Leinwandwelt, wo wer wen verfolgte und beschoss, wirkte langweilig, so langweilig im Vergleich, ich weiß nicht, im Vergleich damit, wie dieses schwarze, fluffige Gummi dein Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammenband. So schlicht und so schön! Und ich zerrte dich an der Hand nach draußen, gebückt wie im Kugelhagel, und die Reihe wollte kein Ende nehmen. Wir kämpften uns durch den Saal und purzelten ins Licht, in tausend strahlende Sonnenlichtsekunden, Herr im Himmel, wie lang das ist, eine Stunde! Wie viel das ist, ein Tag! Und es war sonderbar zu entdecken, dass die Zeit – eine Zeit, aus einer Schlange aneinandergereihter Sekunden –, dass sie, diese Zeit, trotz allem weiterlief. Unabwendbar. Aber ich hatte doch noch so viele dieser Kleinodien, dieser Sandkörner im Stundenglas. Ganze drei Tage, zwei! Einen ganzen Tag! Ganze acht Stunden, vom Aufwachen Sonntagfrüh bis zu dem verfluchten und noch so fernen Achtzehn-Uhr-Schlag!
Ich berauschte mich förmlich an der Lust auf das Leben, von dem ich Abschied nahm. Was haben wir noch getan an diesen letzten Tagen? An einen kann ich mich noch erinnern, da roch es noch nicht im Entferntesten nach Abschied, wohl der Donnerstag oder Freitag, wir gingen in die Innenstadt, und ich sprudelte über von meiner Architektur, überall sah ich Musik und fühlte mich als Dirigent. Ich zeigte dir den raren Konstruktivismus, der sich zwischen den allgegenwärtigen Klassizismus geschmuggelt hatte, und natürlich die Stalinbauten, und ich schwafelte von den Stalinbauten, was wäre Moskau ohne die Stalinbauten, ich schwafelte viel und ohne System. Von meinem Beitrag zu der uralten Polemik über die Bezeichnung des »Stalinstils«, der nach Lenins Tod den sterilen, platonowartig utopischen Konstruktivismus abgelöst hatte.
Ich erzählte dir von den Idioten, die diesen Stil »Stalin-Empire« und »Stalin-Klassizismus« nannten, nannte dir selbst die Namen dieser Kannibalen und spielte szenisch die Höhepunkte meiner Debatten mit ihnen auf diversen Konferenzen nach. Du unterbrachst mich mit einem kurzen Maunzen und dem unnachgiebigen Fingerzeig auf eine junge Frau, die Luftballons verkaufte, und der Disput musste begraben werden zugunsten dieser wie Kosmonauten in der Schwerelosigkeit schwebenden, jedes Gewicht verloren habenden, farbigen Riesenpelmeni, weil du Hilfe brauchtest bei der Wahl des strahlendsten, der »am meisten in den Himmel will«. Und dann, als der Ballon über dem Handgelenk gehisst war, redete ich mich weiter in Rage. Ich betete dir meine Thesen her, nachzulesen in den »Massengräbern« (wie die von unserer MIAU mit Soros-Geldern finanzierten Sammelbände wissenschaftlicher Aufsätze so treffend genannt werden). Dass Akroterien und Statuen nicht kennzeichnend für den Klassizismus seien, sondern eben für das Barock. Und dass diese ganze von Sholtowski im Westen zusammengeklaute Fusion nicht anders bezeichnet werden könne als Stalin-Barock. Du lehntest deinen Kopf an meine Schulter und schautest in den Himmel, ich zeigte mit dem Finger auf die Häuser ringsum und wiederholte in einem fort: »Akroterion!«, »Epistylion!«, »Baluster!«, »Flachrelieffries!«, um abschließend zu rufen: »Stalin-Empire?!«
Du lachtest, sagtest wieder einmal, ich sei verrückt, und, komm, kaufen wir uns lieber ein Eis. Statt eines Eises tranken wir Kaffee im erstbesten Café, und ich stieg noch mal von der anderen Seite aus ein (keine Ahnung, weshalb ich so über mein »Stalin-Barock« salbaderte, vielleicht sah ich anlässlich meines bevorstehenden Abschieds von dieser Welt in dir meine Schülerin, diejenige, die mein Wissen, meine Argumente erben und meinen Kampf fortsetzen sollte, hahaha).
Ich sprach zu dir, ereiferte mich. »Schau«, sagte ich zu dir, »früher lebten die Menschen mit der Natur und hatten Worte für alle Dinge, mit denen Wald, Wiese und Fluss sie umgaben. Sie hatten Schlingen und Auen (für Flüsse), sie hatten Erle, Hasel, Eiche und Kiefer (für Wald). Sie hatten Huflattich, Besenheide, Federgras und Weidenröschen (für Wiese). Die Umwelt war ihnen verständlich, weil sie jedes Ding in ihrer Umgebung benennen konnten. Doch dann zog der Mensch in die Stadt und entfernte sich von Fluss, Wald und Wiese. Und heute kann längst nicht mehr jeder erklären, was eine Schlinge ist, was eine Aue, was Erle von Hasel unterscheidet oder was Weidenröschen und Besenheide sind. Der Mensch braucht das nicht mehr. Der Mensch lebt mit steinernen Blumen, mit Fenstern, Bogengängen, Flachreliefs und Fluchten. Die Architektur gibt uns die Worte, Wald und Wiese zu erklären, die nun zu unserer natürlichen Umwelt geworden sind. Meine ganzen lächerlichen Baluster, Voluten, Gesimsvorsprünge, Stäbe und Ordnungen waren alle nur Besenheide, Aue, Schlinge, Weidenröschen unserer Stein-Ziegel-Stahlbeton-Welt. Dabei haben die meisten Menschen inzwischen auch diese Worte vergessen, sie können Erker nicht von Arkade unterscheiden, und die Welt bleibt unbenannt, wird unerklärbar, beängstigend.«
Du hast dir das ohne den vormaligen Eifer in einem stillen Singsang vertraulich Vorgebrachte bis zu Ende angehört und gefragt (dir schien das logisch an das Gehörte anzuschließen), ob ich nicht wüsste, warum Flugzeuge sich mit ihren Flügeln in der Luft halten können, wo sie doch aus Eisen sind und eine Tonne wiegen. Und warum du, wenn du deine Flügelarme ausbreitest mit deinen fünfundvierzig Kilogramm nicht oben bleiben kannst. Warum du hochhüpfst und wieder runterfällst. Aber nein, ich wusste es nicht, und allein die Frage brachte mich wieder zur Besinnung, und ich begriff, dass in unserer Welt die Dinge nicht benannt werden mussten. Dass wir beide wie Adam und Eva im Garten Eden waren, bevor sie den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen haben: ursprünglich, unwissend. Und daher unendlich glücklich.
Ich erinnere mich noch an unsere Begeisterung (ich habe wohl, überwältigt von Emotionen, sogar gelallt), als wir zu dem Hochhaus in der Kotelnitscheskaja spaziert sind. Wir hielten absichtlich unterwegs die Köpfe gesenkt. Dort angekommen, im Hof, schauten