Revolution. Viktor Martinowitsch
sicherzustellen, dass das hier kein Spielgeld war, sondern alle Scheine echt. Er sah irritiert aus, köstlich irritiert, zu schön war diese Irritation anzusehen, während er schnaufend die Bündel in seine Jacketttaschen stopfte und schließlich, ausgestopft, die Achseln zuckte. Nach kurzer Besinnungspause wusste er dann doch wieder etwas zu sagen: »Du hast echt den Arsch auf! Fünfzig Tacken in so einem Schrotthaufen liegen lassen. Und wenn sie den geknackt hätten?«
Ich konnte nichts antworten. Mir fehlten die Worte. Die Gedanken. Der Sarkasmus. Die Angst war mir auch vergangen, da war nur noch das leere Plastik des Verbandskastens. Und du winktest von oben, hieltest den Daumen hoch, super, Spitzenidee von mir, den Rosenbaum heimlich reparieren zu lassen und dich damit zu überraschen. Ich öffnete noch einmal kurz die Fahrertür, kratzte die langen Magnetbandzotteln zusammen, zerrte die Überreste der Kassette an den Haaren aus dem Rekorder und warf das Ganze auf den nächsten überfüllten Mülleimer.
Die Miliz war weg. Der Pajero preschte davon. Da war nichts, alles frei erfunden. Du empfingst mich, die Hände in die Hüften gestemmt mit den Worten: »Und wo ist jetzt die Milch?«, und ich wunderte mich noch, dass ich angesichts dieser magischen Geschichte nicht plötzlich eine Milchtüte in der Hand hielt.
Wir schauten einen Film, ich sprang ab und zu auf und schaute in den Hof, um festzustellen, dass der Rosenbaum noch dastand, er war nicht verschwunden. Also hatte ich die Wirklichkeit um mich herum wirklich mustergültig verändert. Nein, Scherz beiseite, ich hielt Ausschau nach meinen geheimnisvollen »Freunden« und überlegte, womit ich die geschenkten fünfzigtausend wohl würde bezahlen müssen. Aber im Hof waren nur die alten Weibsen, die Katzen und unsere klebrige Olja. Und plötzlich konnte ich glauben, dass es so zugehen kann in der Welt, dass dir jemand, zack, einfach so einen Haufen Geld gibt. Einfach, weil du dringend darauf angewiesen bist. Er gibt es dir, ohne etwas dafür zu verlangen.
Wir waren ja in Moskau. Der Stadt, die nichts mehr überraschen kann. Der Stadt, in der Millionen vor mir gedacht haben, sie würden alle fertigmachen, würden die Welt kraft ihres Bewusstseins aus den Angeln heben, die Zeit anhalten – und sie haben es tatsächlich getan. Aber dann sind sie gestorben. Wo einst mancher Welt-aus-den-Angeln-Heber im schneeweißen Mezzanin mit Blick auf den Flieder seinen abendlichen Tee mit Bergamotte trank, werden heute schmutzige Laster betankt. Und die Stadt zuckt gleichmütig die Achseln. Wie viele ihr wart, meine Lieben! Und wie viele noch kommen werden! Auf, messt euch! Greift nach den Sternen! Setzt neue Sternbilder aus ihnen zusammen! Haltet die Zeit an! Mir ist alles gleich. Ich habe schon alle Gedanken durchdacht, die ihr für neu haltet. Ich kann nur lachen über eure Lieder, in denen »ganz Moskau glihihitzert«. Ich war hier und werde noch sein, wenn ihr nicht mehr seid. Ich bin ewig. Deshalb kann ich mir ein paar billige Wunder leisten.
Viertes Kapitel,
in dem ich Menschen treffe, die Bitten erfüllen
»Wie gesagt, es gab diese irrwitzige Zeit des Träumens mit utopischen Entwürfen wie dem Palast der Sowjets. Oder dem Narkomtjashprom-Haus auf dem Roten Platz. Dann war Stalin mit seinen Vorstellungen vom proletarischen Haus mit dreieinhalb Metern Deckenhöhe tot. Aus ästhetischer Sicht eine Katastrophe, Politisches lassen wir hier im Hörsaal wie besprochen außen vor. Wie ging es weiter? Chruschtschow kam, der Kampf gegen sämtliche Ausschweifungen in der Architektur begann, die Plattenbauten tauchten auf. Bezeichnenderweise hat sich der Chruschtschow-Ansatz, den man nicht einmal funktional nennen kann (allenfalls quasifunktional), am längsten gehalten. Von 1961 bis 1990.
Wenn wir die Repräsentation einmal als konstruktivistisches Projekt betrachten, wird deutlich, dass nicht die ›Wirklichkeit‹ die Architekten beeinflusst und dazu gezwungen hat, vom Klassizismus zur Neoromanik, von der Moderne zum Konstruktivismus und so weiter überzugehen. Nein, die Architektur selbst hat den neuen Stil und alle vorherigen konstruiert.
Lassen Sie uns diesen Gedanken eingehender betrachten. Sie werden jetzt natürlich nach dem Agens fragen, das so unerbittlich diese Evolution immer neuer Stile eingefordert hat, von Konstruktivismus bis Barock. Sie werden weiter nach dem Architekten fragen, nach seiner Position, die, nicht wahr, nicht mehr zur Debatte steht, wenn wir davon ausgehen, dass die Architektur sich aus sich selbst heraus verändert.
Die Abfolge der Stile entstammt dem Raum der Architektursprache. Setzen wir die konstruktivistische Betrachtung der architektonischen Repräsentation absolut, wird deutlich, dass die großen sozialen und politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nur durch die Sprache der Architektur determiniert werden konnten. Lenins Tod entschied über die Abkehr vom Konstruktivismus. Stalin musste sterben, weil der Mix aus Antike und italienischer Renaissance gepaart mit französischem Barock sich 1953 bereits erschöpft hatte. Das ließ sich an der Simplifizierung der Formen ablesen. Die Perestroika musste kommen, weil die Architektur, notabene nicht die Politiker, weil die Architektur die Chruschtschow’schen Schuhkartons nicht mehr ertragen konnte.
So viel für heute. Also, seien Sie vorsichtig mit Ihren Projektarbeiten.«
An der Hörsaaltür fing mich die Holde aus dem Dekanat ab. Sie überreichte mir ein Kuvert und entfernte sich eilig. Diesen Auszug aus den Gesprächen mit meinen Knalltüten habe ich hier nur angeführt, weil du immer gebettelt hast, mit in den Hörsaal gelassen zu werden. Du hast mir ja regelmäßig von den nächtlichen Schlachten zwischen Chasaren und Petschenegen in den Kurilen erzählt, während ich meine Welt unter Verschluss hielt.
Die Hauptsache war jetzt aber das schneeweiße Kuvert, das mir die Dame kommentarlos ausgehändigt hatte. Ich hätte zu gern gewusst, wer es ihr übergeben hatte. Der Dekan? Der Rektor höchstselbst? Ich wollte die Lasche hochklappen, da war sie zugeklebt! Erstmals wurde mir aus dem Dekanat (Rektorat?) ein versiegeltes Kuvert zugestellt, das roch nach etwas Persönlichem, Individuellem, adressiert an einen Menschen und nicht an die Leerstelle, die ich war. Ich riss es auf, und ein Zettel glitt heraus, schmal, zart wie ein Blütenblatt.
Nein, natürlich war ich nicht naiv. Ich wusste, dass man mich kontaktieren würde. So nett die Geschöpfe auch sein mögen, die dir fünfzigtausend überlassen, sie melden sich garantiert noch einmal. Die übertriebene Genauigkeit und der gebieterische Tonfall ließen keinen Zweifel daran, wer hier schrieb.
»Ihre nächste Doppelstunde entfällt. Verlassen Sie das Universitätsgebäude (dass hier nicht der volle Name der Hochschule stand, war ein Indiz, dass der Text nicht im Dekanat geschrieben und gedruckt worden war). Gehen Sie zu Fuß in Richtung Nikitinski Boulevard. Biegen Sie aus Richtung Nikitskije Worota auf den Twerskoi ein. Bewegen Sie sich rechtsseitig in Richtung Strastnoi-Boulevard. Danke.«
Ich sprang aus dem Hörsaal und rannte auf der gewundenen Treppe der stöckelnden Bluse nach.
»Wer hat meine nächste Vorlesung abgesetzt?«, fragte ich.
Sie zog die Stirn in Falten – normalerweise wurden entfallene Stunden nicht diskutiert.
»Da ist eine Lesung mit so einem Schriftsteller …« Sie schnipste mit den Fingern auf der Suche nach dem Namen. Er wollte nicht kommen. In der MIAU versuchte niemand, mit Literaturkenntnissen zu glänzen.
»Verstehe.«
Ich verstand überhaupt nichts. Ich hatte einen Anruf aus dem Bildungsministerium erwartet, ein Blitztelegramm aus dem Smolny, einen Brief von Lunatscharski, irgendetwas Handfestes, Greifbares, das einen verstehen ließ, was das für Freunde waren, wer denen das Geld schiss. Aber die Jungs spielten Unimimikry. Ich musste los. Zu Fuß zum Twerskoi.
Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was da war, rechts am Twerskoi, und ich erinnerte mich an Schattenbäume, Bänke. Vielleicht würden sie mich ja dort, auf dem Boulevard, beim Schlafittchen nehmen, wie schon einmal, mich in ein Auto stecken und an einen Ort fahren, wo im Safe dann kein Revolver mehr lag, sondern ein schweres Geschütz oder ein Atomknopf. Deshalb wählte ich, auf dem Weg treppab, deine Nummer und sagte, es könnte später werden.
Unterwegs musterte ich die Gesichter meiner Mitbürger, weil die Formulierung »Bewegen Sie sich in Richtung Strastnoi-Boulevard« unter anderem bedeutete, man würde mich verfolgen, würde mich irgendwo abpassen.
Was