Revolution. Viktor Martinowitsch
Der Alte fuhr, mich mit Blicken durchbohrend, fort: »Ich stelle Ihnen nun die Frage, derentwegen Sie hierher eingeladen wurden, Michail. Sind Sie bereit, unser Freund zu werden? Sind Sie bereit, unserem Kreis beizutreten?«
Ich sah ihn an. Natürlich hatte ich es erwartet. Natürlich hatte ich gewusst, dass es darauf hinauslaufen würde. Weshalb hatte ich geantwortet, wie ich geantwortet habe? Nicht, weil er mich mit seinem Wissen gefügig gemacht hatte, so viel war klar. Wohl auch nicht, weil er mich gefügig gemacht hatte mit der Art des Gesprächsverlaufs. Oder vielleicht war doch an beidem etwas dran. Wobei ich letztlich glaube, dass ein Drittes eine besondere Rolle gespielt hat: Die Verheißung, Teil eines Größeren, Weisen, Allmächtigen zu sein. Wir wollen doch alle in unserem tiefsten Inneren früher oder später von jemandem engagiert werden. Und dann auf einmal so ein offenkundiges Engagement!
Da antwortete ich: »Ich bin einverstanden.«
»Sind Sie bereit, sämtliche Bitten …«
»Ja.« Aber der Satz sollte noch eine Fortsetzung haben.
»So schrecklich und unsinnig sie Ihnen auch erscheinen mögen?«
»Ja.«
Kurz schoss mir durchs Hirn, dass sie das bei der kirchlichen Trauung fragen sollten: Seid ihr bereit, euer Leben lang unsinnige Bitten zu erfüllen, Schmelzkäse zu kaufen, eine Tüte Mehl zu holen, das Fenster zuzumachen, den Fernseher leiser zu stellen – das wäre viel ehrlicher, ist doch »treu sein in guten wie in schlechten Zeiten« eine Phrase in der Sprache der Liebe, wenn man so will bloße Ideologie. Hinterher, nach der Eheschließung, kommt nicht die Liebe, sondern kommen eben diese ganzen dämlichen Bitten. Deshalb habe ich dir, Olja, ja auch keinen Antrag gemacht. Ich liebe dich, was sollen da diese verfluchten Bitten?
Ich hatte zugestimmt, ohne zu wissen, wozu mich dieser Bund mit den »Freunden« verdammte, als was für ein Mutant ich aus ihm hervorgehen würde. In diesem hastigen, mitten ins Wort gefallenen »Ja« lag mein neues Schicksal.
Der Alte kam sofort zur Sache: »Nun denn. Dann erhalten Sie nach alter Tradition gleich Ihre erste Aufgabe. Sie fahren jetzt zum Flughafen Scheremetjewo …«
»Jetzt?«, fragte ich wie vor den Kopf gestoßen. »Ich hatte für heute Abend schon andere Pläne!«
»Darum geht es ja gerade, Michail, jetzt sofort. Wenn Sie heute Abend etwas Wichtiges vorgehabt hätten, das Placido-Domingo-Konzert im Luxury Village zum Beispiel, hätten wir das Konzert spaßeshalber verschoben. Aber Sie haben heute Abend nichts Wichtiges vor. Und wir wissen das. Wenn wir Ihnen etwas auftragen, dann ist das so, gewöhnen Sie sich an den Gedanken. Dann ist dieser Auftrag für Sie allein bestimmt, alle Nebentätigkeiten sind abgestellt, Sie haben sich ganz darauf zu konzentrieren, worum Sie gebeten wurden, ja?«
»Ja. Ja.«
»Gut, Michail. Sie setzen sich in das Auto, zu dem Tschupryga Sie bringen wird.«
»Wer?«, fragte ich verständnislos.
»Das ist mein Assistent, der Sie hierhergebracht hat. Tschupryga. Sie werden jetzt häufig mit ihm zu tun haben, also prägen Sie ihn sich gut ein. Sie setzen sich in unser Auto und fahren zu Scheremetjewo-2. Dort gehen Sie in die Ankunftshalle. Links des Haupteingangs ist an der Wand entlang eine Sitzreihe. Sie beschreibt einen Bogen unter den Fenstern, in Siebenerblöcken. Zwischen den Blöcken sind Lücken, Kioske, Wechselstuben und so weiter. Sie nehmen den vierten Block vom Eingang aus gezählt.«
»Den vierten Block?«, fragte ich nach.
»Ja, den vierten. Auf dem zweiten Sitz des vierten Blocks vom Eingang aus wird ein Mann sitzen. Folgendes Erscheinungsbild: eins achtzig groß, brünett, übergewichtig, zweiundfünfzig Jahre. Er heißt Iwan Arkadjewitsch.«
»Moment, das muss ich mir aufschreiben.«
»Sie dürfen nichts aufschreiben, Michail«, sagte der Alte lächelnd. »Unsere Bitten dürfen niemals irgendwo notiert werden. Trainieren Sie Ihr Gedächtnis. Filtern Sie die wichtigsten Daten heraus. Vor- und Vatersname des Mannes sind nebensächlich. Die wichtigsten Punkte bislang sind Scheremetjewo-2 und der zweite Sitz des vierten Blocks. Zwei Punkte, die das Wesentliche enthalten.«
»Zwei vier. Der zweite Sitz des vierten Blocks«, sprach ich ihm nach.
»Sie gehen zu diesem Mann und sagen ihm, dass Sie Michail heißen. Mehr brauchen Sie ihm nicht zu sagen. Er wird den Flughafen mit Ihnen verlassen.« Der Alte überlegte. »Sollte er dabei Hilfe benötigen, helfen Sie ihm raus, aber … Aber ohne Aufmerksamkeit zu erregen, ja? Klären Sie das mit ihm, dass er … sich bei Ihnen aufstützt, oder so. Sie gehen gemeinsam zum Auto, ohne Hast, langsam, ordentlich. Dann fahren Sie zu folgender Anschrift: Uliza Planetnaja 12, Wohnung Nr. 57. Das ist das Dritte, was Sie sich einprägen müssen, die genaue Adresse. Uliza Planetnaja 12, Wohnung Nr. 57. Sie betreten das Haus, gehen in den zweiten Stock hoch. Erdgeschoss wäre natürlich besser«, sagte er kryptisch, »aber auf die Schnelle haben wir nur eine Wohnung im Zweiten gefunden. Sie gehen hoch und öffnen die Tür mit dem Schlüssel, den Sie von Tschupryga bekommen werden. Da sind Flur, Küche, zwei Zimmer. Sie legen ihn in das Zimmer neben der Küche und schließen hinter ihm ab. Sollten im Treppenhaus … Spuren zurückbleiben … (mir wurde ganz anders von diesen Instruktionen, was denn für Spuren? Wieso besser eine Erdgeschosswohnung?) nehmen Sie einen Lappen aus dem Bad und wischen das auf. Was in der Wohnung ist – nicht Ihre Sorge. Da kommen Spezialkräfte, die räumen alles auf. Verstanden?«
»Was für Spuren? Was meinen Sie damit?«
»Keine Fragen!«
»Aber das hat doch mit meiner Aufgabe zu tun! Wenn ich Sie nun falsch verstanden habe?«
»Keine Fragen! Vor Ort werden Sie alles verstehen. Sie bleiben bis neun Uhr vormittags in der Wohnung. Punkt neun Uhr verlassen Sie die Wohnung, schließen die Tür ab, gehen hinunter, Tschupryga wartet mit dem Auto. Haben Sie alles verstanden?« Und ohne mir Gelegenheit zu einem »Nein, nicht alles verstanden!« zu geben, fuhr er fort: »Die Hauptsache, Michail! Worum Iwan Arkadjewitsch Sie auch bitten wird, erfüllen Sie seine Bitten nicht! Sie tun, was ich gesagt habe, klar? Am besten Sie sprechen überhaupt nicht mit ihm. Er ist auch instruiert, aber vielleicht … Vielleicht wird er Sie bitten … Keinerlei Bitten! Keinerlei Anrufe, Michail! Das noch einmal gesondert: Sie dürfen nach dem Treffen mit Iwan Arkadjewitsch niemanden anrufen. Keine Anrufe und die Wohnung nicht verlassen! Sie sitzen in Ihrem Zimmer, was auch geschieht, bis neun Uhr vormittags! Haben Sie das verstanden?«
Ich nickte und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Was erwartete mich? Eine Schießerei? Behälter mit schwappendem Shakespeare-Polonium, das ich nachher im Treppenhaus aufwischen sollte?
Noch ohne etwas zu wissen, hatte ich eine Ahnung, wappnete mich schon, während er sein Gebiss endgültig in die Gurgel meiner Seele schnappen ließ: »Denken Sie daran: Das ist Ihre erste Aufgabe, eine Prüfung. Enttäuschen Sie uns nicht, Michail. Sie haben eine sehr verantwortungsvolle und gefährliche Prüfungsaufgabe übertragen bekommen.«
Ich hörte natürlich nur das »Gefährliche«. Ich überlegte, dich anzurufen, Olja, dich vorzuwarnen, aber der Alte wünschte mir schon viel Erfolg, die Tür schwang auf und entließ den Hünen Tschupryga aus dem Dunkel, ein Beleg dafür, dass unser Gespräch draußen mitgehört worden war, woher hätte der Hüne sonst gewusst, dass er gerade jetzt hereinkommen sollte? Ich drückte mich, seitlich wie der Student mit seinen Prüfungsfragen, die er alle nicht beantworten kann, ein verdruckstes Schleimerlächeln auf den Lippen als Entschuldigung für meine Witzeleien, in Richtung Ausgang und weiter den Gang hinab, und der Alte sah mir nach, begleitete mich mit gerecktem Hals. Mit dieser Haltung erteilte er wahrscheinlich seinen Segen für lange Reisen, aber sein Auftrag hatte auch etwas von einem Fluch, einem Fluch, der immer noch auf mir lastet.
Ich tippte, da ich noch nicht recht verstanden hatte, ab wann nicht mehr telefoniert werden durfte, rasch deine Nummer und stammelte hinter dem massigen Riesen hastig, wie in ein Funkgerät, ohne dir Gelegenheit zu geben, zu antworten, zu reagieren oder dich aufzuregen: »Mir ist was dazwischengekommen, warte nicht auf mich, wenn du von der Nachtschicht kommst, geh schlafen. Ich komm