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Revolution. Viktor Martinowitsch
nie zur Stelle waren, standen jetzt alle fünfzig Meter bereit. Die Arbeiter, die neue Bordsteine setzten, hatten Funkgeräte und sahen mir nach – war das normal? Was brauchen die Funkgeräte? Da waren Leute, gewöhnliche Moskauer oder Hauptstadtgäste, die in ihre Handys sprachen und mir in meinem Tempo nachgingen, dass ich den Impuls verspürte, abrupt stehen zu bleiben und mich umzusehen: Wer blieb noch stehen? Aber schon schubsten sie mich und schimpften – lauf anständig!
Ich schlenderte nichtsnutzig vor mich hin und verfiel wieder auf den Gedanken, meine unsichtbaren, großzügigen Freunde wollten einfach, dass ich ihrer Bitte nachkam und spazieren ging. Dass ich guten Willen zeigte. Nichts weiter, da käme nichts mehr nach. Und in der Ferne war schon die Kreuzung am Puschkin-Platz zu sehen, und ich beschleunigte meinen Gang, da ich begriff, dass die auf dem Zettel genannte Route umso schneller zu Ende war, je schneller ich lief. Im Vorfeld eines bekannten Restaurants, das gerade komplett eingerüstet war, auch das Schild hatten sie schon abgerupft, tauchte neben mir ein junger Mann mit manierlichen Gesichtszügen auf. Er hatte schnellen Schrittes zu mir aufgeschlossen, nachdem er einer Realitätsfalte entsprungen war (Torbogen? Hauseingang?).
Den Blick geradeaus gerichtet, erkundigte er sich ausgesucht höflich: »Wollen Sie nicht zu Abend essen, Michail Alexejewitsch?«
Ich wandte mich um, starrte ihn an, prägte ihn mir ein. Da war er, einer der großzügigen »Freunde«. Langhaarig, dunkel, mit sprießendem Backenbart auf den Wangen. So ein richtiger Onegin, wobei ich mir, was Onegins Backenbart angeht, alles andere als sicher bin. Man könnte ihn auch Fandorin nennen, dann hätte die breite Masse sein Bild deutlicher vor Augen. Für diese Masse ist heute Fandorin ursprünglicher als Onegin – eine hässliche Semiose unserer verfälschten Zeit. Aber dieser Text ist ja nicht für die breite Masse geschrieben. Also: Onegin, jawohl.
Er ließ sich nicht betrachten, sei es aus Scham, aus Angst, oder weil er instruiert war, das Ganze schnell über die Bühne zu bringen.
Onegin eilte mir drei Schritte voraus und behielt diese Gangart bei, wie sollte man da jemanden eingehend in Augenschein nehmen? Ich legte zu, holte ihn ein, da verharrte er in regloser Lakaienpose, und unter dem schwarzen Gehrock der jüngsten Pal-Zileri-Kollektion, nein, nicht altmodisch, ultramodern, strahlte ein schneeweißes Hemd hervor, am Handgelenk, wie sich’s gehört, eine Breguet (»als dandy kostümiert«). Er wies auf die Tür des eingerüsteten Restaurants. Dort, an der Tür, hing eine in Schriftart und Messing auf Goldenes Zeitalter getrimmte Tafel mit der Aufschrift »Wegen Umbau geschlossen«, mit Schnörkeln und dieser vorrevolutionären Orthografie, die ich hier nicht wiedergeben kann, weil ich mich mit der archaischen Rechtschreibung nicht auskenne und hier natürlich aus dem Gedächtnis schreibe, das all diese Details nicht zu fassen vermochte.
»Da? Rein oder was?«, fragte ich nach. »Ist doch zu.«
Onegin lächelte, aber nicht jenes dreiste Allmachtsgrinsen, das ich sonst stets auf ihren Lippen zu sehen bekommen sollte, sondern ein schamhaftes kleines Zucken um die Mundwinkel: »Nicht für unsereinen, mein Verehrtester, werden in dieser Stadt Verbotstafeln geschrieben.« Er lächelte und hob zum Abschied die Hand. Aber dann musste ihm eingefallen sein, dass es nichts zu verabschieden gab, wir hatten uns weder begrüßt noch bekannt gemacht, waren uns nur für einen Moment begegnet. Ich war (das weiß ich jetzt) eine seiner kurzen, simplen Missiönchen. Onegin verwies seine Hand wieder auf ihren Platz, um zu zeigen, dass nicht er mir gewinkt, sondern seine Hand sich irgendwie selbstständig gemacht hatte, kurzum er wandte sich ab und eilte davon, in Richtung Metro.
Ich stand unter dem Gerüst vor der »Wegen Umbau geschlossen«-Tür. Und mir war klar, dass »Wegen Umbau geschlossen« hier bedeutete: »Geschlossen für euch, werte Moskauer und Hauptstadtgäste. Rennt ihr, werte Moskauer und Hauptstadtgäste, mal hübsch woandershin.« Noch während ich die schwere Tür aufzog, überlegte ich, dass das Ganze eine schöne Lesart der Metapher von der »geschlossenen Gesellschaft« war – die Gesellschaft war tatsächlich geschlossen, in jeglicher Hinsicht. Aber auf mich würde jemand warten hinter dieser Tür. So betrat ich also einen mit erlesenen Kacheln ausgekleideten Raum, auf den ein Tisch und ein Metallrahmen folgten. Ein aufgedunsener Jungschrank, das Gehirn dieses Rahmens, erhob sich von seinem Stuhl.
Und er sagte zu mir nicht »Willst’n hier? Is doch zu!«, sondern unpersönlich, in Milizmanier: »Metallgegenstände auf den Tisch, die Tasche zur Kontrolle und selber durch den Rahmen.«
Ich gehorchte und klirrte drauflos und zog den Gürtel ab und klopfte meine Taschen ab und hüpfte und ließ mich von einem scheinbar aus Star Wars entnommenen Scanner abtasten und piepste trotzdem noch und öffnete sogar den Mund und ließ die Socken runter. Endlich bekam ich zur Belohnung das Recht, auf die andere Seite des Portals überzuwechseln.
Der Jungschrank sagte in sein Funkgerät: »Ist durch. Ich übergebe.«
Und ich begab mich in absolute Finsternis, den Gang hinunter. Dort wartete wieder jemand auf mich, der mir umstandslos mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, dass ich erblindete. Während die Schwärze wieder aus meinen Augen wich, instruierte er mich rasch, eine undeutliche Silhouette, ein massiver Hüne, der mir den Weg versperrte. Nur die Reflexe seiner Pupillen waren zu sehen, das Einzige, was diesen Fleischberg menschlich wirken ließ.
»Du gehst in den Saal. Siehst den Tisch. Grüßen. Hinsetzen. Gibt nur einen Stuhl. Nicht losreden. Ansprechen mit Alexej Borissowitsch. Kapiert?«
Ich nickte und sprach, als mir klar wurde, dass dieses Nicken unsichtbar blieb, die Synchronfassung: »Ja. Kapiert.«
»Und bau keinen Scheiß dadrin«, ermahnte mich mein Instrukteur gutmütig, das war nicht als Drohung gemeint, sondern kumpelhaft witzig. Er ging voran, auf Zehenspitzen, kam auf Dielenboden (die Dielen bogen sich spürbar unter ihm), und es wurde ein bisschen heller, allerdings war die einzige Lichtquelle der Raum hinter der hohen, angelehnten Tür, zu der er mich brachte. Mit einer halben Verbeugung zog er die Tür weiter auf und ließ seinen Arm dreimal rotieren, wie in Counter-Strike: »Vorwärts, vorwärts, vorwärts! Go, go, go!«
Als ich an ihm vorbei war, trat er einen Schritt vor, in den Lichtstreif und meldete gedämpft: »German zugeführt.«
Ich saugte mich mit meinen Blicken in seinem Gesicht fest, da ich wusste, er würde sofort wie eine Kakerlake zurück ins Dunkel kriechen, und ich konnte grobe Züge ausmachen, eine fleischige Nase, massive Überaugenwülste, breite Wangenknochen, Dreiecksnacken. Eine gezähmte Bestie, die einem unvorsichtigen Besucher im Vorübergehen einen Arm abreißen konnte.
Im Saal entdeckte ich, seitlich sitzend, einen alten Mann, das Profil mir zugewandt. Und ich kannte dieses Gesicht, hatte es erst unlängst gesehen, genau so, im Profil!
Noide.
Der Diokletian aus dem Fernsehen.
Der Gärtner, der das Präsidentenamt gegen die Bienen eingetauscht hatte – genau dieses Männlein saß nun vor mir! Und ich verzagte, hastete hektisch hierhin und dorthin auf der Suche nach jenem Stuhl, von dem die Bestie im schwarzen Anzug gesprochen hatte. Den Hocker fand ich an der Wand, vor einem mit schwerer Portiere verhängten Fenster (es gab kein natürliches Licht – damit kein zufälliges Auge von draußen den Alten sah, oder was?). Ich trippelte hastig zum Hocker, hörte, wie vulgär meine eiligen Schritte über den Boden scharrten, und umkurvte den Tisch, die lange Tafel mit dem weißen Tischtuch, eine Tafel mit zwei Gedecken, eines vor dem Alten, das zweite am anderen Ende, vor einem Stuhl, verflixt!, da war ja mein Stuhl! Der war mir bei meiner ganzen Pioniersnervosität entgangen.
Ich zog den Stuhl heran, verursachte dabei ein höllisches Kreischen, und die Tür flog auf, und die Visage des Instrukteurs lugte herein: Ob der Chef in Ordnung war, ob ihn mein Geräusch nicht umgebracht hatte? Inzwischen puterrot, wie die Köchin beim Empfang durch die Königin von England, setzte ich mich, legte die Hände auf die Knie, stieß mit den Ellbogen gegen die Rückenlehne und dachte, du sitzt doch am Tisch, also gehören die Hände wohl nicht auf die Knie, sondern aufs Tischtuch, die Ellbogen unterhalb der Tischkante, mit Ellbogen geht gar nicht. Ich fuhrwerkte also herum, fegte die Gabel vom Tisch (ohrenbetäubendes Geklirr), hob sie auf, entschuldigte mich (diesmal schaute die Visage nicht mehr herein).
Der Alte