Revolution. Viktor Martinowitsch

Revolution - Viktor Martinowitsch


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er gerade wegen meiner Ironie, wegen meines Stinkefingers, der mir zu all seinen Ausführungen aus der Tasche lugte, an mir interessiert.

      Aber das ist mir erst jetzt aufgegangen, damals fragte ich natürlich: »Und womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Und fügte mit Fünfzigtausenderstimme hinzu: »Ich muss schon sagen, dass ich Ihnen sehr, sehr dankbar dafür bin, dass Sie mir mit dem Geld ausgeholfen haben. Wirklich geholfen. Ganz im Ernst. Verbindlichsten Dank. Aber was jetzt? Sie erwarten doch etwas von mir?«

      »Michail, gehen wir einmal davon aus, dass wir Sie nicht hierher eingeladen haben, weil Sie uns etwas schuldig sind. Vielmehr sind Sie für uns – sehr interessant. Auf dieser Basis wollen wir uns weiter mit Ihnen unterhalten, einverstanden?«

      »Interessant? Ich? Womit denn?!« Ich war wirklich baff. Ich wusste nicht, was mich für Leute interessant machen könnte, die binnen fünf Tagen fünfzigtausend auftreiben und sie dir bedingungslos überlassen konnten.

      »Wir verfolgen Sie schon sehr lange, Michail. Sie berechtigen nämlich zu den schönsten Hoffnungen auf dem Feld, das uns zuallererst interessiert.«

      »Was ist das für ein Feld?«, fragte ich. Und ich schmeichelte mir selbst: »Architekturgeschichte? Semiotik?«

      »Nein, Michail. Macht.«

      »Macht?« Ich war schon wieder platt. »Ich geh doch nicht mal wählen! Politik interessiert mich überhaupt nicht!«

      »Ich sagte nicht ›Politik‹, Michail. Ich sagte ›Macht‹.«

      Dieses Argument ließ mich straucheln und verstummen. Überhaupt verstand er sich vortrefflich darauf, mich bei Bedarf zu belagern, um mir dann den Boden unter den Füßen wegzuziehen, dass der Stinkefinger in der Tasche erschlaffte.

      »Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, dass Sie jedes Mal, wenn Sie Ihre Vorlesungen beginnen, ja sogar schon vorher, sobald Sie den Hörsaal betreten, sich in ein Gefüge begeben, das wenig mit wahrer Weisheit gemein hat. Glauben Sie das einem alten Mann«, fügte er kokett hinzu. »Weisheit kommt mit Erfahrung. Wissen erwirbt man aus Büchern. Die Universität dagegen ist Macht. Gewiss, eine eng mit Weisheit und Wissen verbundene Macht. Die Genealogie der Macht ist abgeleitet aus der Genealogie des Wissens. Wer über Wissen verfügt, verfügt über Menschen. Einfachstes Beispiel ist das Verhältnis Patient-Arzt. Auch ein Machtverhältnis, nebenbei. Der Patient vertraut seinen Körper dem Arzt an, da der Arzt über das Wissen verfügt, wie der Körper aufgebaut ist. Die Akademie war zu allen Zeiten eine Institution der Unterordnung, der zwangsweisen Sozialisierung, wenn Sie so wollen. Sie erzog den jungen Bürger auf das totalitäre System hin, in dem er sein gesamtes Leben verbringen sollte. Auf eine Hierarchie hin, in der man ihn öffentlich abstrafen konnte fürs Zuspätkommen, für schlechtes Betragen, während er dazu verdammt war, zu schweigen, zuzuhören und zu schweigen. Sie, Michail, machen aus freien Tieren, die die Kinder ja sind, Rädchen, die perfekt in das System Büroarbeit oder Staatsdienst passen. Das ist Ihre Arbeit, Ihre und die ihrer Eltern, die sie dazu erziehen, man müsse Ihnen zuhören. Sich Ihnen unterordnen. So lernen sie zu schweigen, Kränkungen hinunterzuschlucken, so stellen sie sich hinein in die Hierarchie und machen sich auf den Weg nach oben.«

      Die letzten beiden Wörter in diesem Satz hätte man auch in Gänsefüßchen setzen können, dachte ich. Ich drehte die Tasse Kaffee vor mir. In der Tasse lag inmitten des Kaffeesees ein Inselchen aus gelblichem Schaum, fest und aufgebläht, und so sehr ich die Tasse auch drehte, das Inselchen stand still – interessant, nicht? Aber das interessierte nur meine Augen, mein Gehirn hörte zu, saugte auf, staunte, ordnete sich unter, ordnete sich ihm unter, seiner Logik und seinem Wissen.

      Ich beschloss zu zweifeln: »Ich bin in der Universität das kleinste Raubtier. Nicht mal ein Räuber, ein pflanzenfressendes Säugetier.« Seinen theoretischen Argumenten hatte ich nichts entgegenzusetzen, ich protestierte nur gegen meine persönliche Stellung darin. »Wenn es Ihnen um Gehirnwäsche bei den Kindern geht, halten Sie sich an den Rektor. Ich denke, dass Leute die über solche … Ressourcen verfügen, ihn leicht von allem Möglichen überzeugen können. Ich bin ja nicht mal Dozent. Bloß Lektor. Mit langweiligen Vorlesungen, bei denen alle schlafen. Ich habe also keinerlei Macht. Tut mir leid.«

      »Glauben Sie das im Ernst? Wo fängt denn Macht an, Michail? Da, wo der Präsident sich mit Arbeitern trifft? Oder weiter unten, wo der Milizionär dem Taxifahrer Schweigegeld abpresst? Oder noch weiter unten, wo der Taxifahrer nach Hause kommt und seine Frau anbrüllt, weil sie den Borschtsch versalzen hat? Oder ist das etwa alles Macht, Michail? Vielleicht ist nicht nur das Verhältnis zwischen Rektor und Lehrkraft Macht, sondern auch das Verhältnis zwischen dem Lehrenden und denen, die seine Vorlesung hören? Sogar noch eine viel weiter gehende Macht, da er nicht nur über sie verfügt wie der Rektor, sondern sie auch noch bildet, für ihr gesamtes weiteres Leben …«

      Ich nickte, schielte zum Tischtuch hinab und legte mir schon eine Geschichte zurecht: Da sitzt dieser Opa, dem früher einmal das ganze Land gehörte. Und jetzt will der Opa das ganze Land wiederhaben. Der Opa plant wohl eine Revolution. Kohle hat der Opa natürlich reichlich, er verscherbelt still und heimlich das Parteigold und die Juwelen. Der Opa hat meine Schulden beglichen (woher er wohl davon wusste?) und wird mich gleich bitten, unter den Studierenden Flyer zu verteilen, in denen der Opa zur letzten Hoffnung der Demokratie ausgerufen wird, zum Kämpfer gegen das Tandem, zum Erben Jelzins et cetera. Und irgendein verblichener Schachprofi tritt plötzlich als sein, des Opas, Prophet auf.

      Etwas musste über mein Gesicht gehuscht sein, denn er hatte mein hirnverbranntes Drehbuch im Nu gelesen. Er grinste: »Denken Sie bloß nicht, ich würde Sie bitten, die Studenten zu agitieren. Gott bewahre! Vergessen Sie die Politik. Ich habe doch gesagt, Ihre Arbeit hat lediglich unsere Aufmerksamkeit auf Sie gelenkt. Der eigentliche Kern unserer (hier stockte er!) … Freundschaft, ist keineswegs mit Ihrer derzeitigen Arbeit, mit Ihrer Universität verbunden.«

      »Dann würde ich gerne wissen, was Sie von mir verlangen«, bat ich.

      »Lassen Sie mich Ihnen besser erzählen, was Sie von uns bekommen«, antwortete er und hob leicht die Hand, um mich zu bremsen. »Es gibt eine, übrigens recht große, Zahl von Menschen, die zu unserem, nennen wir ihn ›Kreis‹ gehören. Ja, so könnte man uns bezeichnen: ›Freundeskreis‹. Nun ist jeder von ihnen, und zu diesem Kreis zählen ziemlich gewichtige Persönlichkeiten, dazu bereit, für jeden anderen sehr, sehr viel zu tun, ihm, wenn Sie so wollen, jeglichen Wunsch zu erfüllen. So hirnverbrannt, unzeitgemäß oder unsinnig er auch aussehen mag. Was ergibt sich nun daraus?«

      Ich überlegte. Ich schluckte meine bissige Replik über den Film Der Soldat James Ryan hinunter. Schluckte sie hinunter, weil das alles langsam wirklich ernst wurde. Richtig ernst.

      Ich sagte: »Daraus ergibt sich eine Organisation, die alles kann, was im Kompetenzbereich eines ihrer Mitglieder liegt.« Und ich fuhr fort: »Wenn wir annehmen, dass zu den Mitgliedern Vertreter der Regierung, des Finanzsektors und der Geheimdienste gehören, ist so eine Organisation in einem Land wie Russland praktisch allmächtig.«

      Wieder hob er die Hand, hielt mich zurück, weiterzufantasieren und meine Schauergeschichten vom Stapel zu lassen. »Ich sage doch, dass es keine Organisation gibt. Es gibt Individuen, physische Personen, verbunden allein durch das Gefühl gegenseitiger Sympathie.«

      Ich winkte mit Whatever-Miene ab.

      »Und was ist nun die einzige Bedingung für die fortwährende Funktionsfähigkeit eines derartigen Mechanismus?«, forschte der Alte weiter.

      »Fehlendes Interesse von Seiten des FSB?« Ich biss mir auf die Zunge, aber wieso eigentlich, dieser Witz war ziemlich ernst geraten, der ging kaum noch als Witz durch.

      Aber der Alte hob schon wieder die Hand. Diesmal jedoch mit einem veränderten Gesichtsausdruck, der nur bedeuten konnte, mit dem FSB sei alles geregelt, der FSB sei im Boot, mit den anderen auch alles in Butter. Und er beantwortete seine Frage selbst, und ich staunte, wie starr sein Gesicht plötzlich war, nur das Kinn bewegte sich, eine Erhabenheit in schöner Übereinstimmung mit der Bedeutsamkeit des Augenblicks: »Die einzige Bedingung ist, dass alle Glieder dieses Freundeskreises sämtlichen Bitten, die an sie herangetragen werden, aufs Peinlichste Folge leisten.«

      Ich


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