Revolution. Viktor Martinowitsch
krümmte mich zusammen unter diesem Blick und stammelte: »Verzeihung«, mit steigender Intonationskurve, weil ich noch seinen Vor- und Vatersnamen anfügen wollte, aber die waren mir entfallen. So hing dieses »Verzeihung, …« so markant in der Luft, und ich schnappte so hilflos nach Luft, dass er nur noch ausladender lächelte.
Inzwischen weiß ich, dass er mich natürlich manipuliert hat, mich gezielt in diese Peinlichkeiten hat laufen lassen, um mein psychisches Innenleben seiner aufmerksamen chirurgischen Begutachtung unterziehen zu können.
»Verzeihung«, wiederholte ich, weiter errötend.
Sein Lächeln wandelte sich, wurde sabbernd senil, und er sagte irgendwie übertrieben offenherzig: »Wissen Sie, es gibt hier sehr leckeren Haferschleim!«
Und mein Hirn zerschellte an diesem »Haferschleim« wie ein galoppierender Hengst, der in ein unsichtbares Kraftfeld gerät – nur noch spritzender Hirnschleim blieb zurück.
Und der Alte ging noch weiter: »Wollen wir ihn kosten?«
Genauso, nicht etwa »wollen Sie«, sondern »wollen wir«! Lass uns gemütlich hier sitzen und Haferschleim schlabbern, ihn uns in den Hals spachteln und Mors nachtrinken, oder was würde er sonst zu seinem Schleim empfehlen? Ich schüttelte wie wahnsinnig den Kopf, obwohl mir dämmerte, dass es nach hiesiger Etikette einem Verbrechen gleichkommen könnte, den Haferschleim auszuschlagen. Dann durchfuhr es mich plötzlich, dass ich hätte beipflichten müssen: Immer her mit dem Schleim! Kein Ding! Das waren immerhin fünfzigtausend gewesen. Schleim hin oder her! Der wird probiert! Aber da war das »Nein« schon raus, und genau diese erste, spontane Reaktion hatte er gebraucht.
Der Alte nickte, etwas zu eifrig für einen senilen Greis. Aber er hatte schon alle nötigen Schlüsse über meine Person gezogen. Er stellte mir die Kaffee-Tee-Frage, ich bat um einen Kaffee. Hinter dem Kamin gab es eine weitere Tür, durch einen Vorhang verdeckt, hinter dem nun eine junge Frau mit Maria-Magdalena-Gesicht hervorgeschwebt kam, angeborene Sündhaftigkeit und ordentlich erworbene Demut in sich vereinend. Eine akkurat gescheitelte Platinblonde (dieses Wort hat immer auch etwas von platt und dümmlich, nicht wahr? Aber diese hier war nicht nur klug, sondern weise, das ließ sich an ihren etwas störrisch verzogenen Lippen ablesen). Sie trug ein strenges Businesskostüm. Zu dem Alten gebeugt, fragte sie ihn halblaut etwas wie: »Für Sie das Übliche?«, und er, der Herr, bestätigte: »Ja, das Übliche.« Sie senkte den Blick und entschwebte, und ich wartete schon auf meinen Kaffee, wartete schon darauf, dass sie neben mir erschien, um ihn mir zu servieren, so nah, dass ich ihr Parfum würde riechen können.
Und der Alte sagte nur: »Na, na.«
Ich war perplex und brauchte einen Moment, bis ich verstand, dass er natürlich etwas anderes gesagt hatte. »Anna«, hatte er gesagt. So hieß sie, Anna. (Na, na, Olja, nicht eifersüchtig sein!) Ich schaute mich um: Halbdunkel, brennende Kerzen und ein geschmackvoll auf alt getrimmter Messing-Kristallleuchter. Alles flackerte, zitterte, knisterndes Holz im mit weißen Kacheln (der russische Adelsklassiker) verzierten Kamin, tanzende Schmachtfiguren an der Decke – das ging nun doch zu weit, hier hatten sie nicht mit Spielverderbern wie meinesgleichen Rücksprache gehalten. Ein Interieur im Stile des späten Klassizismus kann nur eine weiße Decke mit halbrunden Zierleisten haben, maximal noch eine kleine Halbrelief-Rosette, aber nie im Leben einen fetten, öligen Delacroix über Kopf. Aber ich wandte meinen Blick wieder dem Alten zu, der mich die ganze Zeit musterte.
Anna tauchte auf, zu früh! Ich hege den Verdacht, dass sie schon vorher gewusst hatten, was ich bestellen würde, und dass der Tee des Alten und mein Kaffee schon fertig dastanden. Und ich straffte mich in der Erwartung, dass, na-na-Anna mit ihrem Tablettchen zuerst zu mir kommen würde, aber nein, Noide zuerst, was mir deutlich machte, dass ich nicht Gast war, sondern Geschmeiß. Ich nickte trocken, nachdem ich auf das Tischtuch neben mir zuerst Untertasse, dann Serviette, dann das Löffelchen und erst ganz zuletzt eine verschnörkelte (wieder Barock statt Klassizismus) Tasse Kaffee serviert bekommen hatte.
Der Alte rührte seinen Tee um und nippte, als tränke er aus einem Riffelglas im Messinghalter – nach alter Kreml-Gewohnheit. Er hielt die Tasse gleich mit drei Fingern im Henkel, der ihm ins Fleisch unterhalb des Daumens schnitt. Der Daumen lag oben auf dem Henkel und drückte gegen die Tassenwand, als wäre hier der Rand des Glashalters und dahinter das wacklige Teeglas, das bei jedem anderen Griff wegrutschen, umkippen und ihn mit der heißen Flüssigkeit übergießen würde. Kopierten die alle Stalin, oder was?
Er stellte seine Tasse ab und wandte sich mir zu, mit einer gänzlich anderen Intonation, ohne das Geschmatze, mit dem er mir den Haferschleim angeboten hatte. Er redete ausgesprochen kühl und blickte mich nüchtern an. Mir wurde ganz anders von diesem Umschwung.
»Michel Foucault hat Nietzsches transzendentalen Willen zur Macht als die Kehrseite des Rationalismus aufgefasst.« So begann er und demonstrierte damit gleich, dass er wusste: Unter uns studierten Pastorentöchtern kam ein Gedanke, der nicht mit der Referenz auf eine Autorität begann, als Gedanke gar nicht in Betracht. So, mit seinem klar artikulierten »transzendental«, das dort, in dieser Phrase nicht hätte sein müssen, das aber da war, das verdeutlichte, dass der Alte mit jedem eine gemeinsame Sprache fand, seinen Slang, und dass er die klügsten Köpfe beherrschte, weil er den Slang beherrschte. Und er fuhr fort: »Ich kann Foucault da nicht ganz zustimmen. Ich bin nämlich der Auffassung, dass der Wille zur Macht und die Macht selbst nicht die Kehrseite des Rationalismus sein müssen, sondern auch der Rationalismus als solcher sein können. Mehr noch: Nimmt man dem Menschen das Machtstreben, versinkt unsere Gesellschaft im Chaos dauerkonsumierender Moleküle. Wenn Sie so wollen, ist der Wille zur Macht das einzige rationale Prinzip, das dieses Chaos zu ordnen vermag.«
Ich verstand nun, dass ich nicht hierher eingeladen war, um einem Disput über die Genealogie der Macht beizuwohnen, deshalb hörte ich aufmerksam zu und gab durch Nicken zu verstehen, dass ich seinen Gedanken folgen konnte.
»Wollte man die Macht einem Code vergleichen, der das Chaos in Strukturen organisiert, die wiederum nach bestimmten Zielen streben, gewissen Gesetzen folgen, diese Gesetze hervorbringen … Dann also, würde ich sagen, sind wir, Ihre Freunde, diejenigen, die Sie hierher eingeladen haben, eben dieser Code. Wenn Sie kein Akademiker wären, hätte ich gesagt, wir seien die Macht, aber diese effektvolle Annahme wäre nicht ganz korrekt. Schließlich kann ich bis heute die Frage nach dem Wesen der Macht nicht genau beantworten. Dagegen kann ich mich an einer Antwort auf die Frage, wer ›wir‹ sind, zumindest versuchen.«
Er legte eine Pause ein, und ich stellte die Frage natürlich: »Wer sind ›Sie‹ denn?« Ich wollte noch etwas Ironisches anhängen, so ist mein Geist nun mal gestrickt, dass er bei jeder Begegnung mit dem Imposanten oder Imposant-sein-Wollenden der Imposanz eine despektierliche Vokabel aufschmieren muss. Schon lag mir eine Konkretisierung auf der Zunge, etwas wie: »Sind Sie diejenigen, die Restaurants wegen Umbau schließen, damit andere Gäste Sie nicht beim Haferschleimessen stören?«
»Wir«, sagte er gebieterisch, »sind eine Gruppe von Menschen, die einander helfen. Mehr nicht. Wenn einer etwas dringend braucht, bemühen sich alle anderen, alles dafür zu tun, dass er das Benötigte bekommt. Dabei weiß der Einzelne manchmal gar nicht, was er braucht, dann entscheiden die anderen für ihn. Als Grundregel gilt: Je höher du stehst, desto mehr kannst du den anderen geben. Deshalb sind alle daran interessiert, dass selbst Neulinge möglichst weit aufsteigen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Ich nickte, schob aber trotzdem mit einem kurzen Lacher hinterher: »Also eine Art Bergsteigergemeinschaft?«
»Ich bin dagegen, uns als Gemeinschaft zu bezeichnen«, parierte er. »Wir sind keine Gemeinschaft. Wir sind eine Gruppe von allein durch gegenseitige Sympathie miteinander verbundenen Individuen. Wenn man uns denn Gemeinschaft nennen möchte, sind wir am ehesten eine Art Unterstützergemeinschaft.«
»Und Sie?«, stellte ich die Kernfrage.
»Und ich bin gewissermaßen ihr Vorsitzender«, antwortete Noide.
Ich hob meine schon an die Lippen geführte Tasse, in einer ungezwungenen »Na dann auf dich, Vorsitzender«-Geste, und der Kaffee schwappte vorbei an der Untertasse, vorbei an der Serviette auf das schneeweiße Tischtuch.