Revolution. Viktor Martinowitsch
dürfen nicht mit Verwandten, Freunden oder sonst wem besprochen werden. Kannst du natürlich versuchen, aber denk dran: Wir wissen Bescheid. Niemand darf von deinem Gespräch mit Batja wissen.«
»Mit wem?«, fragte ich.
»Batja. So nennen wir Noide unter uns. Er ist echt wie ein Vater. Du kapierst das als Neuling noch nicht, aber ein paar von uns hat er schon aus Dingern rausgehauen, die ein paar Nummern krasser waren als deine fünfzig Schnitter.«
»Fünfzig Schnitter« – liest man diese Fügung bei Tolstoi, denkt man an weitläufige Wiesen zwischen Wald und Fluss, an lange Reihen von Männern im groben Leinenhemd, in ruhiger Vorwärtsbewegung, aus der Schulter heraus die Sensen schwingend. Kaum noch auszumachen jener Moment, da diese »fünfzig Schnitter« in der russischen Literatur von Bauern, die einem ehrbaren und zeitlosen Geschäft nachgehen in einen harten Betrag fremder Währung umgewandelt wurden. Noch bei Bunin haben die Schnitter gesenst, bei Axjonow standen sie nur noch für den zählbaren Schnitt. Dabei waren hier weniger die Schnitter von Interesse als das »Batja«, das direkt einem Ljube-Song entsprungen schien. Dieses vulgäre, schnoddrige »Batja«, das einen Menschen bezeichnete, der ne Runde Kippen spendiert, dich aber auch zur Sau macht, wenn du was verbockt hast und mit tief in die Stirn gezogenen Tschapajew-Brauen so eine Wahnsinns-Lebensweisheit raushaut. Nein, so sah mir Noide nicht aus. Schon gar nicht mit diesem Taras-Bulba-mäßigen Batja-Batko. (»He, dreh dich doch einmal um, mein Sohn!«) Egal!
Ich musste den Muskelberg vor mir irgendwie ansprechen, deshalb schloss ich zu ihm auf und sagte: »Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
Er grunzte nur finster. »Ich bin Tschupryga.«
Zu gerne hätte ich geklärt, ob das nun ein exotischer sibirischer Vor-, Familien-, Spitzname oder vielleicht ein Titel war. Dann eben Tschupryga. Drauf geschissen.
Wir kamen in den Hof, umkurvten das Restaurant und steuerten auf die nächste Seitengasse zu. Ich musterte ihn genauer und stellte fest, dass sein Anzug nicht besonders schick war, das zerknitterte Hemd musste er auf dem Markt gekauft haben, irgendwo neben den Melonen. Seine Kleidung war ihm schnuppe, die zentralen Elemente der Semiose seiner Erscheinung waren der breite Rücken und das pockennarbige, hässliche, brutale Gesicht. Seine Frisur sah aus, als wäre sie kürzlich noch ein Igel gewesen, wie bei Schwarzenegger in Predator. Aber nun hatte jemand dem Igel ein Bein gestellt, er war wie ein Zaun in die Brennnesseln gestürzt und hing jetzt in die Stirn wie der Schirm einer Schiebermütze. Eine eigenwillige Erscheinung, hätte gut ins Nachtleben der Kurilen gepasst.
Wir näherten uns einem klobigen schwarzen Jeep. Tschupryga klopfte seine Taschen ab, hüpfte (bestimmt hat sich dabei die Erdfeste eingedellt, und irgendwo auf der anderen Hälfte der Kugel, direkt unter Moskau, ist jemandem der Putz von der Decke gerieselt), aber da war nirgends ein Schlüssel. Also zog er einfach die Autotür auf und, tatsächlich, der Schlüssel steckte natürlich im Zündschloss – die Lässigkeit der Raubtiere in der Überzeugung, ihr Auto würde sich eh keiner zu stehlen trauen. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und winkte mich auf die andere Seite ans Steuer.
Das in Leder gehaltene Wageninnere überraschte mit einem erlesenen zitronigen Ockerton. Tschupryga erzählte mir was von Turbolader und vom Null-auf-hundert-Wert, den ich sofort wieder vergaß, erklärte, er hätte ein Automatikgetriebe, deshalb sollte ich »erst mal im Stehen rumfummeln«, denn da, wo beim Rosenbaum der Erste war, sei hier der Rückwärtsgang. Ich drehte den Zündschlüssel, der Motor begann zu grummeln, und das Armaturenbrett wurde leuchtend lebendig. Da fiel mir etwas ein und ich drehte den Schlüssel zurück.
»Ich fahr nirgendshin. Ich kann nicht.«
»Was?« Nein, nicht so deutlich, es klang wie: »Hass?«
»Ich hab den Führerschein nicht mit. Ich bin ja heut zu Fuß unterwegs, nicht mit dem Rosenbaum. Ich mein, nicht mit dem Lada.«
»Ach so.« Tschupryga winkte ab. »Mach dir nicht ins Hemd und gib Gas. Dich hält keiner an. Dieses Auto wird wie alle unsere Autos nie von irgendwem angehalten. Und wenns dich beruhigt: Die Papiere sind im Handschuhfach.«
Ich startete erneut, er legte einen winzigen Schlüssel auf die Ablage, der nicht an den Kanten eingekerbt war, sondern auf den Längsseiten, ein unbeschrifteter Schlüssel, nur ein Stück Metall, legte ihn hin und befahl: »Verstecken.«
Ich steckte ihn mir in die Tasche.
»Sag mir die Adresse.«
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und musste feststellen, dass ich mich nicht erinnern konnte. Das Monstrum wieherte los.
»Sauber losmarschiert, Kampfsau! Mann, so ein Penner! Na los, hau rein!«
Er drückte auf den Navi-Knopf, dort leuchtete die angelegte Route nach Scheremetjewo auf, eine zweite, von Scheremetjewo in die Uliza Planetnaja war auch schon gespeichert.
»Siehst du? Alles da. Was du nicht im Kopf hast, musste bei der Technik holen.«
Ich grinste säuerlich und trat aufs Gas, um zu signalisieren dass ich fahrbereit war (und seine Gesellschaft mir unsympathisch). Tschupryga konnte es gar nicht erwarten, mir die Nächste reinzuwürgen. Offensichtlich war seine Schule, die ihn von einem freien Tier in ein Rädchen der Gesellschaft verwandelt hatte, die Armee gewesen. In der Armee hatte er gelernt, Ranghöhere zu respektieren, pünktlich anzutreten und sich schneller anzuziehen als ein Streichholz abbrennt. Seine Lehrer waren keine Pädagogen, sondern Altgediente und Feldwebel, die ihren Schülern die existenziellen Wahrheiten mit Knobelbechertritten in die Rippen nahebrachten. Ich dachte: Da werden die Studierenden von der Angst vor der Armee an der Uni gehalten, aber selbst wenn sie von der Alma Mater fliegen, die sie mit der süßen Milch der Unterwerfung genährt hat, finden sie sich nicht in der Freiheit wieder, sondern in einer weitaus grausameren Unterwerfungsakademie – der Armee. Geschaffen für die »Krassen«, diejenigen, die ihren Profs die kalte Schulter gezeigt haben, die es von Anfang an nicht in die Hörsäle gezogen hat, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Gewaltsam werden sie in die engen Reihen derer geprügelt, die um neun in die Büros marschieren und dort, in ihren Büros, dann sitzen bis um fünf. Wenn sie denn überhaupt in den Büros landen nach der Armee. Nicht mal so unwahrscheinlich, dass sie sich, wenn sie dort landen, als Wachleute vor den Büroeingängen langweilen.
Er sah Frischfleisch in mir und sich selbst als Altgedienten, und der Drill in ihm wollte erniedrigen, besser noch zuschlagen, Veilchen verteilen, mich mit der Zahnbürste zum Kloputzen schicken, aber ich gehörte ja nicht so richtig in seine Kreise, mit mir hatte ja Batja so respektvoll gesprochen. Ich wurde ja nicht in der Armee gebrochen, sondern im Hörsaal und dann, wieder und wieder, während der Aspirantur, bei der Verteidigung meiner Diss und so weiter. Deshalb blieb ihm, Tschupryga, nur das Zähnefletschen und Verulken und mir ein schiefes, leicht pikiertes Lächeln.
»Also, sieh zu, dass du nix kaputt machst. Ein Mercedes GLK ist kein WAZ 2015.« (Hahaha, zu komisch!). Und als Dreingabe: »Und immer Abstand halten! Nicht wie letztes Mal.«
Ich nickte, den Blick starr geradeaus, um ihm zu zeigen: ja, alles verstanden und alles belacht. Tschupryga stieg aus, ging um das Auto herum und winkte, dass ich loslegen sollte. Und ich gab ordentlich Vorgas und preschte los. Preschte los, um diese feixende Visage hinter mir zu lassen, die zu wissen schien, was mich diese Nacht erwartete, und genau deshalb so hämisch grinste. Das Aas lachte trocken voller Vorfreude auf das zu erwartende hektische Gerödel des Studierten, und ich gab Gas, um meiner Angst davonzufahren, mir selbst zu entfliehen, dem kalten Schweiß am Rücken, den Zweifeln an meinem Tun. Ich raste dahin, unfähig zu begreifen, dass es auf der Flucht vor der eigenen Angst kein Entkommen geben konnte, wenn man die Route derer nahm, die einem diese Angst eingepflanzt hatten.
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