Revolution. Viktor Martinowitsch
zu tun. Ich konnte körperlich spüren, wie sich mein Bewusstsein trübte, konnte spüren, wie jemand anderes, vollkommen Verrücktes in mir erwachte. Und wenn sich nun die Tür öffnen ließ und ich mich ans Steuer setzen könnte, welchen Streich sollte mir meine Wahrnehmung dann noch gespielt haben? Wie könnten meine Schlüssel zu dem anderen Auto passen, das diese Illusion hervorgebracht hat? Der Schlüssel glitt problemlos ins Schloss, ließ sich drehen, und die Tür sprang auf. Sogar der Geruch drinnen war derselbe, wenn auch vielleicht nicht ganz, wieder diese kleine Abweichung vom Bild, das in meinem Gedächtnis abgelegt war? Vom Bild, das die Halluzination minutiös hätte wiedergeben müssen? Ich setzte mich (noch zehn Minuten), legte die Hände um das Lenkrad (nein, das stimmte auch nicht ganz überein), griff nach dem Schalthebel, und da, da passte es auch nicht richtig. Der Griff war »getunt« mit einer Rosenblüte in transparentem Kunstharz. Meine Rose war blasser gewesen, wie verblüht, erloschen, diese hier war voller Saft und Kraft, als wäre sie eben frisch gekauft. Da plötzlich durchzuckte mich mit der eisigen Erkenntnis, dass auch dies ein Zeichen für meinen Wahnsinn, für mein unter der Belastung des bevorstehenden Gefängnisaufenthalts zersprungenes Bewusstsein war, eine Idee. Könnte ich nicht vielleicht in eine Zeitschleife geraten sein? Oder (immerhin bin ich Akademiker, also Lacan statt Stephen King) könnte der Mensch oder ein Individuum in Momenten extremer, krisenhafter Konzentration nicht in seiner Umgebung, in jener Welt, die ausschließlich in seinem Bewusstsein existiert, könnte er dort nicht eine gewisse Verfremdung bewirken, die ihn zeitlich zurückversetzt? Das würde den lebenden Rosenbaum erklären, das noch nicht verblühte Röslein, die andere Rostzeichnung (vielleicht hatte sie ja so ausgesehen, bevor sie zum x-ten Mal überlackiert worden war). Wenn Alkohol uns berauscht und Musik uns erfreut, nur aus unserem Gehirn heraus, kann dann nicht auch das Gehirn die Wirklichkeit verändern, wie es gerade lustig ist? Die von uns besiedelte Matrix umprogrammieren, um kritische Situationen für den Körper zu umgehen (natürlich nicht jedes Gehirn. Nur das gebildete, belesene, sich seiner selbst bewusste Hirn! Eines wie meines!)?
Die Milizionäre hatten unterdessen darauf reagiert, dass ich mich ans Steuer gesetzt hatte. Sie waren ausgestiegen, einer hatte sich gähnend in der Ausfahrt postiert und sein Holster aufgeknöpft, um deutlich zu machen, dass es kein Entkommen gab, sollte ich durchbrennen wollen. Sie führten sich auf, als säße ich tatsächlich in meinem Auto, als könnte ich es starten und wegfahren. Aber entweder gab es die Milizionäre nicht oder das Auto nicht (oder mich nicht, aber dann wird es ganz wild!). Ich bewegte meine Lippen und versuchte, hinter die Logik zu kommen, zu verstehen, ob ich wahnsinnig war oder genial. Ich versuchte sogar (aus Panik, vor Stress), die Milizionäre kraft meiner Gedanken fortzuspülen, mit einer weiteren Woge meiner gedanklichen Wirklichkeitsverfremdung, den abgerungenen Rosenbaum am fünften Tage auferstehen zu lassen (besser am dritten, dann würde Lada ihn, den auf dem Verwahrplatz gekreuzigten, zum Werbeträger machen: Der Erlöser ist da!)
Aber die Bullen verschwanden nicht, im Gegenteil, mit der Geschwindigkeit eines das Flachwasser durchkämmenden Haifischs kam der Pajero in den Hof gefahren, der den wiederauferstandenen Rosenbaum umgebracht hatte. Der rundgesichtige Sumotori stieg aus, kniff verwundert die Augen zusammen, entdeckte mich hinterm Steuer (er wunderte sich auch? Hatte er auch angenommen, der Rosenbaum gehörte in die Leichenhalle, in unsere Erinnerung? Dachte er auch an Halluzination? Oder sind diese Typen weniger reflexiv veranlagt?) und knüpfte ein Gespräch mit den Ordnungshütern an. Nach der Uhr blieben noch vier Minuten. Würde ich so in U-Haft gehen, mit Dachschaden? Ohne kapiert zu haben, wo dieses Auto herkam? Ob es mein Rosenbaum war? Der Sumotori erzählte den Milizionären etwas und maß mit seinen Handflächen ein Stück Raum, das für einen Schwanz, eine Brachse oder eine Pistole hätte stehen können. Ich drehte schnell den Zündschlüssel, um mir das Gehuste anzuhören, das sich von Greis zu Greis unterscheidet, und es klang tatsächlich anders. Zu massiv, wenn auch in der richtigen Lage. Als säße ich in einem Rosenbaum mit leerer Batterie, aber diese Batterie hier war nicht runter. Das war mein Rosenbaum, fünf Jahre bevor ich ihn gekauft hatte. So wurde man also verrückt.
Dann ging der Kassettenrekorder los. Aus den Lautsprechern kam ein Rauschen. Ich drehte am Regler, der die Lautstärke natürlich nicht regelte. Aus dem Rauschen, an der Stelle, wo eigentlich schon das »polem, polem, polem …« hätte beginnen müssen, über diesem Rauschen erklang plötzlich sonderbar klar, in einer Klarheit, die ich den alten Sowjetboxen gar nicht zugetraut hätte, eine Stimme. Eine trockene Männerstimme, ähnlich der Stimme meines Super-Ichs, meiner Angst und meiner Vernunft.
»Guten Tag, Michail. (Pause.) Wir wissen, dass Sie in Schwierigkeiten sind. (Erneute Pause, diesmal länger.) Wir sind Ihre Freunde. Wir wollen Ihnen helfen. Es steht Ihnen frei, unsere Hilfe anzunehmen oder sie auszuschlagen. Im Kofferraum liegen fünfzigtausend US-Dollar. (Pause mit feierlichem Unterton.) Steigen Sie aus dem Wagen. Öffnen Sie den Kofferraum. Nehmen Sie das Geld. Wenn Sie das Geld anrühren, gehen wir davon aus, dass Sie bereit sind, unser Freund zu sein.«
Und nicht ein Wort darüber, zu welchen Konditionen mir diese fünfzigtausend überlassen werden. Nicht ein Wort darüber, wer sie waren, diese Freunde. Die Nachricht war stümperhaft verfasst, aber der wichtigste Satz – das mit den fünfzigtausend – war drin. Nichts anderes hätte ich jetzt, in diesen zwei Minuten (anderthalb nur noch, da der Sumotori die letzten Worte an die Polizisten gerichtet hatte und seine Schritte gemütlich, ohne Hast, in meine Richtung lenkte) noch gehört. Trotzdem saß ich bloß da und wartete, sagte sogar etwas (peinlich, das zuzugeben), wie ein Vollidiot, der mit dem Fernseher redet. Sagte etwas, zum Rekorder gebeugt, als hätte dieses sowjetische Riesenbaby eine eingebaute Videokamera mit Skype-Verbindung. Sagte: »Wer sind Sie?«
Und er antwortete mir, durchaus kreativ übrigens, indem er mir eine lange zerkaute Magnetbandnudel ins Gesicht spuckte, und das Band ergoss sich knisternd über den Sitz, und ich drückte auf »Stopp«, obwohl ich wusste, dass »Stopp« nicht funktionierte. Der Kopf knirschte gegen die Kassette und zerbröselte sie (offenbar hatten sie das Gerät ein bisschen bearbeitet). Das ließ sich natürlich alles aufsammeln, aufwickeln, zusammenflicken, rekonstruieren und nachhören (nur in den frühen Filmen der Coen-Brüder schmeißen die Detektive Kassetten mit Bandsalat gleich in den Müll).
Aber wozu? Wozu, wo doch eh alles klar war: Freunde, Kofferraum, fünfzigtausend. Und der Sumotori noch zehn Meter entfernt. Sein Gesicht schon in einem breiten Shar-Pei-Lächeln schwimmend. Ich stieg hastig aus, bekam den Schlüssel nicht gleich ins runde Schloss, drehte ihn, riss die Klappe hoch und – reingefallen! Reingefallen! Der letzte Scherz des Pjotr Wikentjewitsch, oder was? Erst der Hoffnungsschimmer, der dich bald in den Wahnsinn treibt, und dann gleich der Genickbruch?
Ich hatte den gerippten Koffer mit Handschelle am Griff erwartet. Die stabile schwarze Plastiktüte. Den Kopierpapierkarton. Jedes denkbare Behältnis zur Aufbewahrung von Geld, das wir aus den Medien kennen. Aber im Kofferraum lagen auf einer leicht verschmutzten Gummimatte (genau wie seinerzeit in meinem Rosenbaum) ein kahler Ersatzreifen, ein in Kunstleder eingeschlagener Satz Schlüssel, ein rostiger Wagenheber und ein Verbandskasten.
Halt, Sekunde.
Die Instinkte meiner jugendlichen Shooter-Vergangenheit sprangen an (der Sumotori schnaufte schon neben mir, damit ich ihn schneller bemerkte). Der Verbandskasten bringt Minimum zwanzig Healthpunkte. Das rote Kreuz bedeutet, du kannst noch ein paar Monster abknallen, so war das von Doom über Heretic, wo schon die violetten Kolben diese Funktion übernommen hatten, dann in Hexen und so weiter. Duke Nukem, Half-Life – der Verbandskasten hatte Eingang gefunden in unsere Kultur des Wartens auf erlösende Hilfe. Man musste kein Semiotiker sein für diese simple, auf die grundsätzliche Tragik der Situation zugeschnittene Semiose.
Ich holte das dünnwandige Plastikgehäuse heraus, klickte die Schnallen auf (und wunderte mich schon über das Gewicht – der Koffer sollte anders in der Hand liegen, nicht so angenehm schwer, da waren doch nur drei Schachteln Tabletten, Stauschlauch und Spritze drin). Der Deckel flog von alleine auf, unter dem Druck der hineingestopften Bündel: fünf identische Packen, kreuzweise gebündelt, mit Banderolen mit Emblem und Siegel der Außenhandelsbank. Fünfmal zehntausend Dollar. Erstaunt, wie wenig Platz dieser Reichtum brauchte, wie knackig kompakt sich eine halbe Moskauer Wohnung im Verbandskasten einquartieren ließ, hielt ich die Zaubertruhe mit dem erlösenden roten Kreuz meinem Peiniger hin.
Er