Revolution. Viktor Martinowitsch
groß wie dieses Haus, während irgendwo ganz oben die Statuen der Arbeiter, Soldaten, Bauern und Architekten schwiegen, das Pantheon der Stalin-Götter. Vom Himmel blickten sie auf uns Ameisen herab. Wir setzten uns auf eine Bank, der Nacken wurde schon taub, und ich schwadronierte weiter, diese Architektur sei wie der Sozrealismus in der Malerei von Menschen geschaffen, die an etwas Lichtes, Machtvolles geglaubt hatten. Und dass man angesichts dieser Gebäude spüren könne, wie es sie gekickt haben muss. Die Schrecken jener Zeiten seien vergessen, und diese sich durch ganz Moskau bahnbrechenden Fugen erinnerten heute noch an ihre Träume.
Aber ich schaute dabei schon dich an, nicht mehr den Wolkenkratzer, und ich fand selbst dumm und zweitrangig, wovon ich sprach. Dann versuchten wir, ins Haus einzudringen, wurden aber grob, schier mit dem Besen, vom Hauswart vertrieben. Dieses Atrium-Hochhaus war nur für diejenigen, welche bestimmt, natürlich nicht für uns, ausgeschlossen, niemals, nie im Leben! Und die Zeit – trotz dieser meiner gedehnten Sekunden schritt die Zeit voran. Nächte kamen, die Tagseiten umzublättern. Tatsächlich, mag dich das Rieseln der Sandkörnchen noch so stark in seinen Bann schlagen, gehen sie früher oder später doch zu Ende.
Und ich fand nicht die richtigen Worte für dich. Ich wollte dir gar nichts sagen, Olja. Ich wusste nicht, wie mich von dir verabschieden. Die Zeit lief, und ich brachte diese Worte nicht über die Lippen: Gefängnis, U-Haft, Prozess. Sie waren meinem Kopf dermaßen fremd, dass sie sich nicht einmal in die richtige Reihenfolge (U-Haft, Prozess, Gefängnis) bequemen wollten.
Eine Stunde vorher war ich schon im Vierten des Fünfers, in unserem Abschiedszimmer, und startete meine Versuche, von dir Abschied zu nehmen. Ich hielt all meine verbleibenden Sekunden in der Hand und verschleuderte sie, nun war schon alles zu spät, es gab kein Halten mehr. Ich wusste, dass man dir meine Verhaftung noch x-mal erklären, dir alle Details dieses nie begangenen Verbrechens offenbaren würde, die auch mir unbekannt waren – bei Verhören, zu denen sie dich als Zeugin laden würden, aber jetzt musste ich dich einfach in den Arm nehmen und etwas zum Abschied sagen.
Ich brummelte, wir hätten keine Milch mehr, du entgegnetest, wir tränken doch gar keine Milch, aber ich beharrte weiter auf meiner Milch und schlüpfte in die bereitgelegten Klamotten, die zu warm waren, viel zu warm für diesen von der Frühlingssonne erwärmten Abend. Auf diesen Abend sollte die Nacht folgen, eine Nacht in der unbeheizten Zelle, feucht, aber nein, nicht daran denken, sich nur anziehen und dich dabei ansehen. Du amüsiertest dich köstlich und sagtest, du würdest mich begleiten bei diesem sinnlosen Milchkreuzzug (hätte ich mir wirklich nichts Schlaueres ausdenken können?), aber ich flüchtete mich ins Gewitzel, klammerte mich an den Komikstrohhalm, witzelte mit bereits gramvoll verzerrten Lippen, Milch hole man nicht zu zweit, für diese Mission seien nur Einzelne auserwählt.
So ging ich, umarmte dich, zu fest für einmal Milch holen gehen und verstand bei dieser Umarmung: Liebe ist, wenn die Worte fehlen. (Wann sehe ich dich wieder? Gewähren sie mir ein Treffen vor der Urteilsverkündung? Besuchst du mich im Gefängnis? Verstehst du, dass es Verleumdung ist? Wer wird bei dir sein?) Ich beschreibe dir das alles, weil es an dir vorbeigegangen ist, ich war zehn Minuten weg und dann wieder zurück. Ja, ich kam zurück. Zusammengekrümmt, bereit für das Jüngste Gericht und doch nicht bereit, weil man dafür nicht bereit sein kann (ich wollte die Treppe hochrennen, die Tür aufreißen und sagen: »Ich gehe ins Gefängnis. Leb wohl«, aber ich konnte dir nicht Lebewohl sagen). Noch fünfzehn Minuten. Wie würde es aussehen? Würden sie auf mich zukommen? Oder müsste ich die Autotüre öffnen, mich auf die Rückbank setzen und die Hände vorstrecken, dass sie die Handschellen zuklicken können? Oder sollte ich das Ganze zur Farce verkehren und mit einem Shakespeare-Zitat einsteigen (nur kam mir nichts Passendes in den Sinn, ich konnte ja schlecht mit »Die ganze Welt ist Bühne« ankommen wie ein Gangster mit drei Klassen Schulbildung und das »pair of star-crossed lovers« wäre zu hoch für sie), ulken und frotzeln? Aber wozu Pläne schmieden, wenn alle Pläne mich betreffend schon längst fremdgeschmiedet sind? Ich riss die Haustür auf und sah den typischen Geländewagen, in dem der Chef, der Dicke am Steuer, mit großer Geste auf die Uhr sah (noch dreizehn Minuten in dieser Welt).
Ich sah Olja, die echte, im flauschigen Anzug, wie sie mir ihren Busen antrug, mit oriflame-glänzendem Gesicht, wie sie mich ihr folgen hieß, die Wasserleitung durchputzen, bitte, bitte, in fünf Jahren ist sie ein altes Weib!
Ich sah das erste Grün durch die feuchte, fette Frühlingserde brechen.
Ich sah den Himmel, den es so reichlich gab in unserem mit den immer gleichen Fünfgeschossern vollgestellten Stadtviertel.
Ich sah den immer noch ungerösteten Ostankino-Turm seinen Mittelfinger himmelwärts recken.
Ich sah den Rosenbaum stehen, wo ich ihn immer abstellte.
Ich sah …
Moment …
Ich sah den Rosenbaum stehen, wo ich ihn immer abstellte.
Leicht angerostet, aber durchaus funktionstüchtig.
WIE DAS? Der Greis, vielmehr seine zerquetschten Überreste, die abgerissenen Extremitäten und der zertrümmerte Kopf lagen jetzt in der Leichenhalle namens »Verwahrplatz der Verkehrsmiliz«. Seine unversehrte, nicht eingedrückte Kühlerhaube erinnerte an einen ausgefallenen Oberkiefer, vom Schädel selbst war ja nichts mehr übrig. Der Kühler Schutt und Asche, die Batterie über den Motorblock verspritzt, der Motor selbst verdreht und durch den Stabilisator gebrochen auf dem Asphalt, das Heck mit dem Kofferraum zur Ziehharmonika gefaltet und angehoben vom zweiten Aufprall des Jeeps, die Fahrzeugsäulen verformt, als wäre das Auto lediglich ein Modell aus dünnem Papier, einseitig verzogen von einer Kinderhand. So hatte ich ihn zuletzt gesehen, deshalb erschien er mir nun seltsam eingetrübt, wie er da vor mir stand – aufrecht, ältlich, mit Rostflecken (alle, wo sie hingehörten). Alle Scheiben heil, der gute alte Rosenbaum. Ich fasste mir unwillkürlich an die Stirn mit der inzwischen von einer rauen Kruste überzogenen Schramme, dem einzigen Beleg dafür, dass der Unfall, der meinen Rosenbaum das Leben gekostet hatte, auch außerhalb meiner Fantasie stattgefunden haben musste. Die Wunde war noch an Ort und Stelle, sie brannte. Was war das für ein Irrsinn? Kein Unfall? Was wollte dann die Miliz hier? Oder sah die nur ich? Andrjuscha hatte mich diese perzeptive Skepsis gelehrt, die Phänomenologen oder Freunde von Phänomenologen, die regelmäßig mit Phänomenologen tranken, auszeichnete: Wie sollte man seinen Sinnesorganen trauen, wenn es keinerlei Beweise dafür gab, dass sie die Angaben der Wirklichkeit korrekt »abbildeten«? Wenn es keine Beweise dafür gab, dass Schwarz tatsächlich schwarz war? Unser Weiß könnte ja eine kollektive Störung des Homo sapiens sein. Libellen sehen anstelle von Weiß zum Beispiel Violett. Aber was ich vor mir sah, war weder weiß noch violett, sondern kaffeebraun. Und dieses Kaffeebraune war der Rosenbaum. Und ein Stück hinter dem Rosenbaum, der bei einem Autounfall unwiderruflich sein Leben gelassen hatte, stand der Wagen mit den Milizionären, die erst infolge dieses Unfalls aufgetaucht waren. Der Wagen, den auch du gesehen hattest, da du mich hattest zu ihnen schicken wollen, also waren diese Milizionäre keine Ausgeburt meines kranken Kopfes. Also hat es entweder den Unfall nie gegeben, und die Miliz dürfte nicht hier stehen. Oder, was wahrscheinlicher ist, der Unfall war echt, und ich trage sein Mal auf der Stirn. Dann kann hier unmöglich, weder phänomenologisch noch semiotisch oder idiotisch, dann kann hier einfach nicht der ins Jenseits abberufene Rosenbaum stehen.
Ich umrundete das Auto (die Zeit lief), um mich davon zu überzeugen, dass das eine Halluzination war, logisch, kein Zweifel, dabei war sie nicht ganz perfekt. Die Rostspur an der rechten Hintertür des Rosenbaums hatte sich in zwei Arme geteilt, die oberhalb des Griffs in einen kleinen See eingemündet waren, während hier nur ein Rostrinnsal floss, ganz am Rand, das eher etwas von einem Meerbusen hatte – sonderbar, nicht? Kann man von einer Halluzination das genaue Abbild des Objekts erwarten, das sie nachzuahmen versucht? Schließlich existieren sowohl Objekt als auch Halluzination ausschließlich in meinem Bewusstsein, das Original als Erinnerung und die illusorische Kopie als ein in dieses Erinnerungsbild verstricktes taktiles, sensorisches Spiel. Wieso also diese Diskrepanz? Und was tue ich jetzt »im wirklichen Leben«? Alles für die Miliz? Stiefle ich hier um ein fremdes Auto herum? Einen zufälligen dunkelblauen Lada?
Moment, das ließ sich überprüfen, ein Blick auf das Nummernschild sagte mir, dass er es war. Also doch keine Halluzination? Wobei,