Revolution. Viktor Martinowitsch
verstanden.«
»German, Michail Alexejewitsch?«
»Ja, am Apparat.«
»Hier Abteilung Inneres. Wir haben da eine Anfrage aus der städtischen Staatsanwaltschaft.«
Beim Wort »Staatsanwaltschaft«, nein, schon bei der »Abteilung Inneres«, schrillte natürlich alles in mir, und die zahnlose Aussprache der Frau war plötzlich glasklar, krallte ich mich doch in jede einzelne Klangfärbung.
»Wo ist denn jetzt Ihre Wohnanschrift?«
»Ich wohne unter der Anschrift, bei der Sie angerufen haben«, sagte ich. »Hier, in dieser Wohnung.«
»Aaah, verstehe. Weil sie hier zeitweise auf eine andere Adresse gemeldet sind. Da haben sie nicht gewusst, wo Sie im Zweifel zu finden sind.«
»Verzeihung, aber seit wann überprüft denn die Abteilung Inneres die Meldeadressen der Bürger?« Ich war eher erschrocken als erregt. Meine Registrierung hatte ich mir wie die meisten eingeborenen Moskauer auf ein Inserat in der Zeitung »Von Hand zu Hand« hin für fünfzig Dollar das Halbjahr gekauft.
»Was schreien Sie mich so an?«, brauste die brünierte Stimme merklich auf. »Wir sollen prüfen, also prüfe ich. Wohnen Sie, wo Sie wollen. Hauptsache, die Staatsanwaltschaft weiß, wo Sie im Zweifel zu finden sind.«
»Im Zweifel?«, wiederholte ich stumpfsinnig.
»Im Bedarfsfall«, schloss die Frau friedfertig und legte auf.
Ich ließ mich an der Wand zu Boden sinken, kühlte runter, hielt inne, »im Bedarfsfall«, hatte sie gesagt, »Anfrage aus der Staatsanwaltschaft« … Die Tür knarrte, du kamst aus dem Schlafzimmer, verschlafen, aufgeweckt vom Klingeln des Museumstelefons, und wenn du nun gefragt hättest: »Wer hat denn angerufen?«, hätte ich mich bestimmt ereifert, dass sie angerufen haben, um meine Meldeadresse zu überprüfen, dass unten die Bullen stehen, dass sie mich in vier Tagen holen werden, dass das alles wegen ein paar abgedrehter MdI-ler passiert ist, die im Jaguar mit Begleitschutz unterwegs sind; und wäre wohl, hätte ich dir das erzählt, alles Weitere überhaupt geschehen? Oder hätten sie die Finger von mir gelassen, da sie einsehen mussten, dass ich dir alles erzähle und dies nicht ihren Erwartungen an mein Verhalten entsprach, an mein Porträt, an »den, den sie brauchten«?
Aber du kamst aus der Tür, und statt der vorgefertigten Antwort auf deine Frage »Wer hat angerufen?«, der Antwort, die mit den Worten »Die Staatsanwaltschaft sucht mich« angefangen hätte, lächelte ich dich an. Weil du, anstatt auch nur ein Wort zu sagen, mich anlächeltest, zerzaust wie ein aus dem Winterschlaf aufgestörtes Tier, schwankend, so kamst du auf mich zu und setztest dich mir auf den Schoß. Du legtest deine Arme um mich und wolltest wieder einschlafen, aber ich wimmelte dich ab wie ein Kind und schlug vor, einen Kaffee zu trinken, und du dämmertest weiter vor dich hin, während ich versuchte, dein Ballett mit der unsichtbaren Allegro-Maschine nachzutanzen.
Und ein bisschen Semiotik: Als wir Kaffee tranken, hingefläzt auf das Sofa, und ich ironisch war und du träge, lief dort in der Nachrichtensendung ein Beitrag zum Geburtstag eines gewissen Alexej Borissowitsch Noide. Der Beitrag, in dem ein greiser Opa, aus unerfindlichen Gründen sitzend, herumwuselnde Bienen beräucherte, hatte damals für uns keinerlei Bedeutung. Doch später, Olja, sollten in meinem Leben eine ganze Reihe von Ereignissen eintreten, die jedes Detail dieses Beitrags zu einem Zeichen werden ließen. Wir lernen daraus, dass die Semiose sich bisweilen auch in sinnlosen Fernsehnachrichten ereignen kann.
Hier will ich dir ins Gedächtnis rufen, was in dieser von uns in der trägen Mittagsstunde gesehenen Sendung gesagt wurde, und die nachfolgenden Seiten werden dir erklären, weshalb das wichtig ist. Die Semiose, Olja, ereignet sich durch die Vereinigung der Information, die ich dir hier gebe, mit derjenigen, die du noch wirst herauslesen müssen.
Der Opa, dessen Alter schon so fortgeschritten war, dass sie es kokett unterschlugen, obwohl doch der alleinige Inhalt der Nachricht in seinem Geburtstag bestand, war mit den Bienen zugange, schaute in die Kamera, drehte seinen Kopf (offenbar auf Ansage des Regisseurs) zur Seite, zeigte sein hageres, biblisches Profil, und eben in jener Pose setzte das Erkennen ein, entstand die Relation zu den ungelenken, schwerfälligen Gestalten, die uns dereinst vor Ewigkeiten vom Mausoleum aus monumental zugewinkt hatten. Und eine sich überschlagende männliche Stimme verkündete, wir hätten Alexej Borissowitsch Noide vor uns, den letzten GenSek der UdSSR, den Mann, der die Perestroika initiiert hatte, noch bevor der andere, kahlköpfige, umtriebige Typ sich einmischte, der mit der Grammatik auf Kriegsfuß stand und sich der Bevölkerung vor allem mit seinem jedes vernünftige Maß übersteigenden Antialkoholgesetz eingeprägt hatte. Und dieser hinfällige Patrizier hier hätte seinerzeit eigenhändig »um der zukünftigen Demokratie willen« auf den ihm vom damals bereits in Auflösung befindlichen ZK angetragenen Posten des »ersten Präsidenten« verzichtet. Die Reporterphrase lautete: »Alexej Borissowitsch Noide könnte heute noch regieren, so wie manch andere« (ein Seitenhieb auf mein armes, armes Heimatland, keine Frage, denn Seitenhiebe auf andere, näherliegende Beispiele, sind im Staatskanal für uns undenkbar, nicht wahr, Olja?). »Aber er stand über seinen Ambitionen.« Jetzt macht er bei sich auf der Datsche in Bienen (das Honigthema gab visuell nicht viel her, der Alte drehte Rähmchen hin und her, hielt sie gegen das Licht, nahm Geschmacksproben, kurzum, sie hätten ihn besser irgendwo im Säulensaal im Haus der Sowjets gefilmt und nicht in dieser komischen Pastorale). Und der Reporter sprach von »Entsagung«, von »Selbstlosigkeit« und den »stillen Freuden des Lebens«, und es war schon zu spüren, dass sein kulturelles Niveau ihm den Vergleich regelrecht aufzwang: den Vergleich (die anderen wissen’s ja nicht!) des »heroischen« Machtverzichts des Alten mit der Geschichte, die der Schlosser Goscha im Film Moskau glaubt den Tränen nicht erzählt, vom römischen Kaiser Diokletian, der auf den Thron verzichtet und sich in die Landwirtschaft zurückzieht. Und als Diokletian gefragt wurde, warum er abgetreten sei (hier hob Goscha die Stimme wie vor der Pointe eines guten Witzes, damit auch alle lachten), antwortete er: »Ihr müsstet mal sehen, was bei mir für Kohlköpfe wachsen!«
Noch scharwenzelte der Reporter herum, kam ins Straucheln, kein Verweis auf Moskau glaubt den Tränen nicht, sondern von sich aus, mit einem Dreher in Diokletian, den er »Dialektian« nannte, dieses Kohlkopfzitat, aus dem Munde eines Medienpropheten mit rosigen Wangen, großer Gott, welche Weisheiten tragen uns die Mikrofonträger des Ersten Kanals zu! Dass der gärtnernde Diokletian vor seiner Abdankung eine Diktatur errichtet und die Grundlagen für das Dominat und die gesamte römische Spätantike gelegt hat, das muss doch auf Wikipedia zu finden sein! Aber wir unterrichten Geschichte ausschließlich nach dem Film Moskau glaubt den Tränen nicht!
Nach Diokletians Kohlköpfen ein leichtes Nicken und der Rückpass ans Studio mit einem samten gehauchten: »Mariana?«
Hier halten wir unser Fernsehprogramm an, obwohl wir an diesem Mittag noch ziemlich lange auf dem Sofa herumgelegen haben. Und der Umstand, der diesem unserem Herumgewälze einen Sinn verlieh, war die Tatsache, dass unten vor unseren Fenstern ein Fahrzeug mit in semiotischen Fragen völlig unbedarften, mit der ihnen aufgetragenen Semiose fremder Leben dagegen bestens zurechtkommender Ordnungshüter stand.
Drittes Kapitel,
in dem ich in eine Zeitschleife gerate und all meine Probleme sich auf höchst überraschende Weise auflösen
Jeden Tag zerstückeln in vierundzwanzig Stunden. Jede Stunde in sechzig Minuten. Jede Minute in sechzig Sekunden. Eine Sekunde – das ist so viel! Eine Sekunde dein Aroma einatmen, würzig, aus tausend Blüten gemischt. Eine Sekunde ausatmen, in dein Ohr, deine Halsbeuge. Eine Sekunde deine Haut betrachten, eine Sekunde, in der du dich umdrehst, diese Sonne in den Augen, Aprilsonne, und wir spazieren am Puschkindenkmal vorbei, und du, du bist da, sagst etwas, nicht zu verstehen, wenn man sein Leben so lebt, in Sekunden, im Storyboard-Modus, jede Szene ein Kunstwerk, nach jeder Szene kann der Tod nicht mehr schrecken (der Tod ist ja überhaupt nicht schrecklich, schrecklich ist das Gefängnis, weil niemand genau weiß, was Gefängnis bedeutet, und wer wieder rauskommt, ist irgendwie nicht mehr ganz Mensch, spricht eine andere Sprache, und diese halb menschlichen Überlegungen über