Ich bin Virginia Woolf. Pola Polanski
sich wieder ein Terrorist in die Luft gesprengt hatte, splitterte plötzlich mein Hirn in winzige Kristalle. Ich stand gerade in der Küche und wollte das Geschirr in die Spülmaschine räumen. Der Klang von zersplittertem Glas. Dabei hatte ich nichts zerbrochen. Ich hielt mir den Kopf, um die Eruption einzudämmen. Aber es half nichts. Die Splitter drängten vulkanartig nach oben. Um sie aufzufangen, hielt ich meinen Schädel über einen großen Topf, den ich gerade aus der Spülmaschine genommen hatte. Tatsächlich fielen alle Teile meines Hirns in kleinen Splittern in den Topf. Eine Stunde später hörte die Eruption auf, und ich stellte den Topf auf den Herd. Dann ging ich ins Bad und begutachtete meinen Schädel. Die Narbe, die ich vor dreißig Jahren bei einem Autounfall davongetragen hatte, und die fast verschwunden gewesen war, hatte sich wieder eitrig rot verfärbt. Ich ging zurück in die Küche. Die gallertartige, zähe Flüssigkeit waberte vor sich hin. Wie konnte es sein, dass durch einen IS-Bericht im Fernsehen mein Hirn eruptiert hatte? Ich verstand nichts mehr. Ich stellte die Kochplatte auf volle Stärke, gab etwas Fleischwürfel dazu und kochte mein Hirn dreißig Minuten lang. Als die Suppe fertig war, setzte ich mich, und löffelte die Suppe noch mal dreißig Minuten lang in mich hinein. Dann wurde ich müde und legte mich ins Bett. Am nächsten Morgen läutete es. Ich war noch nicht ganz wach, und die Sache mit der Hirnsuppe war ganz weit weg. Also wankte ich zur Tür und öffnete. Es war der Nachbar mit einem Päckchen, das für mich abgegeben worden war. Auf dem Karton prangte das Symbol der IS-Flagge. Trotzdem nahm ich das Päckchen an und lief damit durch das ganze Stadtviertel. Ich spürte, dass meine Narbe zu einer riesigen Wunde geworden war und mir war klar, dass jeder sehen konnte, wie Blut und Eiter herausliefen...
Sie ließ das Buch sinken, streckte die Beine aus und nahm einen großen Schluck Champagner direkt aus der Flasche. Ihr Blick schweifte zuerst über den Parkplatz, wo Motoren aufheulten, bis sie in der Ferne das aufgewühlte Meer mit seinen tanzenden Schaumkronen fixierte. Nun ja, als sie den Text geschrieben hatte, war sie bekifft gewesen, und einen besseren Text hatte sie seither nicht zustande gebracht. Als ob sich diese ganze Kifferei abgenützt hätte wie ein alter, abgerubbelter Waschlappen, den man nur noch als Putzlappen benützt.
Sie zückte ihr Handy und postete als Status:
Ich habe viel zu viele Zähne... jetzt schmeißen sie das Zeugs auf die Gleise...
Immerhin ein Satz. Mehr nicht. Aber vielleicht half der Champagner? Die halbe Flasche war schon leer, und in ihrem Kopf summte eine Melodie von Nick Cave: „God is in the House“, summte weiter und immer weiter, bis ihr der Gedanke kam, dass sie insgeheim vor ihrem Bruder Rolande hierher nach Teneriffa geflohen war. Ihr verhasster Bruder, der Maman und Papá mit ihrem ausladenden, exzentrischen Leben nie verstanden hatte. Der ihr ständig ein schlechtes Gewissen einredete, weil sie nicht arbeitete, der genauso straight war wie ihr Großvater, der die Firma ganz im Sinne der preußischen Tradition erfolgreich aufgebaut hatte. Nach dem Tod der Eltern war der erste Satz, den Rolande gesagt hatte: „So, jetzt möbeln wir die Firma wieder auf, die Maman und Papá zugrunde gerichtet haben.“ Danach hatte sie sich aus Protest ihr rotes Naturhaar knallrot gefärbt und in ihre ausgewaschenen Leggins mehrere Löcher gerissen, während Rolande sich beim besten Herrenausstatter in Stuttgart zehn dunkelblaue Anzüge maßschneidern ließ. Bis in die halbe Nacht hinein las sie in einer Biographie über Virginia Woolf und in deren Roman „Orlando“.
Als sie am nächsten Mittag den roten Weg zu einem Strandrestaurant hinunterlief, das nicht zum Hotel gehörte, streckten blutgetränkte Kakteen ihre Köpfe gleich Stalagmiten aus der Vulkanasche. Inka bemerkte, dass die Sandale an ihrem linken Fuß scheuerte und sich bereits eine Blase gebildet hatte, die später im Meerwasserpool sicher ein Brennen verursachen würde. Ein ähnliches Brennen, wie sie es schon in der Magengegend verspürte. Sie zog im Gehen die Schuhe aus und hoffte, dass auch das Brennen im Magen verschwinden würde, was natürlich nicht geschah. Stattdessen breitete es sich wie die Rattenpest auch in Brustkorb und Genitalbereich aus, was sie noch schneller laufen ließ, um endlich in das Restaurant zu gelangen, wo sie ihre wirren Gedanken würde niederschreiben können. Zwei lange Sätze, die genau in der Art konstruiert waren wie jene Sätze, die Virginia Woolf geschrieben hatte. Als das Restaurant in Reichweite war, hatte sie auch Brandblasen an den Füßen. Der Asphalt war heiß wie Lava. Sie ließ sich mit einem Plumps auf den weißen Plastikstuhl fallen und kramte in ihrer Tasche, auf der ein Strass-Totenkopf appliziert war, nach Stift und Notizbuch, um endlich ihre zwei Sätze niederzuschreiben. „Während sie den roten Weg...“ Plötzlich stand ein Ober in weißem Leinenanzug vor ihr. Inka hatte nicht gehört, dass er etwas zu ihr gesagt hatte. Sie war so versunken gewesen in ihre Gedanken über Grammatik, Wortfindung, Metaphern und die Vermeidung von überflüssigen Adjektiven, dass er sie ein zweites Mal laut ansprach. Und plötzlich waren ihre Sätze weg. Einfach weg! Aus ihrer Erinnerung getilgt. So stand auf dem weißen Blatt nur: „Während sie den roten Weg...“ Tränen schossen ihr in die Augen, Zornestränen, und das Brennen breitete sich jetzt auch in ihrem Kopf aus. Sie war sich sicher, wie Virginia Woolf an einer Geisteskrankheit zu leiden. Sie zerknüllte das Blatt Papier, leerte drei Gläser Weißwein in sich hinein, um dann schwankend und mit schmerzenden Blasen an den Füßen zum Hotel zu humpeln. Dort sank sie auf die erstbeste Liege am Pool, wo sie, ohne einen einzigen Satz vollendet zu haben, wie ein Baby zum Zwitschern der Spatzen einschlief.
Als sie erwachte, zückte sie ihr Handy und postete auf Facebook:
Wind kommt auf. Die Rosen nicken hämisch. Spatzen hinken durch das Grün, und ich bade und bade in Calendula.
Gegen Abend verließ sie trotz der Blasen an den Füßen das Hotel, da sie die blöden Amüsements nervten. Dieses Verdummungsprogramm schien ihr der diametrale Gegensatz zu den Totenköpfen auf ihrer Tasche und ihrem T-Shirt zu sein. Zum Glück gab es in Reichweite des Hotels noch ein nettes Restaurant. Sie setzte sich an einen beliebigen Tisch und bestellte Muscheln in Weißweinsauce, dazu einen Rotwein. Muscheln waren ihr Lieblingsessen, da sie die Verdauung anregten. Verdauung, das bedeutete dünn bleiben, bedeutete Reinigung und gesund bleiben. Der Ober brachte Rotwein, Servietten, Besteck und Brot. Sie legte die Serviette auf ihren Schoß, doch während der Ober das Essen servierte, musste sie aufpassen, dass der Wind sie nicht wieder wegwehte. Sie legte die Serviette wieder auf den Tisch, da sie das Ding noch brauchen würde, um sich den Mund abzuwischen. Aber nichts war gut. Während sie die Muscheln aß, versuchte sie, die Serviette mit dem rechten Handballen auf dem Tisch festzuklemmen, um sie am Fortfliegen zu hindern. Doch dieses komische Ding hatte irgendwie ein Eigenleben und würde jeden Moment wie eine Möwe in die Luft entschwinden. Und tatsächlich: Als sie kurz die Hand anhob, flog es davon, und auf ihrem Schoß landete eine Muschelschale. Wie ärgerlich. Großvater hätte sie jetzt gerügt. Er war der einzige Mensch in ihrem Leben gewesen, der sie ab und an zurechtgewiesen hatte. Um der Peinlichkeit zu entgehen, sah sie von ihrem Teller auf. Links leuchteten die weißen Häuser gegen den schwarzen Himmel. Auf der anderen Seite war der Horizont weiß und die Palmen davor schwarz. Welch ein Schauspiel. Sie hoffte auf ein Gewitter. Doch zuerst musste sie dringend aufs Klo. Eilig zahlte sie und wankte unter Schmerzen in die Hotelhalle. In der riesigen Eingangshalle des Hotels, wo es nach billigem Parfüm stank, Kaufhausmusik aus den Lautsprechern dudelte und silberne Sofas nicht zum Sitzen einluden, bog sie zum allerheiligsten Örtchen ab und war froh, dem Gestank von billigem Parfüm entkommen zu sein.
Zurück auf ihrem Zimmer konnte Inka nicht mehr schreiben. Sie war müde. Die Worte hingen herum wie zerrissenes Papier und wollten sich nicht zu Sätzen formen lassen. Sie horchte in sich hinein. Da war nichts, und auch das Gewitter war nicht gekommen. In der Nacht wurde sie vom Regen geweckt. Sie setzte sich auf und versuchte, ihre Füße auf den Boden zu bringen. Die Brandblasen entfachten ein Feuer unter ihren Sohlen, und Inka tappte vorsichtig im Dunkeln zum Fenster. Doch es regnete gar nicht. Das Geräusch kam von einem Brunnen im Garten. Er würde die ganze Nacht für sie regnen.
Am nächsten Tag saß Inka in einem Restaurant am Meer. Während der Glutball Feuerpfeile auf sie herabsandte, schaute sie träge in die Brandung, die in ewigem Hin und Her mit weißen Zungen den Lavasand leckte. Plötzlich bemerkte sie jemanden in ihrem Rücken. Ein angenehmes Kribbeln durchfuhr sie, sodass sich ihr die Härchen im Nacken aufstellten. Sie drehte den Kopf nach dem Ober, um noch ein Glas Wein zu bestellen und sah direkt hinter sich ein Lesben-Pärchen sitzen. Hinter ihrem Rücken! Die beiden trugen die gleiche Kleidung und hatten ihre Kappen ins Gesicht gezogen, unter denen