Ich bin Virginia Woolf. Pola Polanski

Ich bin Virginia Woolf - Pola Polanski


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Maman und Papá kümmerte die Sache mit dem Klavier wenig, doch Rolande, der auf alle seine Habseligkeiten sehr genau achtgab, war verzweifelt. Er hasste den Vogel wie die Pest, und Inka fragte sich oft, wann er ihm den Hals umdrehen würde.

      Im Gegensatz zu Rolande, den er überhaupt nicht mochte, liebte der Papagei Papá ganz besonders. Jedes Mal, wenn dieser telefonierte, kam er angeflattert und hängte sich kopfüber an die Stange des Telefontischchens, den Bauch nach oben gedreht. In demutsvoller Haltung legte er sich dann auf den Rücken, und Papá musste ihm mit dem Zeigefinger den Bauch kraulen. Wenn Rolande diese Szene beobachtete, kam ein gefährliches Grollen in sein Gesicht. Maman hingegen brach in Lachtränen aus und presste unter Kichern hervor: „Da haben sie uns wohl in Mexiko ein Weibchen statt eines Männchens verkauft.“

      Es war der 24. Dezember, Heiligabend. Wie immer hatte Maman die Osterdekoration herausgeholt, mit den Kindern Ostereier bemalt und den riesigen Stoffhasen dort platziert, wo an Ostern der Christbaum stand. Maman hielt nichts von Traditionen, weshalb sie einfach alles umdrehte: Weihnachten war Ostern, und Ostern war Weihnachten. Für die Kinder hatte sie bemalte Eier und Geschenke versteckt. Rolande hatte in einem Pflanzenkübel im Wintergarten eine Dampfmaschine gefunden, die er mit freudigem Grinsen ins Wohnzimmer trug. Papá half ihm, das Ding in Gang zu bringen. Im Grunde war Papá, ebenso wie Maman, noch ein kleines Kind. Er freute sich fast noch mehr als Rolande über die Dampfmaschine. Bald konnte man ein Zischen hören, und weißer Dampf entstieg der Maschine, nachdem Papá mit Esbit ein Feuer entfacht hatte. Das waren kleine, weiße Brennstoff-Tabletten, die Hexamethylentetramin enthielten. Monsieur Connard hüpfte aufgeregt um den Kessel herum, was ihm jedoch zum Verhängnis werden sollte. Als Inka am ersten Weihnachtsfeiertag morgens das Wohnzimmer betrat, lag Monsieur Connard reglos auf dem Rücken, die Beine weit gespreizt nach oben gereckt neben der Dampfmaschine. Er musste sich an den Dämpfen vergiftet haben. Die Dampfmaschine wurde daraufhin in den Keller verbannt. Für Rolande waren diese Weihnachten trotzdem die glücklichsten seiner Kindheit. Eine Riesenlast war von seinen Schultern gefallen.

      5

      Yr

      Inka erwachte mit dem Gedanken, dass heute eine Mathearbeit anstand, und da sie nicht dafür gelernt hatte, drehte sie sich noch einmal in ihrem Bettchen um und lauschte dem Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte.

      Die Vorhangschnur, die der Wind durch das gekippte Fenster bewegte, schliff geräuschvoll auf dem Sims hin und her. Sie konnte die Geräusche des erwachenden Hauses hören, denn im ganzen Haus gab es keine Türen. Maman hatte sie eines Tages alle aushängen lassen, damit, wie sie sagte, ewiger Friede in der Familie herrsche. Inka hörte, wie Rolande in der Küche die Kühlschranktür öffnete, um sich seine Milch über die Cornflakes zu gießen. Wie jeden Morgen bereitete er sich sein Frühstück alleine zu. Maman und Papá schliefen noch, da sie erst spät in der Nacht heimgekommen waren.

      Plötzlich flitzte Madame la Souris in Inkas Bettchen. Ihr war offenbar langweilig, da Maman noch nicht wach war. Seit einiger Zeit musste sie nachts nicht mehr in ihr Gehege und durfte sich frei im Haus bewegen. Für die Zeit, in der Maman nicht da war, hatte sich Madame la Souris Inka als Ersatz auserkoren. Das Äffchen patschte ihr mit der Pfote ins Gesicht, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Inka setzte sich im Bett auf, und Madame la Souris kletterte ihr auf die Schulter. Sie angelte nach ihren neuen, pinkfarbenen Leggings mit Totenkopfmuster, die Maman ihr aus Mexiko mitgebracht hatte. Dazu den giftgrünen Wollrock, der so gut zu ihren roten Haaren passte und ihre grünen Augen widerspiegelte. Schließlich noch den schwarzen Pulli, auf dem in weißen Lettern stand: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ Sie hörte, wie unten die Haustür zuschnappte. Rolande war auf dem Weg zur Schule. Er war der einzige in der Familie, der Disziplin hatte. Obwohl Maman immer zu ihm sagte, er könne ruhig zu Hause bleiben, wenn es ihm nicht gut ging, schleppte er sich auch mit einer schweren Erkältung in die Schule. Inka hingegen hatte sich entschieden, heute zu Hause zu bleiben, denn wenn sie diese Mathearbeit vergeigte, würde sie am Ende des Schuljahres durchfallen.

      In der Küche durchforstete sie den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Im oberen Regal standen fünf kleine, weiße Doggybags vom gestrigen Abendessen der Eltern. Offenbar waren sie beim besten Chinesen der Stadt gewesen. Inka freute sich. Ihr Mittagessen war gesichert, selbst wenn Maman wieder erst nach ein Uhr aufstehen würde. Rolande hatte auf der Küchenplatte geschnittenes Obst hinterlassen. Inka füllte es in zwei Schälchen und setzte sich an den Tisch. Madame la Souris sprang hinzu und begann ebenfalls genüsslich zu fressen. Nach dem Fressen war sie wie immer müde und verschwand in ihrer Baumhöhle, um dort den ganzen Tag zu schlafen. Maman hatte für sie einen Baum aus einer Gärtnerei bringen lassen, der in einem riesigen Topf stand und bis unter die Zimmerdecke reichte. Damit Madame la Souris kein Heimweh nach Madagaskar bekommt, hatte sie gesagt. Der Baum stand mitten im Wohnzimmer, genau an der Stelle, wo früher der Papagei gesessen hatte.

      Papá war um elf in die Firma verschwunden. Gegen eins kam Maman in ihrem grünen Bademantel ins Wohnzimmer, wo Inka in einem Buch las, das sie sich aus Mamans Bücherecke genommen hatte. Es trug den nicht gerade viel versprechenden Titel „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen“, doch es erzählte von einem Mädchen namens Deborah, die ihrer Wirklichkeit entfliehen konnte, indem sie sich eine Phantasiewelt mit Namen „Yr“ erschuf.

      Inka war so fasziniert von der Geschichte, dass sie kaum wahrnahm, wie sehr Maman sich freute, sie hier vorzufinden. Wie schön, dass sie heute Gesellschaft hätte! Endlich mal einer da. Kein Wort darüber, dass Inka offensichtlich die Schule schwänzte. Sie machte sich eine Kanne Kaffee und zündete sich ihre Morgenzigarette an.

      „Sag mal, was liest du denn da? Das ist noch nichts für dich, Inka. In diesem Buch geht es um Schizophrenie.“

      „Was heißt das, Schizophrenie?“

      „Eine Geisteskrankheit. Das ist nicht lustig, und du solltest so etwas nicht lesen. Bring mir lieber mein Tagebuch und meine Brille. Dann lese ich dir eine unserer Reisegeschichten vor.“

      Inka war gerade an einer spannenden Stelle und hatte keine Lust, das Buch wegzulegen. Doch Mamas Geschichten waren nicht weniger phantastisch als das, was Deborah in Yr erlebte. Also gab sie das Buch zurück und ging eine von Mamans vielen Brillen suchen, die überall im Haus herumlagen. Sie schnappte sich eine, holte das Tagebuch und brachte beides Maman. Die setzte sich die Brille auf und wollte gerade anfangen zu lesen, als sie die verschwommenen Buchstaben bemerkte. „Inka, das ist die falsche Brille. Such mal die mit dem grünen Rand.“

      Neben etlichen Lesebrillen hatte Maman auch ein paar Weitsichtbrillen für die Ferne. Inka hatte wohl eine von denen erwischt. Zwischen den Buchseiten des Bestsellers „Sorge dich nicht, lebe!“ von Dale Carnegie, der im Klo auf dem Fensterbrett lag, fand Inka schließlich eine Lesebrille, und Maman konnte mit ihrer Geschichte beginnen.

      Einmal waren Papá und ich auf der Südseeinsel Nuku Hiva in Französisch-Polynesien. Dort verliefen wir uns im Urwald. Es wurde immer dunkler und dunkler, bis schließlich die Nacht über uns hereinbrach. Wir liefen weiter und stolperten über Wurzelwerk, während aus dem Dickicht unheimliche Tierschreie klangen. Papá presste seinen Tropenhelm mit beiden Händen auf den Kopf, als ob er Angst hätte ..... Der Schein unserer Taschenlampen wurde immer schwächer. Plötzlich war lautes Rascheln zu hören. Wie versteinert blieben wir stehen, die Äste bogen sich auseinander, und im Schein unserer Lampen standen drei Männer mit brauner Haut, schwarzen Haaren und weißen Streifen im Gesicht. Völlig nackt! Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, dann gingen sie auf uns los. Sie fesselten uns die Hände auf dem Rücken und banden uns an zwei Bäumen fest. Nachdem sie unter lautem Geschrei mehrmals im Kreis um uns herumgetanzt waren, verschwanden sie so plötzlich wie sie gekommen waren zwischen den Bäumen.

      Ich flüsterte Papá zu, dass ich in einem Buch über Menschenfresser gelesen hätte. Die drei, die uns gefangen hielten, sähen genauso aus wie die. Sie würden uns wie Hühnchen grillen und dann verschmausen. Papá bekam es mit der Angst und fing an zu jammern. Das könne ja nicht sein, so etwas dürften sie nicht tun. Ich dagegen, was machte ich? Meine Finger konnte ich noch frei bewegen, sie reichten bis in meine Hosentasche. Dort hatte ich vorsorglich ein Nageletui mit einer kleinen Schere eingesteckt. Jetzt fingerte ich fieberhaft in der Hosentasche herum, bis es mir gelang, das Necessaire zu öffnen.


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