Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6. Inger Gammelgaard Madsen
Kriminaltechniker reichte. Ihr Augenkontakt dauerte einen Moment zu lang.
»Wenn jemand es weiß, soll er es bitte für sich behalten«, sagte der Techniker mit einem verschmitzten Grinsen, riss, nur widerwillig, den Blick von Natalie los und studierte wieder das Ergebnis seiner Aufnahmen.
Roland warf ihm einen irritierten Seitenblick zu; noch einer dieser Neuen, der nicht wusste, wann man besser seine Klappe halten sollte. Er hatte gehört, dass er Single war, mit einer Harley Davidson herumfuhr, an der er gern selbst herumschraubte, und Mitglied eines Motorradclubs war, der letzten Sommer eine Tour durch die Staaten gemacht hatte: Orlando-Los Angeles inklusive eines guten Stücks der Route 66. Ein junger Mann mit einem Hang zu grenzüberschreitenden Beschäftigungen. Roland vermutete, er war einer der vielen, die im Fernsehen von CSI fasziniert waren und sicher mit ihrem Job prahlten, um bei Ladys in der Disco zu landen. Falls man mit der Art Job irgendwo landen konnte.
Er schaute nach unten in das feuchte Grab, wo einer der Friedhofsgärtner ihn entdeckt hatte.
»Wann ist er gestorben?«, fragte er weiter. Die üblichen Fragen, über die die Rechtsmediziner allmählich die Augen verdrehten, weil sie sie meistens nicht vor einer Obduktion beantworten konnten, und das wussten die Ermittler ganz genau. Aber Natalie war neu und unternahm trotz allem einen Versuch, damit Roland mit seiner Arbeit beginnen konnte.
»Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt. Es war eine verhältnismäßig milde Nacht, aber feucht …« Sie schob die Ärmel ihres Anzugs hoch und schaute auf die Uhr. »Ich würde sagen, der Tod ist vor ungefähr sechs Stunden eingetreten. Vor Mitternacht. Es sei denn, hier wäre die Rede von kataleptischer Totenstarre. Aber ich werde versuchen, das ein bisschen weiter einzugrenzen, wenn ich ihn auf dem Tisch liegen habe.«
Leander warf ihr ein diskretes anerkennendes Lächeln zu, das von dem weißen Schnurrbart beinahe verdeckt wurde. Er konnte seinen Ruhestand unbesorgt fortsetzen; sein alter Job war in guten Händen.
»Sieht aus, als wäre es ihm gelungen, den Sargdeckel abzuschrauben. Was er wohl vorhatte?«, sagte Natalie nachdenklich.
Roland trat über die Erdhaufen, die entlang der Grabränder aufgehäuft worden waren, und bog die Zweige eines Wachholderbusches zur Seite, sodass er den Namen auf dem Stein lesen konnte.
»David Lund Iversen. Er ist vor zehn Tagen gestorben und nur achtzehn Jahre alt geworden.«
»Das muss wohl ein Familienmitglied sein. Aber warum wollte er ihn ausgraben?« Natalie war wieder ins Grab geklettert und stand auf dem Sargdeckel.
»Vielleicht war er psychisch krank. Ob er wohl etwas mit den Grabschändungen zu tun hat, die hier passiert sind?«, fragte der Kriminaltechniker und sah sich um, als ob er erwartete, noch weitere zu entdecken.
»Kaum«, erwiderte Roland.
Man ging davon aus, dass die Täter Jugendliche waren, die wahrscheinlich in betrunkenem Zustand hier randaliert hatten. Das waren wirklich keine Jungsstreiche mehr, so viel stand fest. Er starrte auf den Toten, der gerade von den ersten Sonnenstrahlen, die sich über die Baumkronen schlichen und einen neuen, warmen Sommertag ankündigten, beschienen wurde. Der Ausdruck in Harald Lund Iversens Gesicht konnte beinahe darauf hindeuten, dass er wirklich einen Zombie gesehen hatte, und er sah nicht wie jemand aus, der sich normalerweise in der Nacht auf Friedhöfen herumtrieb, um Gräber zu schänden – wie solche Typen auch aussehen mochten.
»Wie hat er es wohl geschafft, dieses Loch zu graben?«, fragte Henry Leander und schüttelte verwundert den Kopf.
»Das Grab hier liegt ja ein bisschen abseits, daher …«
»Aber gibt es hier nicht auch Nachtwächter seit den Vorfällen damals 2005? Oder Videoüberwachung?« Leander schaute sich um, als suche sein Blick nach Kameras in den Baumkronen. Aber dort hingen nur die vielen Nistkästen, hier machte man sich verdient um den Vogelschutz. Über 50 Holzkästen waren rund um den Friedhof angebracht worden, sie waren aber kaum so genial gewesen, diskret Kameras darin zu installieren.
»Es gab viel Gerede darüber, doch es wurde nie etwas daraus. Es gibt ethische Einwände.«
Leander nickte. »Vielleicht war es der Anblick der Leiche, der ihn umgebracht hat. Ein Schock. Nicht alle können sowas ab.«
»Vielleicht hat die Leiche ihn ermordet und ist dann abgehauen«, unterbrach der Kriminaltechniker und lachte allein über seinen Witz, aber sein Lachen gefror jäh und er wurde sichtlich blass, als Natalies Ruf unten aus der Tiefe ertönte:
»Der Sarg ist leer!«
»Leer?«
Roland beugte sich wieder vor und schaute zu ihr hinunter. Sie hatte ihre Beine links und rechts auf den Grabrändern abgestellt, sodass sie in der Grätsche über dem Sarg stand, und den Deckel so weit angehoben, dass man hineinschauen konnte.
»Wie kann der leer sein? Man begräbt doch nicht einfach einen leeren Sarg!«, murmelte Roland.
Er sah, wie die Beamten weiter oben auf dem Pfad mit einer Familie sprachen, die auf dem Weg zu einem Grab war. Die Kinder hatten Blumen im Arm. Sie sollten zusehen, dass sie hier fertig wurden.
»Irgendjemand tut das offenbar. Wir müssen den Sarg mit ins Kriminaltechnische Zentrum nehmen«, sagte Natalie und strich sich mit der Oberseite des Armes die Haare aus der verschwitzten Stirn.
»Kümmerst du dich um die Genehmigung, Benito?«
2
Der beste Job der Welt! Keine lange und mühsame Ausbildung! Niemals Arbeitslosigkeit!
So hatte sein Vater seine Profession stets angepriesen, die er schon von seinem Vater übernommen hatte.
Johan Spang, Gott habe ihn selig, hatte oft versucht, seinen jüngsten Sohn zu überreden, auch ins Familienunternehmen einzusteigen, wie auch sein Bruder und seine älteste Schwester. Aber er hatte sich dagegen gesträubt, wie seine andere Schwester, die sich ebenfalls für einen anderen Weg entschieden hatte. Dieser Beruf war mit einem Tabu belegt. Als Kind hatte ihn der Anblick der Särge geängstigt, selbst der der leeren, oder nein, gerade der. Er hatte immer mit Abscheu auf seinen Vater geschaut, wenn er sich an den Tisch setzte, nachdem er einen toten Körper berührt hatte. Ihn in einen Sarg gelegt hatte. Es hatte ihn geprägt, der Sohn eines Bestatters zu sein, und unter keinen Umständen wollte er diesen Beruf eines Tages selbst ausüben.
Er nahm eine der weißen Karten aus dem Visitenkartenhalter, der vor ihm auf dem Palisanderschreibtisch stand. Nicht bloß ein billiger Halter aus Plastik. Nein, er war aus blankem Sterlingsilber. So blank, dass er sich darin spiegeln konnte. Die kurz geschnittenen, gekräuselten Haare mit den weißen Strähnen saßen perfekt – McDonald’s Haare, wie Mathilde sie aufgrund seiner Geheimratsecken spöttisch nannte, die sich wie das berühmte ›M‹ bogen. Er hob das Kinn ein wenig und betrachtete zufrieden den akkurat getrimmten Schnurrbart, der sein jungenhaftes Gesicht männlicher machte. Auch der Bart hatte weiße Sprenkel bekommen. Der Teint war ebenmäßig und sonnengebräunt, aber er sah auch, dass seine sonst ruhigen, stahlgrauen Augen Unsicherheit ausstrahlten. Er kippte die Karte zwischen zwei Fingern, während er darauf starrte. Der Geruch von Druckerschwärze haftete noch daran. Das Papier war so glatt, dass es an den Fingerspitzen unangenehm kitzelte und das Licht vom Fenster reflektierte. Er las den Text: Andreas Spang. Bestatter. Der Name war in gotischer Schrift geschrieben. Schwarze, geschwungene Buchstaben. Der Stil, den sein Großvater einst im 19. Jahrhundert festgelegt hatte, war bewahrt worden. Das Logo war ebenfalls altmodisch. Ein hässliches kleines Kreuz war oben auf die Karte gedruckt, darunter eine traurige schwarze Borte. Das würde er mit der Zeit ändern. Etwas Moderneres musste her. Ein Bestattungsunternehmen musste sich nicht so trist präsentieren. Eine ansprechende Homepage hatte er auch im Sinn. Vielleicht sogar mit einer Art Online-Shop. Mit einem Mausklick könnten die Kunden wählen, ob es eine Erdbestattung oder Einäscherung und welcher Sarg oder welche Urne es sein sollte. Ob die Asche über dem Meer oder einem Vulkan verstreut und ob der Sarg in einem ganz persönlich ausgewählten Bereich begraben werden sollte. Neue Zeiten waren angebrochen.
Pia hatte dafür gesorgt, dass die Visitenkarten genau heute, an seinem ersten Tag, geliefert