Schloss Frydenholm. Hans Scherfig
versuchte, lustig zu sein. „Aber er ist auf unserem Archiv gekocht“, brummte Martin.
Der kleine Peter war nun ruhig und zufrieden. Gerda fütterte ihn mit einem gelblichen Brei, der ihm die dicken Bäckchen hinunterlief. Jakob Enevoldsens kleiner Hund war nach den Anstrengungen eingeschlafen und träumte sicherlich etwas Angenehmes. Er lächelte im Schlaf, und sein kleiner Schwanz bewegte sich ab und zu glücklich.
Im Radio wurde nichts über die Ablieferung von Jagdgewehren gesagt. Der lange Anton war beruhigt; auf der Stempelsteile hatte man nämlich erzählt, alle Büchsen müßten abgegeben werden. Anton war Jäger und besaß eine wunderbare Jagdflinte, die zusammengelegt und in der Innentasche eines Mantels versteckt werden konnte; er wollte sie keinesfalls dem Feind ausliefern. Da würde er sie lieber im Wald in einem Baum verstecken!
Aber den Feind sollte man wirklich nicht mit Jagdgewehren bekämpfen, meinte Oscar. Bevor man einen Widerstand organisieren könne, müßten noch sorgfältige Vorbereitungen getroffen werden. Oscar sprach von der Möglichkeit, illegale Fünfergruppen zu bilden, die als Schachvereine getarnt wären. „Wir müssen jetzt konspirativ denken“, sagte der frühere Spanienkämpfer.
Martin war der Meinung, jemand müsse sofort nach Præstø fahren und mit der Kreisleitung Verbindung aufnehmen. Vorher könne man nichts tun. Er würde auch gern selbst hinfahren.
„Wahrscheinlich haben die Deutschen das Büro der Kreisleitung schon längst besetzt“, sagte Oscar.
„Glaubst du wirklich?“
„Es ist ja nicht sicher, daß sie die Adresse kennen“, warf Jakob Enevoldsen ein.
„Und es ist ja auch nicht sicher, daß die Deutschen daran interessiert sind“, sagte Margrete. „Was sollen sie in der Kreisleitung?“
„. . . Über diese Maßnahme werden zur Stunde Vereinbarungen zwischen der Regierung des Deutschen Reiches und der Königlich Dänischen Regierung getroffen“, wiederholte das Radio. „Diese Vereinbarungen sollen garantieren, daß das Königreich weiterbesteht, daß Heer und Flotte erhalten bleiben, daß die Freiheit des dänischen Volkes geachtet und die zukünftige Unabhängigkeit dieses Volkes vollauf gesichert wird . . .“
„Glaubt ihr daran?“ fragte Oscar.
Nein, es gab keinen, der an deutsche Erklärungen glaubte. Es gab keinen, der glaubte, die Deutschen würden irgendwelche Freiheit achten. Aber deshalb brauchte es ja nicht genauso zu kommen wie in der Tschechoslowakei und in Österreich, jedenfalls nicht sofort. Sowohl im dänischen wie auch im schwedischen Rundfunk sagten sie, Stauning sei noch immer Ministerpräsident und der König noch immer König. Ja, es gab noch immer einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten.
„Glaubt ihr denn an den?“ fragte Oscar.
Nein. Aber in der Tschechoslowakei und in Österreich haben die nazistischen Eroberer die Sozialdemokraten verboten.
„Unsere Sozialdemokraten sind eine besondere Sorte. Was sollen die Nazis schon von ihnen zu befürchten haben?“
Der lange Anton meinte, man müsse sein Parteibuch verbrennen, bevor die Deutschen kämen.
„Dein Parteibuch ist sicher auch nichts Besseres wert“, entgegnete Martin. „Sind da überhaupt Marken drin? Du hast ja vier oder fünf Monate lang keinen Beitrag bezahlt.“
„Es fehlen höchstens vier. Du kommst immer kassieren, wenn ich gerade kein Geld habe. Man hat es nicht leicht, wenn man arbeitslos ist.“
„Bring dein Buch in Ordnung, bevor du es verbrennst“, sagte Martin.
Oscar glaubte nicht, daß es so eilig sei, die Parteibücher zu verbrennen. Es sei viel wichtiger, die Bücher auf dem laufenden zu haben. Man könne sie aber ruhig ein bißchen diskret aufbewahren.
„Diskret?“
„Ja, man braucht ja den Deutschen und unseren eigenen Nazis damit nicht gerade vor der Nase herumzufuchteln.“
Die eigenen Nazis, die waren wohl vorläufig die größte Gefahr. Was war mit so einem wie Niels Madsen? Und was mit dem Grafen und seinen Gefolgsleuten? Was würden sie jetzt wohl aushecken?“
„Und Höschen-Marius?“
„Scheiß was auf den! Aber die im Schloß, was machen die jetzt? Was bereiten die vor? Was haben wir von der Seite zu erwarten?“
17
Aufgabe eines Historikers ist es, die Geschehnisse leidenschaftslos zu betrachten und Ruhe zu bewahren, wenn sich die Dinge rundum überstürzen.
Als Professor Praahs, der in allen Fachfragen sehr gewissenhaft vorging, am neunten April von seinem Vormittagsspaziergang nach Hause zurückkehrte, versuchte er, sich eine Meinung über die tatsächliche Lage zu bilden. Er hatte die deutschen Soldaten gesehen, die in den Straßen der Stadt Wache hielten, und er hatte die Verblüffung und Neugier der Kopenhagener gesehen. Er war in der Redaktion des „Dagbladet“ gewesen, wo man fieberhaft damit beschäftigt war, die Umstellungen vorzunehmen, die sich auf Grund der veränderten Verhältnisse erforderlich machten. Chefredakteur Jens Angvis war auf seinem Posten, und er kommentierte dem Geschichtsprofessor ruhig und realistisch die letzten Nachrichten. „Wir können es so haben, wie wir es wünschen“, sagte der Redakteur. „Man wird von einer Musterbesetzung mit erträglichen Bedingungen für die Presse sprechen können, aber wir können es auch so haben wie in Polen, wenn wir uns töricht benehmen.“
Noch auf dem Heimweg hatte Professor Praahs Leute getroffen, die nicht an die Besetzung glauben wollten. Nachdem er Mittag gegessen und über die Dinge nachgedacht hatte, schrieb er in sein Tagebuch, die Besetzung Dänemarks durch Deutschland sei überraschend gekommen.
Für einige war die Besetzung jedoch nicht überraschend gekommen. Der Graf auf Frydenholm zum Beispiel war nicht überrascht. Der Schriftsteller François von Hahn war nicht überrascht. Und für viele Freunde François von Hahns in der Sicherheitsabteilung der Reichspolizei war die Ankunft der deutschen Truppen offenbar auch keine Überraschung.
Die Reichspolizei hatte ihre Verbindungen mit Leuten südlich der Grenze, und am achten April waren in kurzen Abständen Meldungen eingelaufen, die von deutschen Truppenbewegungen in Holstein berichteten. Die Truppen bewegten sich nach Norden.
Oberwachtmeister Ottesen hatte in der schicksalschwangeren Nacht Dienst im Büro des Reichspolizeichefs Rane. Er war angewiesen, Polizeiinspektor Lolland zu alarmieren, falls etwas Besonderes geschehen sollte. Er hatte sein Bier in eine Marmornische gestellt und lief nervös auf dem Mosaikfußboden hin und her. Antike, grünspanüberzogene Bronzeampeln erhellten den tempelartigen Raum.
Um 01.20 Uhr klingelte das Telefon. Der Oberwachtmeister nahm eine Meldung entgegen, aus der hervorging, daß die deutschen Truppen Flensburg erreicht hätten und in der Umgebung der Stadt biwakierten. Der Markt in Flensburg sei mit Beförderungsmitteln jeder Art überfüllt; dort stünden nicht nur Militärlastwagen, sondern auch Omnibusse. Wie zu einer Fahrt ins Grüne.
Um 01.23 Uhr gab der Oberwachtmeister diese beunruhigende Meldung an Polizeiinspektor Lolland weiter, der sie ohne jede Gemütsbewegung entgegennahm.
„Ich muß wohl Reichspolizeichef Rane und den stellvertretenden Polizeichef unterrichten?“ fragte der Oberwachtmeister.
„Nein“, antwortete Lolland. „Das brauchen Sie nicht! Der Reichspolizeichef und sein Stellvertreter wissen Bescheid.“
„Ja, aber soll ich dann wenigstens den Justizminister anrufen?“
„Nein. Das brauchen Sie auch nicht. Der Justizminister wird morgen einen anstrengenden Tag haben.“
„Aber Abteilungsleiter Knudsen vom Justizministerium?“
„Ja, den können Sie getrost anrufen.“
Der verblüffte Oberwachtmeister gab dem Abteilungsleiter die Meldung durch.
„Aha“, sagte Abteilungsleiter Knudsen.
„Wie bitte?“