Gott singt. Ulrike Gadenne
Seine Hauptbotschaft: Seid glücklich! Dabei zeigt Er sich nur den europäischen Besuchern – die zu neunundneunzig Prozent aus den deutschsprechenden Ländern kommen – so informell und privat mit Zottellocken, im Dhoti und unachtsam, jedoch dekorativ geschlungener Robe um den Hals. Das Carromboard ist unentbehrlich, es dient zur Unterhaltung, zur Schulung, und wer mit am Brett sitzen darf, macht seine besonderen Erfahrungen mit sich und Baba. Es ist ein Instrument, mit dem Baba gleichzeitig Nähe und Distanz, Spiel und Spannung, Erfolg und Misserfolg erzeugt, so dass das stundenlange Zusammensein mit Baba unterhaltsam, kurzweilig und entspannend ist.
Ich sitze Baba gegenüber und bin überwältigt von der Schönheit Seines Anblicks. Seine Gestalt ist klein und im Sitzen wirkt Er kindlich, rundlich, aber lebendig und wach bis in die Fingerspitzen. In jedem Moment wechseln Gesichtsausdruck und Körperhaltung: ein schläfrig entspanntes Baby, ein Raubtier, federnd und konzentriert, weiblich weiche Bewegungen und Blicke aus den Winkeln der schrägen Augen, die jeden Mann verführen würden, im nächsten Augenblick ein gezielter, männlich herausfordernder Schuss auf dem Carromboard, die Selbstvergessenheit eines Kindes, das mit einer Blume spielt, oder die Willenlosigkeit einer Pflanze, wenn Er mit halbgeschlossenen Augen, die scheinbar nichts wahrnehmen, still dasitzt und nur kosmische Schönheit und dienende Hingabe verkörpert: ein unaufhörliches Fließen aller Formen der Schöpfung …
Später sagt Baba: »Gott hat keine Form. Unter Männern bin ich ein Mann, unter Frauen eine Frau, ein Kind unter Kindern – Gott ist alles!« Im selben Augenblick stößt mich meine Nachbarin an: »Riechst du den Rosenduft?« Der Duft ist intensiv und an den verklärten Gesichtern sieht man, dass alle ihn wahrnehmen und den Segen, der Babas Worte überraschend bestätigt, tief einatmen.
Am nächsten Tag sitze ich schräg hinter Baba. Das gelbe Kleid liegt wie eine Schärpe um Hals und Schultern und bildet einen harmonischen Farbklang mit der hellbraunen Haut und der schwarzen Haarlockenkrone. Es gibt Kaffee, und ein Tablett mit Plätzchen und Ferrero-Kugeln wird herumgegeben.
Babas Hände sind in ständiger Bewegung – winken einem gegenüber sitzenden Devotee zu, heben prostend die Kaffeetasse, werfen den Besuchern Orangen und Kekse zu, trommeln auf einer Blechuntertasse. Während die linke Hand auf dem Knie des links sitzenden Devotees liegt, steckt Er mit der rechten einer anderen Devotee eine Blume ins Haar, die Er von einem Tablett nimmt, das eine Devotee Ihm reicht. Sich selbst steckt er eine flammend-rote Hibiskusblüte ins Haar (später lerne ich, dass sie mit Shiva assoziiert wird), steckt sich einige Blütenblätter der Flammenblumen in den Mund und klebt mir eines der orange-rot leuchtenden, zungenförmigen Blätter zwischen die Augen. Als es runterfällt, esse ich es auf – es schmeckt bitter. Baba lacht und spricht unaufhörlich, hat jeden der Anwesenden im Blick, manchmal hebt Er die rechte Hand zum Segen und nickt einem Besucher zu – nur derjenige weiß, auf welchen seiner Gedanken Baba gerade reagiert hat, gleichzeitig schaut Er einen anderen an, damit auch dieser sich beachtet fühlt.
Die Fülle an göttlichem Segen ist unbegreiflich, und als ich mich still dafür bedanke, dreht Baba sich um und nickt lachend – und immer wieder Wolken von Rosendüften … Mir wird klar, Baba istA L L E S– eine Projektionsfläche, die auf alle unsere Gedanken und Gefühle reagiert, sie reflektiert und sichtbar macht, wenn wir sie denn sehen wollen.
Am nächsten Tag telefoniere ich mit meiner Mutter. Obwohl sie weit über achtzig Jahre alt ist, freut sie sich mit mir, dass ich bei Balasai Baba bin. Ihre Stimmung ist jedoch beeinträchtigt, da sie sich in einigen Wochen einer größeren Operation unterziehen muss. Weil inzwischen ein heftiger Regenguss niedergegangen ist, der die Straße zum Ashram in einen reißenden Bach verwandelt und sogar den wackeligen Tisch der Büglerin auf der Straße mitgenommen hat, wurden die roten Teppiche aufgerollt und zu einem Berg in der Mitte gestapelt. Als ich zurückkomme, sitzt Baba hoch auf dem Teppichberg, alle Besucher am »Fuße« des Berges auf dem noch trockenen Platz, dicht um Ihn geschart. Da unter den Umständen kein Carromboard-Spiel möglich ist, wird gesungen, Volkslieder, Spirituals, was gerade spontan einfällt. Ich setze mich dazu, bin aber noch mit dem Inhalt des Telefongespräches beschäftigt. Baba summt mit, bewegt sich zum Rhythmus der Lieder, ist aber ungewohnt ernst, wozu die offizielle Robe noch beiträgt. Während Er die anderen wenigstens anschaut, ignoriert Er mich völlig. Das ist ganz neu, aber nach kurzer Zeit dämmert mir die Ursache: Baba zeigt mir, dass ich mir innerlich Sorgen um meine Mutter mache und mich nicht auf Ihn konzentriere. Als mir diese Erkenntnis durch den Kopf schießt, wendet Er mir sofort Sein Gesicht zu, lacht und nickt: Baba spiegelt unmittelbar die innere Distanz oder Nähe zu Ihm. Das Wort Hingabe bekommt erstmals eine tiefere Bedeutung: die eigenen Probleme und Sorgen dem Göttlichen hin zu geben und selbst offen zu bleiben für den immerwährenden göttlichen Segen. Das sollte sich in der Zukunft oft als sehr schwierig erweisen.
Ein paar Tage später taucht wieder der Gedanke auf, meinen Mann oder meine Mutter anzurufen, gleichzeitig ist mir klar, dass es keine dringenden Gründe gibt, im Gegenteil, dass Irritationen unvermeidbar sind. Als ich den Gedanken fallenlasse, schickt Baba Seinen Rosenduftgruß …
Himmel und Hölle
Sommer 1998 – Vor etwa einem Jahr ist Balasai Baba überraschend in mein Leben getreten.
Meine spirituelle Reise hatte mich schon früh weit weg von christlichen Konfessionen oder der Suche nach einem »Guru« geführt. Trotzdem gab es seit vielen Jahren einen Satz, den ich entweder sang oder sprach wie ein Mantra: Ich weiß, dass mein Erlöser lebet, ohne dass ich jemals an eine Person auf dieser Erde gedacht hätte. Die Begegnung mit Balasai Baba schien mir wie die Erfüllung eines Wunsches, der tief in meinem Unbewussten ruhte.
Je öfter ich Balasai Baba begegnete, umso klarer wurde mir, dass dies mein Erlöser ist, und ich wollte erlöst werden, aber weder wusste ich wovon, noch wusste ich wozu. Den Wunsch, ganz im Ashram zu leben, hatte ich noch nicht gewagt zu denken, ertappte mich aber, dass ich Baba im Stillen nach Seiner Meinung fragte. Ein Traum in der letzten Nacht, ehe wir nach Kurnool fuhren, war ein erster Hinweis.
Ich erinnere ein deutliches Gefühl, dass Baba mit meinem Wunsch einverstanden ist, aber das Papierfaltspiel Himmel und Hölle taucht auf und gleichzeitig stinkt es höllisch nach faulen Eiern. »Es wird Himmel und Hölle! Willst du das?« ist die Botschaft.
Weil ich bereit bin, für meine Erlösung jeden Preis zu bezahlen, sage ich: »Ja!« Aber welche Erlösung von welcher Hölle war gemeint? Ein Traumbild von einigen Tagen vorher führte mich auf eine vage Spur: eine ausgemergelte Person, einem halbverhungerten indischen Bauern ähnlich, die Hände auf dem Rücken gefesselt, reißt sich los und läuft auf einen Berg zu, dessen Spitze von Wolken verhüllt ist, ein weißer Vogel umkreist den Berg. Lautet das Thema Gefangenschaft und Freiheit? Bei allem Auf und Ab in meinem Leben – bisher hatte ich mich weder gefangen, ausgebeutet noch unfrei gefühlt.
Im Laufe der nächsten Jahre zeigte Balasai Baba mir unzählige Situationen, wo ich zwischen Gefangenschaft und Abhängigkeit oder Freiheit wählen konnte, und oft wählte ich die Abhängigkeit, ohne es zu wissen …
Begegnung mit Ganesha
Unerwartet ordnete Baba eines Tages an, dass zweimal täglich, vormittags und nachmittags, gemeinsam meditiert werden sollte. Das war ungewöhnlich, denn sonst gab es nur das morgendliche und abendliche Bhajansingen, das Pflicht für alle war.
Der Sri Balasai Baba Ashram ist kein Ashram im traditionellen Sinne. Es gibt keinen festen Stundenplan, wo der Tag in regelmäßige Arbeits-, Meditations-, Schlaf- und Privatzeiten eingeteilt ist und wo jeder sich dieser Routine unterwerfen muss. Außer dem Singen morgens und abends kann jeder seinen Tag so einteilen, wie er möchte.
Wie auf der ganzen Welt hängt der Tagesablauf im Ashram vom Sonnenaufgang ab, aber hier ist die »Sonne« Balasai Baba, und alle