Gott singt. Ulrike Gadenne
aber er lenkt mich ab. Irgendwann gehe ich ins Zimmer, ziehe die »Badesachen« (lange Hose und T-Shirt) gleich an, und packe das weite Kleid, das ich später einfach darüber ziehen will – der Weg zurück ist ja kurz – in eine Tasche, damit niemand etwas merkt. Es wird genau gesagt, was ich mitnehmen soll: außer einem Handtuch noch ein rosafarbenes Schultertuch für den Rückweg.
Es ist Mittagszeit, alle schlafen, niemand sieht, dass ich den Ashram verlasse. Am Schuhregal im Shirdi Sai Baba-Tempel döst der Schuhboy, ich stelle die Schuhe einfach hin … Zu dieser Zeit ist der Tempel, der als ein offener Sechsstern angelegt ist, fast leer. Die Stufen, die zum Sanktum führen, lasse ich links liegen.
Längst weiß ich, wie ich den Auftrag ausführen werde: ohne anzuhalten werde ich sofort ins Wasser gehen, meinen Kopf eine Sekunde unter Wasser tauchen, sofort wieder heraussteigen, Kopf und Haare abtrocknen, ein weites Kleid über die nassen Sachen ziehen, das Schultertuch umwerfen und unauffällig zurückgehen. Zurück im Ashram werde ich mich gründlich duschen.
Entschlossen gehe ich auf das schmiedeeiserne Tor zu, das die Tempelanlage vom Fluss trennt. Aber das Tor ist mit einer dicken Kette verschlossen, und es ist weit und breit kein Priester oder Wachmann zu sehen, den ich nach dem Schlüssel fragen könnte. Fast bin ich enttäuscht – ich war bereit, das Abenteuer zu bestehen! Zögernd gehe ich zurück. Vor dem Ausgang komme ich am Dhuni vorbei. In der Feuerstelle, die ebenfalls als Sechsstern angelegt ist, glimmt noch Glut unter den verbrannten Holzstücken. Merkwürdig leer gehe ich einmal um die Feuerstelle herum und bleibe kurz stehen, bevor ich den Ausgang erreiche. Am Schuhregal döst der Boy noch immer. Direkt daneben ist der Eingang zum Sri Balasai Baba-Ashram.
Mechanisch gehe ich durch das Tor, an der kleinen steinernen Ganesha-Statue und dem Buchladen vorbei und biege nach links zum Alten Tempel ab in Richtung Treppenhaus, als ich plötzlich aufschrecke: an der Ecke vom Alten Tempel steht Baba und hebt die Hand zum Segen. Platz und Zeit sind ungewöhnlich, deshalb ungewöhnlich, weil Baba normalerweise um diese Zeit nie draußen zu sehen ist und der Platz nicht auf Seinem »normalen« Weg liegt. Er ist absichtlich hierher gegangen, um mir ein Zeichen zu geben. Jetzt weiß ich, dass alles richtig war und die »Stimme« keine Einbildung. Unmittelbar dämmert mir, was diese Stimme so einzigartig macht: Sie ist reine bedingungslose Liebe.
Federball
Obwohl das Bad im Tungabhadra nur »im Kopf« stattgefunden hat, bin ich so verschwitzt, dass ich dusche und mich umziehe. Als ich runterkomme, spielt Baba im Hof mit den Besuchern Federball. Mit Seiner Schnelligkeit und Kraft können auch sportlich Geübte kaum mithalten. Für die meisten Menschen ist der eigene Körper der Beweis, dass man lebt, und dieser bleibt gewöhnlich das ganze Leben lang das wichtigste Identifikationsobjekt: Jeder Mensch i s t sein Körper. Das Wohlergehen des Körpers steht im Mittelpunkt der eigenen Anstrengungen und Ängste.
Beobachtet man Sri Balasai Baba beim Federballspielen, ist offensichtlich, dass diese Meisterschaft nicht durch Üben der physischen Funktionen erreicht wurde. Für unser Verständnis hat Baba zu wenig Bewegung, wenn überhaupt, geht Er gemächlich ein paar Runden um den Tempel. Seine Tätigkeit als Tänzer und Tanzlehrer hat Er vor zwanzig Jahren beendet, als Seine Mission als göttlicher Lehrer begann.
Nach Seinen eigenen Worten hat Er erst während der Pubertät gemerkt, dass es eine materielle Welt gibt und dass Er einen physischen Körper hat.
Bei hochentwickelten Seelen, die auf dem Weg in die Einheit mit Gott schon weit fortgeschritten sind, ist es gewöhnlich umgekehrt: In der Pubertät wird ihnen erstmals die göttlich-geistige Dimension ihres Daseins voll bewusst, so dass die Abhängigkeit vom physischen Körper automatisch gelockert wird. Wenn Baba spielt, und das gilt ebenso für jede andere Tätigkeit, gibt Er sich jedem Moment so stark hin, dass Er die materielle Ebene »vergisst«. Vor einiger Zeit war wegen der Hitze Federball im alten Tempel angesagt. Das Spielfeld wurde rechts und links durch die Wände begrenzt. In völliger Hingabe an das Spiel holte Baba zu einem Schlag aus und verletzte sich heftig am Ellenbogen, weil die Wand für Ihn einfach nicht vorhanden war. Ein anderes Mal sprang Er in die Luft, um einen hohen Ball zu erreichen, dabei »vergaß« Er, dass Er den Sprung abfangen musste, und entkam beim Sturz knapp einem schweren Unfall. Obwohl Baba isst und trinkt, um sich ganz auf die menschlich soziale Ebene zu begeben, muss es Ihm gereicht werden, weil Hunger und Durst Ihn nicht motivieren würden, den Körper zu ernähren.
Der Avatar hat keinen Grund, Seinen Körper für sich zu erhalten. Er nimmt ihn nur an, damit Er als Brücke Seinen Devotees leichter den Weg in die geistige Welt zeigen kann. »Nur wer selbst schon formlos ist, kann Gott über die Formlosigkeit erreichen!«, sagt Baba. Das heißt, nur wer die göttlich-geistige Dimension ständig als die höchste Realität erfährt, braucht die schwerstoffliche Hülle als Wegweiser nicht mehr.
Immer noch verwirrt, aber dankbar, dass sich Gott für mich in diesen sichtbaren Körper kleidet, setze ich mich zu den Zuschauern und habe Zeit, das Spiel in Ruhe zu betrachten. Das Bad im Tungabhadra hat nur in Gedanken stattgefunden. Aber gibt es wirklich einen Unterschied? Ich weiß, Baba wollte kein Ritual von mir, noch weniger, dass ich in eine stinkende Brühe tauche. Aber innerlich habe ich alle Phasen von Misstrauen und Ekel bis zur Akzeptanz und genauen Planung durchlebt. Es ging um die Verwandlung von Ungläubigkeit, Ekel und Widerwillen in Mut und Vertrauen. Das hat sich auf den Seelenebenen des Fühlens, Denkens und Handelns abgespielt, die reale Durchführung war dann überflüssig.
Nach der Spielrunde ist Baba verschwitzt, eine permanente Devotee reicht Ihm ein Handtuch, eine andere die Wasserflasche. Ehe Er ins Haus geht, segnet Er alle und meint augenzwinkernd: »Hast du geduscht?«
Busfahrt mit Crashkurs
Nach einer Woche gibt Baba das Zeichen zum Aufbruch nach Hyderabad. Es geht also ans Kofferpacken, Zimmerputzen, dann mit der Riksha zum Busbahnhof. Sechs Stunden Fahrt liegen vor uns. Der nächste Bus nach Hyderabad ist recht komfortabel, hat abgedunkelte, wenn auch total verdreckte Fensterscheiben, verstellbare Sitze und einen Fernseher, der so laut eingestellt werden muss, dass er den Fahrtlärm übertönt.
Im Bus ist es stickig heiß, aber die Fenster können aufgeschoben werden, so dass ein staubgeschwängerter Wind hineinblasen kann. Um mich vor dem Staub zu schützen, der in jede Pore dringt, drapiere ich meinen weißen Schal (ein Schal ist in Indien für Frauen obligatorisch) so, dass schließlich der ganze Kopf eingehüllt ist. »Wie ein Totenkopf«, denke ich und lege mich so bequem wie möglich in den Sitz. Gleichzeitig erscheint das Bild einer in weiße Tücher gehüllten toten Gestalt.
Eigentlich eine normale Assoziation, wenn nicht gleichzeitig die Erinnerung an eine Situation vor zwei Tagen auftauchte: Ein japanisches Ehepaar brannte bei seiner Verabschiedung zu Ehren von Baba dicke Wunderkerzen ab. Ein kleines indisches Mädchen war zu ungeduldig und zappelig, um das Zündholz so lange ruhig zu halten, dass das Feuer überspringen konnte. Erst als ich ihr riet: »Don’t move!«, hielt sie ihre Hand still und freute sich, als goldene Sterne aus der Wunderkerze sprühten. Don’t move!, höre ich innerlich und weiß intuitiv, dass das für die ganze Fahrt bis zur Ankunft in Hyderabad gilt … Allerdings kann ich diesmal den Sinn der Übung nicht erkennen. Eine kurze Zeit verhandle ich mit mir, ehe ich mich schließlich darauf einlasse, obwohl ich ahne, dass das »Bad« dagegen ein Spaß war.
Die Fahrt geht über eine enge schlechte Landstraße. Sich dem indischen Fahrstil zu überlassen, bei dem äußerst riskante Überholmanöver ein Sport unter den Fahrern sind, ist für europäische Gemüter anfangs sehr strapaziös. Um keine unkontrollierten Bewegungen zu machen, muss ich wach bleiben. Ich gebe vor zu schlafen, um niemanden auf mein – wie es mir selbst erscheint – verrücktes Verhalten aufmerksam zu machen. Bei offenen Türen und Fenstern ist schon der Fahrtlärm unerträglich, dazu kommt das Plärren des auf größte Lautstärke eingestellten Fernsehers.
Jeder