Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel
röten sich die Gesichter der Schreibenden, heftiger werden die Seiten umgeschlagen, es richtet sich zuweilen auch ein Auge bang und zweifelnd auf den Lehrer.
Dann springt Zeisig auf und schreitet mächtig auf das flehende Augenpaar zu. Als ob er strafen oder Hilfe bringen wolle.
„Hum — hum — schreiben Sie vollkommen ruhig.“
Von alledem sieht und hört Gust Petersen nichts. In seine Seele ist es eingezogen, wie Feiertagsfreude.
Welch eine schöne, bunte, farbige Aufgabe. Und wie gern, wie leidenschaftlich gern weilt er nicht in den engen Gassen des alten Rom.
Mit begeisterten, traumglühenden Blicken starrt er auf seine weissen Blätter hinab, dann hebt er das rotbuschige Haupt, kaut an seinem Federhalter, und vernimmt für einen Moment das Summen der Fliegen, die an der weissen Decke spielen.
Gar feierlich still ist es heute in der Klasse. Als ob alle den bitteren Ernst der Stunde fühlen.
Den bitteren Ernst?
Was ist das? Ein heftiger Schmerz beginnt durch Gusts Herz zu wühlen. Denn ganz unvermittelt muss er an jene Familienberatung in seinem Heim denken, an das Schluchzen der Mutter, an Tante Bettis Lebensplan, an die schonenden Verbeugungen des alten Junggesellen, und vor allen Dingen an das graue Gespenst der Armut, dessen rauschende Schleppe ja die Treppen des alten Schifferhäuschens fegen soll.
Wie seltsam, dass er bisher das Geräusch noch nie vernommen.
Er fährt auf.
Galt das ihm?
Bei Gott, Zeisig starrt gerade auf ihn hin. „Hum, Petersen, wollen Sie denn nicht beginnen? Worauf warten Sie noch? — Eine halbe Stunde haben Sie bereits verloren. Phantasieren Sie, bitte, ein andermal.“
Gust taucht schnell die Feder ein und spritzt sie heftig ab.
Ja, gewiss, jetzt heisst es anfangen. Und etwas Grosses muss es werden. Nur nicht der gewöhnliche Brei, nein, etwas, wovon man auf dem Gymnasium noch nach Jahren reden wird.
Etwa: „Kuckt, Jungs, das hat Gust Petersen geschrieben.“
„Ja, der — der war aber auch ein Poet.“
Warum wohl die dunklen Augen Zeisigs noch immer so glühend und rollend auf ihn gerichtet sind? Wie unruhig sich der Leu mit der weissen blutlosen Hand durch den kurzgelockten Bart fährt, und wie raubtierhaft jetzt der Mann wieder vom Katheder herabspringt—. Ja, beim grossen Zeus, so muss Catilina ausgesehen haben, dieser wunderbare Verschwörer, den Gust heimlich so sehr liebt; ganz wie Zeisig muss er anzusehen gewesen sein, genau so. Das heisst natürlich nur äusserlich. Denn seelisch, das ist unumstösslich, seelisch ist er ein Verwandter von Gust. Gust ist ja selbst Catilina. Gust-Catilina haust im alten Rom in furchtbarer Mittellosigkeit und Verschuldung. (Gust hat sich erst kürzlich von Herrn Winkelmann fünf Mark geliehen. Das stimmt also.) Auch eine Verschwörung, hat sie Gust nicht gleichfalls gestiftet? Die Schülerverbindung, jene heimlich auf einem Bodenzimmer tagende Versammlung, der so verbissen republikanische Charaktere, wie Karl Stark und der verarmte Junker Malte von Zingst angehören? Wahrlich, die Ähnlichkeit ist schlagend. Und jetzt, jetzt begreift Gust auch, was Zeisig mit dem Satze gemeint hat, dass die Begabteren den Rahmen ihrer Untersuchung weiter spannen dürften. Zeisig liebt selbst diesen eitlen Streber Cicero keineswegs, dem der verkommene Senat den Titel eines Vater des Vaterlandes verlieh. Zeisig weilt selbst mit seinem Herzen in dem niedrigen, verfallenen Tempel, in dem zur düsteren Mitternachtsstunde der bleiche Catilina seine Scharen versammelt, Zeisig selbst lauscht mit schauderndem Entzücken den ersten Tubenstössen, die in der kleinen etrurischen Feldstadt Faesulae das Signal zum Losbruch der herrlichen Revolte geben sollten.
Und wenn auch tausendmal nicht; nur Beschränktheit kann in dem zitternden Festhalten eines mürbe gewordenen Junkerregiments das Heil des Staates erblicken. Nein, mag Malte von Zingst, selbst ein Junker, der dort drüben auf der zweiten Bank so ernst und sicher schreibt, mag er dem gescheitelten Zungendrescher ruhig den Lorbeer reichen, er, Gust, weiss, ahnt, fühlt, dass in dem Verschwörer Catilina die moderne Zeit steckt, dass seine Helfershelfer vorzeitige Frühlingsboten sind, die durch den Winterschnee reiten. Jawohl, und tausendmal ist es so, alles Grosse haben in die Welt nur die Amstürzler gebracht. Deshalb — einen Besen her — fortkehren wollen wir, fortkehren den Schnee von dem Weg, auf dem die Rosse der Heilsbringer traben. Fortkehren, damit sie nicht gleiten und stürzen, die Kommenden — kehren, kehren für die neue Zeit.
Er schreibt. Und sein erster Satz lautet:
„Catilina gebührt mit Recht der Name Vater des Vaterlandes.“
Zu derselben Zeit sass Toni Stark auf dem Rand ihres Bettes und schluchzte bitterlich. Bis in das letzte Versteck ihrer lebenshungrigen Seele hinein war sie getroffen. Dicht vor ihr hatte vor wenigen Sekunden ihre Mutter mit ihrem starren bewegungslosen Gesicht gestanden, hatte die schmalen, verkniffenen Augen weit aufgerissen, um endlich barsch und gefühllos hervorzustossen, ob ihre Tochter denn nun „rein mall1)“ geworden wäre?
„Sag’ eins — sag’ doch eins, mein Döchting,“ so hatte es giftig geklungen, während die knochige Hand sich nach der hübschen runden Mädchenschulter ausstreckte, als ob sie von da etwas herunterreissen wolle, „sag’ doch, mein Döchting, wozu hast du dir denn heut am Wochentag das neue rosa Kattunkleid angezogen? Ach, und kuck doch, auch noch die Schleife um den Hals? I, das is ja nett. Wirst du nun bald sagen?“
„I, bloss so,“ stotterte Toni, aber gleichzeitig sah sie sich trostlos in dem kleinen weissen Dachzimmerchen um, ob kein Weg zur Flucht offen stünde.
Jedoch Mudding Stark hielt den Ausgang gewichtig besetzt.
„Bloss so?“ wiederholte die Angreiferin noch mehr gereizt, „na, denn will ich dir sagen, was du vorhast, du dummes Gör. Vor das Gymnasium willst du ziehen, um dort die Primaners zu erwarten, die halbwüchsigen Bengels — unser Karl is noch der vernünftigste darunter — damit sie dir Komplimente machen sollen, du unverständige Dirn. Schämst dich garnicht? Gleich ziehst du das Kleid aus.“ Und damit rüttelte die mütterliche Faust bereits an den hübschen Goldknöpfen, so dass die Taille aufging und von den Schultern herunter fiel.
„O, Mudding — Mudding — bitte, bitte.“
„I was, hier —“ die knöcherne Hand schlug leicht auf den entblössten runden Mädchenarm, so dass eine huschende Röte erschien — „gleich machst du, fix.“
Aber dann schien Mudding Stark plötzlich ein beängstlicher Gedanke zu kommen. Rasch setzte sie sich die Hornbrille auf die Nase und sah ihrer Tochter untersuchend ins Angesicht:
„Du?—Du klänst doch nich etwa gar mit Gust?“ fing sie drohend an, wobei ihre Stimme ins Heisere umschlug, „du — ich sag’ dir — doch nich etwa mit diesem Bengel, aus dem im Leben nichts wird? Dirn, wenn du solche Raupen im Kopf hast, dann werd’ ich dir eins ernsthaft kommen müssen. Verstehst du mir? Ernsthaft.“
Dabei schob sie sich die Brille auf die Stirn, starrte ihrer Tochter bis auf den untersten Grund der Augen und versetzte ihr plötzlich einen solch heftigen Schlag auf den Arm, dass Toni vor Schreck laut aufschrie.
„Liebes Mudding.“
„I, was, — ist es Gust?“
„Nein, nein.“
„Sag’ die Wahrheit.“
„Wahr und wahrhaftig nicht.“
„Na, dann segen dich Gott — mehr sag’ ich nicht —. Und nu bleibst du hier, nimmst dir was zu arbeiten vor und sitzt mucksenstill, bis ich wiederkomm’. Hörst du? — Ich will selbst eins nach unsern Karl sehen, wie er geschrieben hat. Und nu fix, den Rock runter.“
Damit war sie gegangen.
Auf der Treppe jedoch hatte Mudding Stark noch einmal Kehrt gemacht, und die in Tränen aufgelöste Toni vernahm zusammenzuckend, wie sich der Schlüssel ihres Kämmerchens plötzlich von aussen scharf und geräuschvoll im Schlüsselloch drehte.
Auch das noch?