Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel
verstummte sie. Ein erdrückender, niederschlagender Gedanke lähmte ihre Freude.
„Was ist denn?“
„Meine Eltern — die leiden es ja nie und nimmer.“
„Eltern?“ wiederholte Gust verächtlich; ein trotziger, ablehnender Zug glitt über sein gutmütiges Antlitz. Dann schlug er herausfordernd die Arme untereinander. „Darin liegt es eben. Du brennst einfach durch.“
Da schlug Toni schallend die Hände zusammen. Die Decke entglitt ihr, und die Sonnenstrahlen warfen kleine helle Tupfen auf ihre Haut.
„Durch?“ echote sie, während ein Schauer von Freiheit und Glück sie zu überrieseln begann.
Sie wusste nichts mehr von sich, sie ahnte nicht einmal, warum Gust ganz plötzlich und unvermittelt vor ihr zitterte.
„Ja, durch,“ gab er in seinem hinstarrenden Traum zurück, und seine Stimme klang dumpf und gepresst, und seine Blicke hefteten sich verzweifelt auf das am Boden liegende Tuch, „zu Direktor Türckow nach Stralsund. Den kenn’ ich ganz genau.“
„Du, das tu’ ich,“ schrie Toni im hellsten Glück. „Das tu’ ich.“
Mit einem einzigen Sprung schnellte sie auf ihren Befreier zu, und während sie beide Arme um seinen Hals schlang, presste sie ihren schmalen blonden Kopf an seine Wange.
Einen Augenblick dünkte es Gust, er stände auf einer neuen Erde, eine vorüberzuckende Minute glaubte er, er sei bis dahin noch nicht gewesen, und ein ganz fremder, neuer, riesenstarker Mensch wüchse in ihm empor. Dann aber tat er die Augen auf, und diese Augen nahmen wahr, wovor er bis jetzt brennende Furcht empfunden.
Das Unverhüllte.
Blutrot und peinigend schlug die Scham über ihm zusammen. Ihm war es, als ob er im Moment das halbnackte Mädchen dort hassen müsse.
„Pfui,“ verwies er sie heftig, während er sich mit schweren Bewegungen loswand. „Pfui, Toni — besinn dich doch — das höchste an der Frau ist die Tugend.“
Aber sein Ausbruch war zu unvermittelt, die stürmische Toni begriff ihn garnicht.
„Tugend? Was hast du denn? Bleib doch.“
„Nein — nein.“ — Er hatte sich losgerungen, und nun stürzte er zur Tür, nicht, als hätte eben das Leben seine lieblichste Gabe an die Brust des Unfertigen gelegt, sondern, wie wenn eine geisselnde Furie auf seinen Nacken gesprungen wäre. „Jetzt nicht — ich komm’ wieder —,“ stammelte er noch — „bald“.
Und vollkommen verwirrt fuhr er die Treppe hinab — einen Absatz — den nächsten, bis er erschöpft auf der Strasse anlangte.
Ein frischer Wind, der von der See hereinwehte, strich hier leise summend an den Häusern entlang. Gierig sog Gust die Kühlung ein.
Dann lief er, aufgewühlt und erregt bis ins Innerste, die Gasse hinab, ohne zu wissen, wohin seine Bahn ihn führe. Nur ganz, wie von ferne, empfand er, dass dieser Weg ihn vielleicht in das Heim von Tante Betti leiten könnte.
Auch gut. Nur zu gleichgültigen Menschen, die von dem Streit in seinem Innern nichts ahnten, die nicht wussten, welch’ ein zermalmendes Abenteuer er eben bestanden.
Keuchend stürzte er weiter. Aber der Lauf befreite ihn nicht. Klirrend und klingelnd, wie ein Karussell, das mit tollem Flitterputz überladen sich um sich selber dreht, so kreisten seine Gedanken im engen Ringe.
Sein Examen, Catilina, die wunderschöne vornehme Martha, Egmont, — und dann, was färbte sich so dunkel? Was schillerte so glänzend weiss aus der grünen Decke hervor?
„Nein, nein.“
Mit wildem Ungestüm suchte er sich zu überreden, dass dies Gedenken unwürdig, hässlich, gewöhnlich sei. „Ja, ja, das ist das Gemeine dieser Erde, es will mich aus meiner Höhe herabziehen, es hängt sich an mich mit seiner lüsternen Schwere. Aber ich bin ein Strebender, ich besiege diese Anfechtungen.“
So tobte es durch sein Hirn. Aber das Karussell drehte sich weiter, und je rasender er von dannen stürmte, desto kreischender und wilder lärmte die Musik, bis er plötzlich heftig an einen Passanten anrannte.
Der Wandrer griff mit der linken Hand schmerzlich an den getroffenen Leib, mit der Rechten zog er mechanisch den Zylinder.
„Vergebung,“ dienerte Herr Winkelmann, denn er war es — „freue mich ausserordentlich, Herr Gust, aber um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus!“
„Mein Examen,“ stammelte Gust.
„Allerdings, begreife vollkommen. Noch nichts gegessen, leerer Magen. Aber hier stehen wir gerade an der Gaststube von Ihlefeld. Mudding Ihlefeld — Sie wissen schon. Ganz ungewöhnliches Menu heute. Büffelsuppe, Stör, Französisches Filet, Kompot, Butterbrot und Käse. Bewahre, ich lasse Sie nicht — ganz besondere Ehre für mich, mit einem Abiturienten zu speisen. — — Bitte, bereiten Sie mir das grosse Vergnügen, voranzutreten.“
Und als Gust in den düsteren Bogengang der alten Studentenkneipe eintrat, gefolgt von der soliden Alltäglichkeit des Herrn Winkelmann, da begann sich das gespenstische Karussell langsamer und immer müder zu drehen, und zuletzt vernahm Gust nur noch ein ganz feines, fernes Klingeln.
Zur selben Zeit stand Toni in ihrem Dachverschlag vor einem Scherben Spiegelglas, der an die Wand genagelt war, und betrachtete verwundert ihre Blösse, über welche noch immer die munteren Sonnentupfen hinwegtanzten.
Dann reckte sie sehnsüchtig die hübschen, runden Arme.
„Warte nur, du Jung’,“ fiel es dabei listig von ihre frischen Lippen — — „ich krieg’ dich noch, ich mag dich nun mal gar zu gern. — Wart’ bloss, du sollst noch mal bitten kommen.“
Und dann verschränkte sie die Hände hinter dem Kopf, blinzelte wohlig in die Sonne hinein, fragte sich: „Ob ich wirklich Schauspielerin werd’?“
Es klang beinah wie Neugierde.
V.
Zwei Tage später, da wurde an der Entreeglocke des Gymnasialdirektor Thaler heftig gerissen.
Es war ein so starkes, rücksichtsloses Klingeln, dass die hohe Soldatengestalt des Direktors unwillig von dem regenüberfluteten Fenster, wo er bereits auf seinen Besuch gewartet hatte, zurückfuhr, um sich erst ärgerlich über die verdüsterte Stirn zu streichen: „Wie formlos dieser Zeisig sich wieder anmeldet,“ dachte der Schulherrscher dabei verstimmt. „Wo bleibt da die so nötige Disziplin? Verdirbt mir wahrhaftig das ganze Kollegium. Na, diesmal fasse ich ihn aber fester. Ah, guten Abend, lieber Herr Kollege.“
„Guten Abend, Herr Direktor,“ wünschte der im zottigen Überzieher eintretende Zeisig, während er seinen durchnässten Schlapphut fest unter den Arm presste. „Sie haben mich zu sprechen gewünscht.“
„Jawohl,“ versetzte der Direktor höflich, wobei er den breiten Kopf mit den soldatisch gescheitelten Haaren neigte, an die sich ohne Übergang ein kurzer, blonder Hauptmannsbart anschloss, „vielleicht aber legen Sie vorher ab, lieber Kollege.“
Es lag bereits eine ganz leise Zurechtweisung in diesen Worten, jedoch der Löwe der Prima überhörte dergleichen.
„Nicht nötig,“ warf er hin und vollführte eine ungeduldige Bewegung. Gleich darauf aber schleuderte er seinen Überzieher auf den nächsten Stuhl, alles mit den Geberden eines Mannes, der dergleichen Förmlichkeiten unmittelbar vor ernsten Dingen für sehr überflüssig hält.
Dann liess er sich, ohne eine Einladung abzuwarten, in den nächsten Armstuhl nieder, stiess ein paar einleitende „Hums“ hervor und begann wieder nervös:
„Darf ich vielleicht fragen — —?“
„Eine Zigarre gefällig?“ unterbrach der an seinem Schreibtisch verharrende Direktor sehr deutlich, denn er hielt es mit Recht für unpassend, dass der Untergebene die Führung des Gesprächs so unbedingt