Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel
noch das mahnende Wort der Mutter: „Mucksenstill.“
Und sie schluchzte bitterlich.
Vielleicht würde sie sich schneller getröstet haben, wenn sie hätte beobachten können, wie hübsch sie in ihrer kindlichen Not aussah, und wie rund und blitzend die Tränenperlchen ihr über Wangen und Schultern träufelten. Die Sonne allein lugte dabei durch das Dachfenster hinein, nickte ihr zu und spiegelte sich in den anmutigen Kugeln.
Da polterten heftige Tritte über die Stufen. An der Tür wurde gerüttelt, das war vielleicht Befreiung.
„Wer ist da?“ rief Toni hoffnungsvoll.
„Ich —“
„Gust?“
„Ja, ich — ich bin als erster mit unserem Aufsatz fertig geworden und gehe bereits eine Stunde in der Stadt spazieren. Da wollte ich nur mal Nachfragen, wie Karl geschrieben hat? Ist er schon da?“
Keine Antwort, aber nach einer Weile klang es von drinnen kleinlaut: „Ich hab’ mich eingeschlossen.“
„So mach’ doch auf.“
„Ja, aber der Schlüssel steckt draussen.“
Gust war zu erregt, als dass er über dieses merkwürdige Spiel der Mechanik nachgedacht hätte. Ohne weiteres drehte er den Schlüssel um und drang hinein. Da sah er denn das Bild, das er lange Jahre nicht wieder bannen konnte.
Das weinende Mädchen auf dem Bettrand, entblösst die Arme und Schultern. Die von schwarzen Strümpfen umspannten Füsse kaum von dem kurzen Röckchen bedeckt, und das ganze Geschöpf so in Trauer versunken, dass sie auf all die Unordnung nicht sonderlich zu achten schien.
„Gut, dass du kommst, Gust,“ schluckte sie.
„Herr Gott, warum weinst du, Toni?“
„Ich? —“ sie unterdrückte ihr Schluchzen, „ich weine garnicht.“
„Doch — hat dir jemand etwas zuleide getan?“ stammelte er und starrte auf sie hin.
Wie er ihre weisse Haut glänzen sah, befiel ihn eine so ungeheure Ehrfurcht, als ob er vor einer Königin kniete. Unerreichbar hoch ragte sie vor ihm.
„Setz’ dich,“ bat sie leise, während sie ihm mit dem Fuss einen Stuhl zuschob.
Allein er beachtete die Aufforderung gar nicht, sondern konnte nur verstört hervorbringen:
„Nein, das geht nicht, Toni.“
Da wusste sie erst, was ihn bannte. Glühendrot schreckte es über ihre Wangen, und doch überlief sie ein heimliches Wohlgefühl, dass er so demütig und dienend vor ihr stände.
Dann raffte sie hastig die grüne Schlafdecke um sich zusammen, und als er sich nun kleinlaut auf dem Stuhl niedergelassen, da sassen sie sich beide gegenüber in bangem Schweigen, beide zitternd und bebend, denn die geheimnisvollste Stunde der Jugend war über ihnen.
Endlich schüttelte sich das Mädchen.
„Das halt’ ich hier in dem Hause nicht lange mehr aus,“ hob sie mit geschnürter Stimme an, und die blitzenden Tränen quollen wieder aus ihren Augen, „denke dir, jetzt haben sie mich hier eingeschlossen, weil ich mit jemandem nicht zusammentreffen soll.“
Als Gust diese Andeutung vernahm, legte sich ihm ein banger Druck aufs Herz, in unbestimmter Scham vermochte er nur zu forschen, wer das sei.
Allein Toni schwieg trotzig, richtete ihre feuchten Augen auf die sonnenumglänzte Dachluke und warf endlich kurz hin: „Das sag’ ich dir nicht.“
Da wusste Gust genug.
Er also? — Eine schwere Bedrängnis fasste ihn. In seiner Beklemmung führte er den Finger zum Munde, und grenzenlose Verlegenheit malte sich auf seinen Zügen.
Er also? Herr Gott, war er tatsächlich so schlimm? Aber wenn Toni wirklich seinetwegen so leiden musste, ja, besass er dann nicht die dringendsten Verpflichtungen gegen sie? Ganz gewiss, er musste ihr seinen Beistand leihen, sie von diesen unwürdigen Fesseln lösen. Dazu war er doch Catilina, dass er die Unterdrückten von ihrer Sklaverei befreite.
Und wie er jetzt auf dies Mädchen in der grünen Schlafdecke hinblinzelte, das so rührend hilflos vor ihm sass, da befiel ihn die weiche Zärtlichkeit des Beschützers für dieses weinende junge Weib.
„Sei ruhig, Toni, ich will dir helfen.“
„Ach, wenn du das könntest — aber ich glaub’s nicht, die Welt ist so schlecht.“
„Ja, schlecht ist die Welt, man muss alles zusammenschlagen.“
„Und dann bin ich auch so verlassen.“
„Das sollst du nicht sagen. Ich bin ja dein Freund.“
Toni wandte unvermutet ihre blauen Augen auf ihn hin.
„Ach, Gust, bist du nicht der Freund von Martha?“
Da bekam Gust plötzlich einen seelischen Stoss. Seine Gedanken und Gefühle verwirrten sich. Gehörte er im Moment wirklich der fernen, reinen Martha, vor der seine Einbildungskraft kniete wie der Diener, der seiner Herrin die Schuhe löst, oder war das Rauschen und Treiben, das jetzt durch seinen Körper flutete, stärker, war es das Irdische, das Wirkliche, was ihn zu Toni leitete?
Als er noch so schwankend verweilte, da regte sich Toni, und die grüne Schlafdecke verschob sich etwas von ihrer Schulter.
Gust wurzelte fest.
Ah, — da erschien es wieder, dasjenige, was Toni so neu, so einzigartig machte, so reich, so hoch, so göttlich —
Noch einmal riss er sich los, durchmass mit schweren Schritten den kleinen Raum und bezwang sich.
Aber das schwere Rauschen in seinen Gliedern dauerte fort.
„Höre, Toni, du musst selbständig werden,“ entschied er endlich mit kräftigem Entschluss.
„Ja,“ rief die Angeredete, stürmisch aufspringend; „du hast recht. Aber wie soll ich das werden?“
Er wandte wieder seinen Blick auf sie und sein Herz klopfte.
Warum?
Er begriff sich nicht. Vielleicht war er krank. Ganz zerschlagen fühlte er sich.
„Sag’, was soll ich werden?“ drängte die Fortgerissene von neuem.
In diesem Augenblick hatte die starke Einbildungskraft des Phantasten Macht über seine Zuhörerin gewonnen. Und nun ging es über Stock und Stein.
„Was soll ich werden? Ich tu alles, was du sagst.“
„Etwas recht Hohes — du sollst — sollst — ach, willst du nicht Schauspielerin werden?“
„Ich?“
Mitten in der kleinen Dachkammer und noch immer dicht umhüllt von der schützenden grünen Decke wuchs sie an. Zweifel kamen ihr.
„Schauspielerin? Ich?“ wandte sie zaudernd ein.
„Ja, ja, du hast eine schlanke Gestalt wie eine hübsche Weidengerte, Toni.“
„Ja?“ wachte sie auf, „hab’ ich die?“
„Und sprechende blaue Augen, die voller Leben sind.“
„Findest du? Ist das auch wahr?“
„Gewiss, wie kannst du nur zweifeln? In solch’ einem feierlichen Augenblick? Und dann — es geht von dir so etwas aus — —“
„Was? Sag’ doch schnell —“
„Solch eine Kraft — versteh’ mich recht — solch eine Macht, die bezwingt.“
„Ach, du Lieber, du Guter.“
Sie wollte auf ihn zustürzen, ihm die Hände drücken, sie küssen. Jedoch die Decke, die verwünschte lange Schleppe hinderte sie noch einmal.