Sieger. Detlef Vetten

Sieger - Detlef Vetten


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in den Waggon schmeißen geht auch nicht.

      Alles verheddert sich an der Klinke, ich renne neben dem Waggon her, der rechts von mir immer mehr an Fahrt aufnimmt.

      Ich laufe, laufe, laufe. Immer schneller. Die Hand am Griff der aufgeschwenkten Tür.

      Irgendwann kann ich das Tempo nicht mehr halten.

      Ich schlage mit dem linken Knie am Bahnsteig auf. Denke, jetzt ist die Kniescheibe in Stücken.

      Das Knie schlägt wieder und wieder auf.

      Das Ende des Bahnhofs kommt rasend näher. Und dann – wie soll ich es sagen? –, dann zieht es mich rein. Wusch!

      Ich rutsche aus.

      Wusch! Ich weiß ja auch nicht.

      Auf einmal ist es dunkel.

      Ich rechne damit, dass ich irgendwo aufschlage.

      Aber es zieht mich zwischen den Zug und den Bahnsteig in diese 30-Zentimeter-Lücke.

      Dann wird es dunkel. Und ich denke: ›So, jetzt wird es gefährlich.‹ Ich ziehe den Kopf ein. Sehen tue ich nichts mehr, weil ich die Augen zu habe.

      Ziehe den Kopf ein und denke: ›So klein wie möglich machen.‹ Dann tut es einen Schlag.

      Bumm!

      Ich kann nicht einschätzen, was los ist. Nur dieser Schlag. Bumm!

      Der Zug ist weg, es wird wieder hell, ich weiß, dass etwas Schlimmes passiert ist, da passt etwas nicht, kein Mensch in der Nähe, ich stehe auf und schleppe mich zurück zum Bahnhof, das ist ja ein ganzes Stück, es kommt mir vor wie zwei-, dreihundert Meter, ich erreiche den Bahnsteig.

      Da sitzt einer auf einer Bank.

      Der schaut mich an wie ein Alien. Ist so unter Schock, dass er gar nichts macht. Schaut nur. Stottert, ruft: ›Hilfe, Hilfe!‹

      Jemand anders kommt auf mich zu. Noch einer, noch ein paar. Sie ziehen mich aus dem Gleisbett auf den Bahnsteig, legen mich auf die Bank, so eine Holzbank.

      Dann liege ich da.

      ›Wahnsinn!‹, denke ich. Ich weine.

      Dann legt mir einer den Arm auf den Bauch. Der hängt noch in Fetzen am Körper, aber ich spüre ihn nicht. Das könnte auch der Arm eines Fremden sein, der da auf meinem Bauch liegt.«

       »Bitte net amputieren, bitte net amputieren!«

      Später wird er ein Gefühl zeitlebens nicht mehr los. Er hat keine Phantomschmerzen, von denen ihm andere Menschen berichten, denen Gliedmaßen abhanden gekommen sind. Aber auf der rechten Seite des Rumpfes schleicht sich immer mal wieder so ein Kribbeln ein. Oder alles ist ganz taub. Das hat er in den Oberschenkeln – vor allem nachts und morgens. Und das kann auch in einem Arm auftreten, den es nicht mehr gibt.

      Auch 26 Jahre nach dem Unfall, den er Abertausende Male in seinen Erinnerungen hat ablaufen lassen, kann Schönfelder nicht erklären, was genau geschehen ist. Dabei ist er ein rationaler Mensch, der den Dingen auf den Grund geht. Er will begreifen, wie etwas funktioniert – dann kann er darüber auch nachdenken. Er analysiert Probleme, um sie zu lösen. Aber die Sache mit dem Arm ist so ungeheuerlich, wie soll man die erklären?

      »Ich nehme mal an, dass irgendwas unten am Zug rausgestanden ist, der Oberarm ist in die Schulter reingedrückt und anschließend mit der Schulter aus dem Oberkörper gerissen worden. Da sind alle Nerven aus dem Rückgrat gefetzt worden – alles, was eben an so einem Arm dranhängt. Geblieben ist schließlich nur dieses Phantomgefühl. Eine Taubheit in den Fingern, die es ja gar nicht mehr gibt. Eine Erinnerung an ein Körperteil, das mal zu mir gehört hat. Verrückt, oder?«

      »Ich liege also auf dem Rücken, und sie legen mir den Arm auf den Bauch. Dass auch mit der linken Hand ein Unglück geschehen ist, merke ich gar nicht. Keine Schadensmeldung ans Gehirn, kein Alarm, kein Schmerz. Mir ist nicht bewusst, dass die auf der Schiene liegt.

      Ich überlege: ›Soll ich den rechten Arm anschauen oder nicht?‹ Ist ja seltsam, was in einem Menschen in so einem Moment vorgeht.

      Arm auf dem Bauch. Die Ahnung, etwas ist ganz schlimm. Und das ganz klare Abwägen: ›Eigentlich mag ich gar nicht hinschauen. Aber andererseits – wenn ich jetzt nicht gucke, werde ich das alles vielleicht nie mehr sehen. Das ist meine letzte Chance.‹

      Also, ich gucke und stelle fest, dass die rechte Hand da ist. Aber sie hat eine unnatürliche Farbe, so ein dunkles Lila habe ich noch nie an einem Menschen gesehen. Die Hand ist ganz, aber in ihr zirkuliert kein Blut mehr.«

      Wenn er das erzählt, bemüht er sich um einen beiläufigen Ton. Er beschreibt seinen abgerissenen Arm, das Aufschlagen der Knie auf dem Bahnsteig, das Mitgeschleiftwerden umsichtig und mit Sorge um jedes Detail.

      Ob ihm das schwerfällt?

      Gerd Schönfelder schweigt einen Augenblick, weil er nichts Falsches sagen will. Die Antwort kommt zögernd: »Noja, man durchlebt es halt noch einmal ein bissl. Aber es ist jetzt nicht schlimm.«

      Nein, er merkt, so geht es nicht. Er mag ja nichts Unwahres sagen.

      »Aber es ist schon intensiv. Wenn du das so in den Einzelheiten erzählen willst, dann musst schon noch mal – dann muss das eben noch mal so ablaufen.«

      Aber wie kann man so eine Erinnerung ertragen? Sieht er sich da wie in einem Film von außen?

      »Nein!«, sagt Schönfelder sehr schnell und mit starker Stimme. Das muss er jetzt schon einmal klarstellen: »Das schaue ich mir doch nicht von außen an. Da bin ich ganz in mir drin, das ist lebendig. Wie ich da so liege und sage: ›Bitte net amputieren, bitte net amputieren!‹ Das sehe ich so, wie ich es erlebt habe. Davor will ich mich doch nicht drücken.«

      »Und dann sage ich immer: ›Bitte net amputieren, bitte net amputieren!‹ Mittlerweile ist auch ein Arzt in Zivil da. Der beruhigt mich, man werde das schon wieder hinbekommen. Aber ich muss mir die Bescherung nur angucken, dann merke ich schon, dass ich ein Problem habe.

      Die Knochen stehen in die Luft, die Haut ist in Fetzen. Da ist nichts mehr normal.

      Die Leute versuchen, die Blutung zu stoppen. Mittlerweile sind auch die Sanitäter und der Notarzt da. Sie heben mich auf eine Trage, schaffen mich zum Rettungswagen, es geht mit Blaulicht zum Krankenhaus in Hersbruck, ich komme in die Notaufnahme, drei Ärzte kümmern sich um mich.

      Mit der Zeit sind diese Schmerzen gekommen. Sie werden immer heftiger. Ich liege in der Notaufnahme und halte es nicht mehr aus.

      ›Jetzt müsst’s mir was geben!‹

      Dann gehen die Lichter aus.«

      Wenn er es noch einmal ablaufen lässt nach all diesen Jahren, sieht er jedes Mal von Neuem auf einen Gerd Schönfelder, der ihm fremd ist. Da liegt einer, dem gerade der Arm abgerissen worden ist. Der junge Mann schleppt sich blutend zurück zum Bahnhof. Er denkt und redet mit den Leuten …

      »Und am Anfang betäubt der Schock alles. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren. Tat es weh? Brannte es? Zog es? War’s kalt oder heiß? Wie soll man das erklären? Ich denke, es war so, als ob einem jemand mit einem Vorschlaghammer auf die Kniescheibe haut – im ersten Moment kannst du nicht sagen, ob es wehtut oder nicht.«

      Das war, sagt er, ein so dumpfes Ding in seinem Körper, dass er nichts mehr einordnen konnte. »Wenn du dir nur in den Finger schneidest oder in einen Nagel trittst, weißt du, wie weh es tut.« Aber damals auf dem Bahnhof hat ihn im ersten Augenblick der Körper mit seinem Schockreflex beschützt.

      Der Hubschrauber bringt den erstversorgten Gerd Schönfelder ins Klinikum Erlangen. Acht Stunden wird er operiert. Ein Team hält ihn am Leben. Da sind die Spezialisten fürs Amputieren, fürs Retransplantieren, die Haut- und Gefäßexperten, Neurologen.

      Die Task Force wird von Walter Wagner geleitet. Das ist ein erfahrener Mann – aber ein solcher Fall kommt ihm auch nicht so oft auf den Tisch. Jahre später treffen der Chirurg und der mittlerweile schon erfolgreiche


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