Sieger. Detlef Vetten
Tagelang im Delirium
Schönfelder wacht auf. Na ja, »wach« ist das falsche Wort. Er duselt tagelang in einem Delirium. Das Zimmer ist abgedunkelt. Immer wieder huscht eine Schwester herein und sieht nach dem Rechten. Der Arzt kümmert sich. Apparate fiepen, durch Kanülen wird der Körper mit Überlebensmedizin und Schmerzmitteln versorgt.
Um sieben Uhr morgens wird am Dienstag sacht die Tür geöffnet. Die Mutter und der Vater drücken sich ins Zimmer. Sie haben am Vorabend vom Unfall erfahren und sich nach schlafloser Nacht ins Auto gesetzt. Nun treten sie ans Bett und sehen den Buben.
Wachsweiß. Hängt an Schläuchen. Ist am ganzen Körper bandagiert. Die Mutter und der Vater zwingen sich, nicht zu weinen. Was für eine Ohnmacht.
Sie kommen jeden Tag. Sitzen am Bett und sehen zu, wie der Sohn um sein Leben ringt. Jeden Tag wird es ein wenig besser. Irgendwann sagt der Doktor, der Bursche werde es packen. Die Eltern sehen auf den bandagierten Körper und richten sich auf den Kampf für ihren Sohn ein.
Wie das alles wird?
Wer weiß so etwas schon? Wer rechnet mit so einem Unglück?
Eines Tages kommen sie in dieses Zimmer, und der Sohn schaut sie an. Man braucht ja nicht groß über Gefühle zu reden, man hat sie für den anderen. Man weiß, wie mächtig Sorgen sein können.
Gerd also sieht seine Eltern an und sagt (seine Stimme ist nicht mehr so dünn wie anfangs, sie klingt schon wieder voll und zuversichtlich wie vor dem Unfall): »Jetzt macht’s euch amal keinen Kopf. Die Füß sind ja noch dran.«
Der Chefarzt tritt ans Bett des Patienten. Er spricht ein paar Takte mit Gerd Schönfelder, der sich schwertut, zu folgen. Die OP ist zwei, drei Tage her, noch ist alles verschwommen.
Walter Wagner sagt etwas Beruhigendes, dann unterhält er sich mit Gerds Eltern, die die Szene im Hintergrund verfolgt haben. Das dringt in Schönfelders Bewusstsein, aber so, als sprächen die Eltern und der Doktor über einen Fremden. Nur Fetzen bleiben hängen. Ihm ist zumute wie einem blöd Betrunkenen – der hört zu, aber eigentlich ist ihm alles auch wieder wurscht.
»Er ist über den Berg …«
»Man wird sehen, was mit dem linken Arm möglich …«
»Erst einmal müssen wir den Kreislauf stabilisieren …«
»Die Schmerzen sind am ganzen Körper …«
»Du wirst immer klarer im Kopf. Und realisierst immer mehr: ›Ach, Scheiße, es ist jetzt wirklich so.‹ So schlimm, so unwiderruflich schlimm. Zefix, der Arm ist weg – und er wird auch nicht mehr kommen.
Das Ausmaß wird deutlicher und deutlicher. Du hast jetzt echt ein Problem.«
Für den ungeduldigen Mann, der vor ein paar Tagen noch die Welt hätte einreißen können, ist es ein Martyrium. Da liegt er und denkt an den Arm, der ihm weggekommen ist.
Gerd Schönfelder mag es nicht, zu jammern. Wenn er sich vor dem Unfall ein Unglück eingefangen hat, hat er nicht lange geklagt. Er hat sich geschüttelt, nach vorne geschaut, seine Zukunft für sich hingebogen.
Es gibt einen Sportlerspruch für den Fall, dass etwas schiefgelaufen ist: Mund abputzen, weitermachen! Das heißt: Die blöde Geschichte abhaken, es werden bessere Tage kommen.
Nun liegt er da und kann sich kaum rühren. Er hat Schmerzen wie noch nie in seinem Leben. Der Arm ist ab.
Gerd reißt sich zusammen und versucht, positiv zu denken. Da gibt es ja noch die linke Hand, immerhin. Die steckt zwar im dicken Gips. Aber er spürt sie noch. Die ist ja da, die Hand. Die Nerven spielen ja Klavier in seinem Kopf. Das ist doch okay. Herrgott noch mal, nun ist das Unglück passiert, jetzt kann er es auch nicht mehr ändern.
Mund abputzen! Weitermachen!
Dann wechseln sie den Gips. Schönfelder schaut der Schwester zu, wie sie behutsam alle Verbände löst.
»Und da sehe ich, dass praktisch nichts mehr übrig ist. Nur der Daumen. Sonst ein Rest vom Handballen – und nix. Nichts. Nix mehr.
Nix – kann man sagen.
Der Daumen ist schwer verletzt, fixiert in einem Durcheinander von Eisen und Schrauben. Der sieht nicht gut aus, echt nicht. Das ist der nächste Schock.
Heftig. Dieses ungewohnte Bild. Das muss dein Hirn doch erst mal verarbeiten, dass das deins ist.
So schaust du also jetzt aus. Ein Arm weg. Ein Daumen und nix. Ein paar Tage vorher bin ich noch braungebrannt gewesen, kurz nach dem Urlaub. In bester Form. Ich bin voll im Saft gewesen, ein sportlicher Kerl. Und nun kann ich zusehen, wie die Muskeln von Tag zu Tag verkümmern, wie ich weniger und weniger werde. Ich bin nicht mehr braun, ich bin käsweiß. Alles, die Bräune, die Kraft, alles ist so schnell weg, als würdest du das Licht ausmachen.
Und dieser kaputte Daumen als Rest.
Ich bin so, bin so … so verstümmelt.«
Dazu kommt, dass Gerd Schönfelder von Hals bis Fuß ramponiert ist. Das Knie ist kaputt, am rechten Knöchel müssen die Ärzte reparieren.
Das Schmerzhafteste sind die Verletzungen am Gesäß. Mit der linken Seite ist Gerd auf einen Gegenstand geknallt. Könnte die Bahnsteigkante gewesen sein. Dabei ist der Ischiasnerv gequetscht worden.
Das linke Bein ist »von der Ansteuerung her total im Eimer«. Es droht ein Spitzfuß, weil die Muskeln die unteren Extremitäten nicht mehr bewegen. Gerd wird eine Plexusschiene angepasst, die den Fuß nach oben zwingt. Das muss sein, um die nächste Behinderung zu vermeiden. Folge der Schiene: Nach ein paar Tagen kann der Patient seinen Fuß nicht mehr nach unten drücken.
Die Schmerzen, die vom Ischias und vom Hintern ausgehen, sind kaum auszuhalten. Ein riesiger Bluterguss ist aus dem Fleisch geschnitten worden. Gerd liegt auf einem Spezialbett – doch das hilft nicht viel. Die vielen Schmerzmittel vernebeln den Kopf – aber nach einer Viertelstunde wirken sie nicht mehr gegen die Qualen.
Den Schmerz hat er in großer Intensität bis Weihnachten. Die ersten zwei Wochen ganz extrem, es wird mit der Zeit ein wenig besser, aber weh tut es Tag und Nacht.
Bier auf ärztliche Anweisung
Zwei Wochen liegt er in Erlangen. Nach zehn Tagen kann er sich leicht aufsetzen, er schafft es in den Rollstuhl. Er wiegt noch 57 Kilo, bei einer Größe von 1,85 Meter, vor dem Unfall sind’s 78 gewesen.
Er bekommt Fresorbin. Das schmeckt wie dicker Kakao. Einen Liter soll er hinunterwürgen, damit er wieder ein wenig Gewicht zulegt. Gerd graut es vor der Pampe, er kann das Gebräu nicht mehr sehen.
Arztvisite.
»Na, wie geht’s, Herr Schönfelder? Sie machen Fortschritte, Respekt. So einen wie Sie haben wir noch nicht gehabt. Jetzt müssen Sie wieder zunehmen, dann geht es auch bergauf.«
Schönfelder schweigt grimmig.
»Stimmt etwas nicht? Können wir was tun?«
Schönfelder meint: »Naa, passt schon. Wird schon wieder.« Er mag es nun mal nicht, wenn andere Mitleid haben. Außerdem ist er keiner, der sich beschweren würde.
»Sagen S’ schon, was ist es?«
»Ah, des Fresorbin, Herr Doktor.«
»Was ist damit?«
Es bricht aus ihm heraus: »Des kannst doch net saufen. Ich hab eh schon keinen Hunger, aber des Zeug verdirbt einem ja den letzten Appetit. Ich mag das nicht mehr trinken – und wenn ich’s trink, dann mag ich schon gar nichts mehr essen.«
»Ja, das verstehe ich. Aber wir müssen schauen, dass Sie wieder zu Kräften kommen. Auf was hätten S’ denn Lust?«
Schönfelder sieht den Arzt an. Ja, der meint es ernst mit seiner Frage.
»Also, wenn Sie es wirklich wissen wollen – auf ein Bier hätt ich Lust.«
»Patschbumm!