Worte verletzen ... und Schweigen tötet. Karin Waldl
Dass sie seine Nähe nie haben könnte, weil er Geistlicher war, gab Nele das erste Mal einen Stich ins Herz. Er war ihr Held und Retter, mehr durfte das nicht bedeuten. Er hatte sie nur vor Julian bewahrt, von dem sie nicht glauben wollte, dass er zu so was fähig war. Als Nikolaos sie absetzte, um die Polizei zu rufen, blieb eine schmerzhafte Leere in Neles Herz. Vielleicht war es doch ihre Bestimmung, ohne Partner zu sein, und sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Schließlich durfte sie nicht undankbar sein, denn das, was sie mit Jan hatte erleben dürfen, durften nicht viele Menschen erleben – eine aufrichtige, ehrliche und intensive Liebe.
Die Sanitäter nahmen Julian im Rettungswagen mit, begleitet von der Polizei. Nele und Nikolaos mussten sich den langwierigen Befragungen der Beamten stellen und deshalb auf die Polizeistation mitkommen. Auf dem Revier stellte sich heraus, dass Nele mit einem blauen Auge davongekommen war, denn ihr Peiniger war tatsächlich bereits mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt worden, aber jede dieser Frauen hatte im Nachhinein die Anzeige zurückgezogen. Es lief bereits ein Ermittlungsverfahren, ob er seine Opfer zusätzlich unter Druck setzte, ihnen zusätzliche Angst und Schrecken einjagte, damit sein gewalttätiges Treiben nicht bestraft wurde von öffentlicher Hand.
Nikolaos durfte anschließend mit Nele die Polizeistation wieder verlassen. Schließlich hatte er in Notwehr gehandelt. Martha hatte ihn Gott sei Dank auf den Plan gerufen und war an seiner statt bei Samuel und Jonas, damit der Priester der Mutter der Jungen zur Rettung eilen konnte. Nele hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrer Freundin nicht geglaubt und Martha ihr trotzdem umgehend geholfen hatte. Sie würde sich bei ihrer Freundin entschuldigen müssen.
Am verwirrendsten aber waren im Moment die unwillkommenen Gedanken, die Nele über Nikolaos im Kopf herumschwirrten. Er war ihr Held, aber das war nicht das Problem. Ein unbeschreibliches Verlangen nach diesem Mann machte sich in ihr breit. Auch das noch, konnte sie sich nicht im Zaum halten? Ihr Herz meldete sich anscheinend zu den unpassendsten Zeiten zu Menschen, gegenüber denen sie keine Zuneigung empfinden sollte. War seit dem Tod ihres Ehemannes irgendetwas falsch gepolt in ihrer Gefühlswelt? Oder war es eine unbewusste Reaktion ihres Verstandes, um ihr zu zeigen, dass sie immer noch nicht bereit war, einen anderen Mann zu lieben?
Plötzlich vermisste sie Jan schmerzlich, wäre er doch nicht gestorben, hätte sie niemals über so etwas nachdenken müssen. Wieder einmal wünschte sie sich, dass er nie krank geworden wäre, aber Wünsche brachten einen im Leben leider nicht weiter.
Um von ihrem eigenen Gefühlschaos abzulenken, erzählte Nele Nikolaos von ihrem wiederkehrenden Traum von Peristera, natürlich ohne die Worte der Inschrift zu erwähnen.
„Ich kenne diese Geschichte. Die Kirche in meinem Heimatort ist der heiligen Peristera geweiht“, erklärte der Priester.
Nele starrte ihn fassungslos an: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte, das sind Hirngespinste.“
Nikolaos redete einfach weiter: „Die Inschrift, die sie am Altar anbrachte, konnte bis heute keiner deuten. Das ist sehr geheimnisvoll und faszinierend für die Menschen, deshalb kommen viele, um das Geschriebene zu sehen. Warte, ich glaube ich weiß noch, was sie eingraviert hatte: Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung.“ Jetzt starrte der Priester Nele in peinlicher Stille an, ehe er sie fragte: „Welche Liste?“
Nele konnte sich vor lauter Schreck nicht einmal eine Notlüge zusammenbasteln, sie stammelte: „Ich hatte eine Liste von Männern, Bekanntschaften aus meiner Vergangenheit. Ich hoffte, dadurch wieder einen Ehemann zu finden, was im Nachhinein gesehen sehr naiv war, denn Julian stand auch auf dieser blöden Liste.“
Nikolaos hörte einfach nicht auf, Nele mit offenem Mund anzublicken. In ihr stieg Panik hoch. Wie konnte sie einem Geistlichen nur so etwas sagen? Was dachte er jetzt bloß? Natürlich musste er schockiert sein. Der Fluchtinstinkt meldete sich in ihr, Nele machte auf dem Absatz kehrt und ließ den erstaunten Priester einfach stehen. Hoffentlich würde er ihr irgendwann dieses peinliche Gespräch verzeihen, aber für den Moment musste sie einfach nur weg, es war besser so.
Nachdem sich alles etwas gesetzt hatte und genügend Zeit vergangen war, verbrannte Nele die Liste, die ihr eindeutig kein Glück gebracht hatte, und beschloss, sich mehr ihren Söhnen zu widmen. Sie entschuldigte sich auch bei Martha. Sie war eine sehr gute Freundin, denn sie war kein bisschen böse, hatte sich nur große Sorgen gemacht und das zu Recht – Julian saß im Gefängnis und wartete auf seinen bevorstehenden Prozess.
Außerdem organisierte Nele eine gemütliche Gartenparty zur Taufe von Lisas Baby. Die frischgebackene Mutter freute sich riesig über dieses besondere Geschenk der Taufpatin ihrer Tochter. Die Feier rundete die gelungene Taufe harmonisch ab und die Stimmung war glänzend. Die kleine Nele, die der Mittelpunkt der Feierlichkeiten war, schlief gerade seelenruhig in ihrem Kinderwagen und bekam von dem Trubel um ihre Taufe gerade nichts mit.
Nach ein paar Gläsern Wein hielt Nele eine Rede. Sie dankte darin Gott für die Ehe von Lisa und Noah und für das Mädchen, das aus dieser Verbindung hervorgegangen war und das heute getauft wurde, weil es Gottes geliebtes Kind war.
„Ich hoffe für dich auch, dass du noch einmal die Chance bekommst, zu heiraten“, sagte Lisa dankbar und merkte erst, als sie es vor allen ausgesprochen hatte, dass sie, ohne es zu wollen, wahrscheinlich einen wunden Punkt im Herzen von Nele getroffen hatte.
Aber diese reagierte souverän: „Ich bin eine starke Frau und komme ebenso gut allein zurecht. Meine beiden jungen Männer sind mir Geschenk genug, außerdem hatte ich eine wunderbare Ehe mit Jan. Prost auf die kleine Nele. Möge ihr ein glückliches, langes und vor allem gesegnetes Leben bevorstehen.“
Alle klatschten, nur einer war sichtlich unzufrieden. Nikolaos stand plötzlich eindeutig empört auf, sodass nur die gratulierende Nele und er standen, alle anderen blickten sie an und fragten sich wahrscheinlich, was das sollte. Unerwartet ergriff er ebenfalls vor versammelter Feiergemeinde das Wort: „Und was ist mit mir, Nele? Ich liebe dich und möchte mit dir zusammen sein.“
Ein schockiertes Tuscheln ging durch die Reihen. Nele war es peinlich, dass der Priester ihr öffentlich seine Liebe gestand, noch dazu im Beisein ihrer Söhne. Aber sie beschloss trotzdem, ehrlich zu sein: „Ich liebe dich auch, aber du bist doch Priester. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen dein Gelübde brichst. Die Menschen brauchen dich.“
Die Anwesenden hatten nun jede Aufmerksamkeit auf die beiden gerichtet. Es entging niemandem, dass Nikolaos aus vollstem Herzen auflachte. Keiner konnte sich dieses eigenartige Verhalten erklären. Ratlos blickten sich alle an. Aber er löste Gott sei Dank mit seiner Erklärung die peinlich anmutende Situation umgehend auf: „Nele, ich habe mich keinem Zölibat verpflichtet. Ich bin nicht römisch-katholisch, sondern griechisch-katholisch und gehöre somit zu den wenigen katholischen Priestern, die heiraten dürfen.“
„Es gibt in der katholischen Kirche verheiratete Priester?“, fragte Nele ungläubig nach.
„Ja, es sind sehr wenige, aber es gibt sie“, sagte er lächelnd.
Nele brauchte einen Moment, ehe sie begriff, was Nikolaos gesagt hatte. Dann stürmte sie auf ihn zu. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich. Ein unbeschreiblich gutes Gefühl erfüllte Neles Herz. Alle um sie herum applaudierten lautstark. Nele fand in diesem besonderen Augenblick ihr Glück wieder, alles ergab plötzlich einen Sinn. Gottes Schönheit hatte sich schon immer im Spiegel ihrer eigenen Seele gezeigt, nur war Nele das bis jetzt nicht ganz klar gewesen. Sie spürte deutlich das Geschenk eines wunderschönen Lebens, sie war wieder bei sich selbst angekommen.
Es war sogar fast so, als berührte Jan sanft ihre Schulter und flüsterte ihr zu: „Gut gemacht, Liebling. Du warst schon immer im Herzen Gottes zu Hause, darin liegt die wahre Schönheit des Lebens, im Lieben und Geliebt-zu-werden.“
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Kapitel 3
„Emilia, du hast mich ernsthaft überrascht. Ich dachte anfänglich, dass du unheilbar psychisch krank bist. Aber das kann nicht sein, sonst würdest du nicht so schöne