Worte verletzen ... und Schweigen tötet. Karin Waldl

Worte verletzen ... und Schweigen tötet - Karin Waldl


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war warmherzig und hörte den Menschen zu, ehe er mit seinen guten Worten Zuwendung und Vertrauen schenkte. Dadurch wurde er bei den meisten mit offenen Armen empfangen. Die paar, die ihn noch argwöhnisch anblickten, würden sich auch noch an seine Anwesenheit gewöhnen, da war sich Nele ziemlich sicher. Sie selbst hatte endlich jemanden gefunden, der ihr Gottes Gegenwärtigkeit in ihrem Leben sehr bildhaft erklären konnte. Sie verbrachte gerne Zeit in seiner Nähe, um ihm zu helfen, sich einzuleben, denn sie profitierte selbst davon. Sogar ihre Söhne fanden den neuen Priester cool. Nur die Tatsache, dass Nikolaos sehr hübsch war, irritierte Nele. Deshalb war sie mehr als erleichtert, als es endlich zum Date mit Julian kam.

      Das Zusammentreffen mit Julian lief im Großen und Ganzen gut. Nele war bei ihm zu Hause in seiner prunkvollen Villa. Er hatte sie im Vorfeld gebeten, einen Bikini mitzubringen. Und so sonnten sie sich gemeinsam am Pool, tranken Cocktails und gingen im lagunenartigen Blau schwimmen. Im Wasser benahmen sich die beiden albern, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser und begannen, wie Jugendliche zu rangeln.

      Plötzlich drückte Julian Nele an sich und küsste sie. Nele freute sich über diese zärtliche Berührung, dieses Mal sprach ja nichts dagegen. Doch die Begeisterung war von kurzer Dauer, denn Julians Hände wanderten gleich zu ihren Brüsten und er flüsterte ihr ins Ohr: „Ich will mit dir schlafen.“

      Nele löste die Umarmung und erwiderte: „Julian, das geht mir zu schnell.“

      Unvermittelt schrie er hysterisch los: „Was soll das? Küssen lässt du dich und dann machst du einen Rückzieher?“

      Nele starrte ihn schockiert an, seine Reaktion war eindeutig überzogen.

      Julians Miene hellte sich aber wieder auf, reumütig gestand er: „Entschuldigung, Nele, das war dumm von mir. Mein Stress in der Arbeit steigt mir viel zu sehr zu Kopf. Ich hatte heute schon einen schrecklichen Tag. Natürlich darfst du das Tempo bestimmen.“

      Nele war hin- und hergerissen, als er sie erneut vorsichtig küsste. Aber dieses Gefühl auf ihren Lippen, das sie seit Jahren nicht gespürt hatte, entfachte die Sehnsucht in ihrem Herzen nach Zuneigung und zärtlicher Nähe. So ließ sie ihn gewähren, verzieh ihm innerlich seinen eigenartigen Wutausbruch. Doch das ungute Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, fand trotzdem weitere Nahrung und war keinesfalls aufgehalten.

      Pater Nikolaos überraschte Samuel und Jonas mit einem Ausflug zu einem Fußballspiel. Die Jungen freuten sich riesig und ihre Mutter war glücklich, dass sie es im Vorfeld dem Priester erlaubt hatte, ihre Jungs mitzunehmen. Er kümmerte sich rührend um die beiden. Sie schlossen ihn sofort in ihr Kinderherz, da sie endlich ein männliches Vorbild hatten, welches ihnen seit dem Tod ihres Vaters so sehr gefehlt hatte. Nele freute dieser Anblick, wie sehr hatten ihre Söhne es verdient, dass es ihnen gut erging nach alledem, was sie in der Vergangenheit hatten durchmachen müssen, als sie ihren Vater verloren.

      Nele fuhr inzwischen zu Julian, um mit ihm zu sprechen. Die Zweifel, dass sie die Finger von ihm lassen sollte, verstummten nicht in ihr. So löcherte sie ihn mit Fragen, die er charmant und zuvorkommend beantwortete. Er küsste sie erneut und die Hoffnung auf ein Happy End keimte in Nele wieder auf. Er versprach sogar, sie nie wieder zu bedrängen. Fröhlich machte sie sich auf den Nachhauseweg und wischte die übrig gebliebenen Zweifel weg. Vielleicht konnte es wirklich sein, dass sie einfach einmal Glück hatte.

      In Neles Garten wurde gegrillt, als sie zu Hause ankam, ihre Söhne und Nikolaos schrien lautstark und euphorisch: „Überraschung!“

      Und der Priester fügte noch hinzu: „Die gemeinsame Zeit beim Fußballspiel war so kurz, jetzt dachten wir, dass ein gemeinsamer Grillabend nett wäre. Ich hoffe, du freust dich.“

      „Und wie!“, strahlte Nele übers ganze Gesicht.

      Gemeinsam mit ihren Jungen deckte sie den Tisch und stellte ein paar dekorative Kerzen dazu, die herrlich dufteten, als man sie entzündete. Das gesellige Essen war kurzweilig und lustig. Sie hielten sich die Bäuche vor Lachen. Die vier hatten fast den Anschein einer glücklichen Familie. Wenn man nicht wusste, dass Nikolaos Priester war, würde man ihn als Außenstehender in diesem besonderen Moment für den Familienvater halten.

      „Gibst du mir den Salat?“, bat der Priester. Als Nele ihm die Schüssel reichte, berührten sich zufällig ihre Finger. Es war elektrisierend und steigerte sich zu einem warmen, wohligen Empfinden auf Neles Haut. Sie schämte sich in Gedanken für ihre unpassenden Gefühle. Schließlich hatte er ein Gelübde abgelegt. Trotzdem sollten dieser idyllische Abend und Nikolaos selbst ihr in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen.

      Der Traum von Peristera kehrte zurück. Wieder stand Nele in der mittelalterlichen Kirche und beobachtete die Frau, als sie die Inschrift am Altar anbrachte. Die Männer zerrten Peristera wenig später gewaltsam hinaus, die Schreie der johlenden Menschenmenge drangen abermals in das heilige Gemäuer und hallten von den Wänden hernieder. Nele zog es nach draußen, um die Errettung vom Scheiterhaufen durch den Engel zu sehen. Aber kurz hielt sie inne und entschied sich doch anders. Sie ging zum Altar und sah zum ersten Mal klar die fremdartigen Zeichen vor sich, die Peristera in den Stein geritzt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund verstand Nele, was dort stand, obwohl sie sicher war, diese Sprache nicht gelernt zu haben. Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung, stand dort geschrieben. Vor Schreck taumelte sie zurück und fiel – das war unmöglich.

      Schreiend wachte sie auf, ihr Herz raste. Keuchend versuchte Nele, zur Besinnung zu kommen. Was sollte das? So etwas konnte und durfte nicht sein, was sich ihr Unterbewusstsein da über alle Maßen Verrücktes ausmalte. So tat sie den Traum als Hirngespinst ab, etwas anderes war einfach nicht vorstellbar. Anscheinend war sie doch noch verwirrter, als sie angenommen hatte. Schließlich hatten sich viele Glücksmomente in ihrem Leben eingestellt.

      Das Telefon läutete, Nele ging ran und eine aufbrachte Martha meldete sich am anderen Ende: „Nele, triff dich bitte nicht mehr mit Julian. Ich habe gerade erfahren, dass er beschuldigt wird, mehrere Frauen sexuell belästigt zu haben.“

      Nele atmete tief durch, ehe sie antwortete: „Es würde mich interessieren, wer das behauptet.“

      „Ich habe es von einer Nachbarin, deren Schwester hat eine Freundin und deren Ehemann ist mit einem Staatsanwalt befreundet, der den Fall zugeschrieben bekommen hat.“

      „Martha, tut mir leid, für solch eine Gerüchteküche habe ich keine Zeit. Julian besucht mich gleich“, tat Nele die Worte ihrer Freundin ab.

      „Nein, Nele, lass ihn nicht herein“, flehte Martha ängstlich.

      „Das ist doch lächerlich. Meine Jungen sind bei Pater Nikolaos und Julian und ich machen uns einen schönen Nachmittag“, sagte Nele nachdrücklich und legte auf, als Julian auch schon an der Tür läutete.

      Er bezauberte Nele erneut mit seinen zärtlichen Küssen. Diesmal ließ Nele es zu, dass er ihre Brüste leicht massierte, es war ein angenehmes Gefühl. Julian stöhnte ihr erregt ins Ohr: „Schlaf mit mir.“

      Doch dafür war Nele noch immer nicht bereit, zu Sex gehörte mehr als nur anfängliche Schwärmereien. Sie machte ihren Standpunkt klar und weigerte sich erneut, sich zu früh für diese besondere Intimität zu öffnen. Doch Nele hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Julians Augen blitzten wutentbrannt auf, er verbog blitzschnell Neles Hände und hielt sie fest. Sie schrie laut auf vor Schmerz, aber Julian kümmerte das wenig. Er versuchte, Nele die Hose auszuziehen, während er sie gewaltsam fest umklammerte. Nele war nun eindeutig klar, dass er sie zu vergewaltigen versuchte. Sie probierte panisch und mit aller in ihr steckenden Kraft, sich zu wehren, aber sie hatte keine Chance gegen ihn. Verzweifelt flehte sie Julian um Erbarmen an, doch der dachte gar nicht daran.

      Genau in diesem Moment stürmte Nikolaos das Zimmer, riss Julian mit unmenschlicher Stärke in die Höhe und schleuderte ihn gegen die Wand. Dieser blieb bewusstlos am Boden liegen. Nele weinte, einerseits wegen des Schocks, andererseits aus Erleichterung. Der Priester hob sie behutsam hoch auf seine Arme und trug sie ins Badezimmer. Seine sanften Augen schienen ihr in die verletzte Seele zu schauen. Diese wohlige Wärme, die Nikolaos’ Körper an Nele abstrahlte, war


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