Worte verletzen ... und Schweigen tötet. Karin Waldl
stand wieder in der erstaunten Menschenmenge, die sich betend und ehrfürchtig niedergekniet hatte. Kurz zuvor hatten sie noch tobend den Tod der vermeintlichen Hexe Peristera gefordert. Von dem Engel, der sie vor wenigen Augenblicken gerettet hatte, oder Peristera selbst war nichts mehr zu erkennen am Himmel. Nur ein unnatürliches, schwach leuchtendes Licht war am Firmament geblieben, entschwand dann langsam, aber sicher in der Höhe, ehe es stockfinster war. Nele erinnerte sich an diese Szene, denn sie war in ihren Träumen schon hier gewesen.
„Die Inschrift“, schoss es Nele unerklärlich durch den Kopf. Sie schaute sich zögernd um und zog langsam schleichend den Rückzug an. Doch keiner achtete auf Nele, denn die Leute konnten immer noch nicht glauben, was sie Fantastisches gesehen hatten. Keiner traute sich, etwas zu sagen, sonst hätten sie die niederschmetternde Vermutung anstellen müssen, dass sie beinahe eine Heilige verbrannt hätten, wenn sich sogar der Himmel für sie öffnete und einen strahlenden Boten Gottes schickte, um diese außergewöhnliche Frau zu retten.
Wenn sich Nele recht an den Geschichtsunterricht über das Mittelalter erinnerte, würde jeden der hier Anwesenden über kurz oder lang die Angst überfallen für das, was er in dieser Nacht getan hatte, ewig in der Hölle zu schmoren. Aber darüber wollte Nele nun nicht weiter nachdenken, sie musste in die Kirche zurück, um die Inschrift zu lesen, die Peristera am Altar angebracht hatte. Sie schlich sich davon, kaum war sie außer Sichtweise, eilte sie zurück in das kalte Gemäuer. Schnell erreichte sie mit hastigen Schritten den Altar und wollte sich gerade bücken, um die Buchstaben zu entziffern, die Peristera hier eingraviert hatte, ehe die Männer sie gewaltsam nach draußen gezerrt hatten, um sie am Scheiterhaufen zu verbrennen.
Ein Hundebellen weckte Nele unsanft mitten in der Nacht. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wo sie war, ihre Gedanken hingen immer noch bei der Inschrift, die Peristera im Traum in den Altar geritzt hatte. Es wurmte Nele, nicht zu wissen, was diese scheinbar besondere Frau der Nachwelt hinterlassen wollte. War es doch von Bedeutung, weil der Traum wiedergekehrt war? Wahrscheinlicher war, dass das alles nur ein Hirngespinst und nicht sonderlich bemerkenswert war. So wischte Nele den Gedanken weg, aber es blieb Unsicherheit in ihrem Herzen zurück, eine leise Ahnung, dass das Ganze etwas mit ihr selbst zu tun haben könnte.
Nele blickte sich bewusst im Zimmer um, jetzt kam ihr wieder in den Sinn, wo sie war, in dem schäbigen Motel, um ihre Suche nach einem geeigneten Mann möglichst schnell fortführen zu können. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst vier Uhr morgens war. Erschöpft versuchte sie, wieder einzuschlafen, aber sie war zu aufgewühlt dafür. Langsam verstrichen die Minuten, während sie auf den Morgen und die ersten Sonnenstrahlen wartete.
Mann Nummer drei auf Neles Liste hieß Manuel. Nach einem kargen Frühstück, bestehend aus Milchkaffee und einer Buttersemmel, machte sie sich abermals unsicher auf den Weg. Sie kannte Manuel aus ihrer damals ehrenamtlichen Arbeit, als sie noch selbst eine Jugendliche war. Nele war in der Pfarre aktiv und betreute gemeinsam mit Manuel Jungscharkinder. Sie waren die Gruppenleiter einer schwer zu bändigenden, aber herzlichen Rasselbande. Manuel war in Nele verliebt und versuchte mehrfach, sie zu erobern. Aber sie ließ ihn immer wieder abblitzen, was ihr jedes Mal ziemlich leidtat, denn sie mochte den Jungen sehr. Doch damals betrachtete sie ihn ausschließlich als guten Freund, schließlich arbeiteten sie Seite an Seite mit den Kindern. Außerdem waren Philipp und Nele zu dieser Zeit ein Paar, die Sympathie zu Manuel musste dadurch hinten angestellt bleiben. Wäre Philipp nicht gewesen, hätte Manuel wahrscheinlich eine Chance bei Nele gehabt. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Es war an der Zeit, es herauszufinden.
Nele irrte mit dem Auto die Straße auf und ab, irgendwo hier musste doch das Geschäft sein, welches Manuel heute gehörte, aber sie fand es einfach nicht, das ärgerte Nele maßlos. Zum dritten Mal fuhr sie nun hier entlang, aber dieses Mal achtete sie genau auf die Hausnummern. Endlich, da war es, das Haus mit der Nummer 19. Nele wurde stutzig. Ja, hier war ein Geschäft, aber es war von außen fast komplett schwarz, ein weißer Totenkopf zierte mittig das dunkle Schaufenster. Darunter stand Tattoodesign.
Nele zuckte mit den Achseln, parkte den Wagen am Straßenrand, stieg aus und steuerte zielstrebig auf den Laden zu. Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ein. Erneut unsicher schaute sie sich um. An den Wänden hingen Tausende Fotos von kunstvollen Tätowierungen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Nele wunderte sich bei manchen, was Menschen dauerhaft auf ihrer Haut tragen wollten, vor allem, wenn es sich um unbeschreibliche Grausamkeiten handelte. Da gefielen ihr die harmlosen Tier- und Naturtätowierungen schon besser.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte höflich ein Mann, der scheinbar sein eigener bester Kunde war. Nele machte unbewusst einen Schritt zurück, denn die unzähligen Tattoos und Piercings, die dem Mann als bizarrer Körperschmuck dienten, schreckten sie innerlich ab. Wie konnte man sich nur selbst so verunstalten? Nele ermahnte sich innerlich, nicht so oberflächlich zu sein, und rief sich wieder ins Gedächtnis, warum sie eigentlich hier war.
„Ich suche nach dem Besitzer dieses Geschäftes. Sein Name ist Manuel“, wagte sich Nele wieder einmal mutig vor.
Der tätowierte Mann grinste, als er sprach: „Ich bin es, kennst du mich nicht mehr, Nele?“
Nele riss ungläubig die Augen auf. Vor ihr stand tatsächlich Manuel, sie hatte ihn wegen all der Farbe und dem Metall an seinem Körper nicht gleich erkannt. Geschockt brachte sie kein einziges Wort heraus. Doch Manuel merkte man die Wiedersehensfreude deutlich an, er trat zu Nele und umarmte sie stürmisch. Nele stand da wie eine erstarrte Salzsäule und rührte sich nicht vom Fleck. Verzweifelt versuchte sie, hinter die farbige Maskerade der Person vor ihr zu blicken und den Manuel zu sehen, den sie einst gekannt hatte. Sie wollte sich keineswegs von der inneren Schönheit ablenken lassen, aber von Manuels natürlicher Ausstrahlung war nichts übrig. Deshalb gelang es Nele auch nicht, sie schämte sich, schließlich hasste sie oberflächliches Gehabe und nun schaffte sie es selbst nicht, sich vom Erscheinungsbild eines Menschen nicht beeinflussen zu lassen.
Als sie sich etwas gefasst hatte, ließ sie sich von Manuel das Geschäft zeigen. Er war stolz auf das, was er tat. Er schwärmte von den vielen Menschen, die seine Kunden waren und immer wieder zu ihm, ihrem Tätowierer des Vertrauens, kamen. Eines musste Nele ihm aber eindeutig lassen, er ging sichtlich auf in seiner Arbeit und war ein Mann der leidenschaftlichen Taten. Der Laden brachte ihm ein solides Einkommen, das mehr als genug Geld für sein bescheidenes Leben war. Mehr als eine kleine Wohnung, Essen und etwas Kleidung brauchte er nicht zum Leben. Es war ihm Glück und Freude genug, wenn seine Kunden mit seiner kreativen Arbeit zufrieden waren.
Irgendwie blitzte im Gespräch doch etwas durch von dem früheren Manuel. Nele erkannte langsam wieder die guten Eigenschaften an ihm, die sie damals an ihm geschätzt hatte. Aber mehr als Freundschaft konnte sie sich nicht vorstellen mit diesem Mann, das war anscheinend auch nicht anders geworden seit ihrer Jugendzeit. Gut, dass er keine Ahnung hatte, dass dieser Spontanbesuch ein Auskundschaften ihrerseits war, denn er freute sich so, seine alte Freundin wiederzusehen.
„Nele, ich bin so froh, dass du da bist. Ich liebe dich immer noch. Wegen meiner besonderen Gefühle für dich konnte ich nie eine andere Frau in meinem Leben halten“, gestand Manuel aus heiterem Himmel. Mit diesen Worten machte er alle erleichterten Gedanken, die Nele sich zuvor zusammengereimt hatte, kaputt. Ihr Körper schaltete schlagartig auf Fluchtinstinkt um. Panisch sah sie sich selbst und ihre Söhne vor sich, alle drei vom Kopf bis zur Zehenspitze tätowiert.
„Aber wir hatten doch nie Kontakt zueinander“, erwiderte Nele.
„Ich weiß, ich hatte Angst, dass du mich wieder zurückweist, so wie du es damals so oft getan hattest“, sagte er ehrlich traurig.
„Manuel, das hat sich nicht geändert. Ich bin hier, weil wir einst so gute Freunde waren, aber mehr kann ich mir nicht vorstellen.“
Jetzt rannen dem hart wirkenden Kerl die Tränen über die Wangen. Wäre sie bloß nicht gekommen, sie hatte ja keine Ahnung, welche Hoffnungen sie damals in Manuels Herzen unbewusst gelegt hatte.
„Das wollte ich nicht, ich wollte dir nur eine Freude machen mit meinem Besuch“, gestand Nele.
„Du konntest das