Worte verletzen ... und Schweigen tötet. Karin Waldl
nicht, denn plötzlich stürmten mehrere bewaffnete Männer lautstark die Kirche, die ebenfalls in altertümliches Alltagsgewand gehüllt waren. Ungläubig beobachtete Nele das Geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe.
Einer schrie: „Da ist die verdammte Hexe. Peristera, jetzt wirst du bezahlen für das, was du angerichtet hast!“
Die Frau am Altar zuckte kurz ängstlich zusammen, fuhr aber entschlossen in ihrer Tätigkeit fort. Es schien, als wollte sie die Inschrift, die sie wahrscheinlich gerade am Altar anbrachte, hastig beenden. Nele fragte sich, was so wichtig sein könnte, dass man sogar sein Leben dafür riskierte. Aber die Antwort würde warten müssen. Nur wenige Augenblicke, bevor die aufgebrachte Meute bei der Frau war, drehte diese sich um und bedeckte ihr Gesicht schützend mit ihren Händen. Die finster dreinblickenden Männer stürmten auf sie zu und ergriffen sie gewaltsam, obwohl sie sich nicht wehrte, und zerrten sie nach draußen. Peristera, wie die Frau anscheinend hieß, schrie vor Schmerzen auf, denn ihre Peiniger zogen sie an ihren Haaren und bohrten ihre Finger unsanft in ihr Fleisch. Sie taten ihr absichtlich weh. Womit hatte sie diese Qual nur verdient? Nele konnte nur zusehen, wie diese brutale Übermacht mit der Frau verfuhr. Aber sie folgte ihnen unauffällig nach draußen, um zu sehen, was nun geschehen sollte. Doch das grausame Schauspiel, das sich nun vor ihren Augen bot, hatte sie keineswegs erwartet. Der Mund blieb ihr vor Schreck offenstehen, ihre Knie begannen, vor Angst zu zittern.
Eine große Menschenmenge stand um einen brennenden Scheiterhaufen, der die Finsternis der Nacht hell erleuchtete. Die Leute riefen aus vollem Halse, im wiederkehrenden Rhythmus wiederholten sie ihre leidbringenden Worte: „Die Hexe Peristera soll brennen!“ Immer und immer wieder gaben sie laut johlend denselben Satz von sich, der eindeutig den Tod der Frau forderte. Die Menschen zerrten gewaltsam an ihren Kleidern und zerrissen den Stoff des Gewandes, sodass die angebliche Hexe nun halb nackt war, als sie am Rande des lodernden Feuers stand, wo sie von ein paar Männern festgehalten wurde. Notdürftig bedeckte sie mit ihren Händen ihre Scham. Die Menschen um sie herum bespuckten sie respektlos.
Ein älterer, grauhaariger Mann, dessen erhobene Stimme Autorität besaß, begann laut zu sprechen: „Peristera von Kastoria, du bist einstimmig vom Obersten Rat zum Tode verurteilt worden, weil du dich öffentlich der Hexerei schuldig gemacht hast.“
Peristera protestierte: „Ich habe doch nur denen Heilung verschafft, die schwer krank waren. Ich war für sie da in ihrer Not.“
„Und dann hast du auch noch schändlich behauptet, diese Gabe von Gott erlangt zu haben. Eine Hure Satans bist du, der Hölle entstiegen, nicht mehr und nicht weniger“, schrie der Mann, um Peristera keine weitere Chance zu geben, sich zu rechtfertigen.
Mit einer vernichtenden Handbewegung befahl er, sie auf den Scheiterhaufen zu werfen. Peristera schrie aus vollem Halse und kämpfte erfolglos um ihr Leben, als man sie gewaltsam der zerstörenden und alles verschlingenden Kraft des Feuers übergab. Sie hatte keine Chance, sich selbst zu retten – und von den Umstehenden dachte niemand daran. Die Menge johlte und feuerte ihre Verbrennung schamlos an.
Doch plötzlich geschah etwas äußerst Wunderbares. Peristera stand plötzlich aufrecht im Feuer, ihr Leib schien nicht zu verbrennen, obwohl die Flammen meterhoch um sie herum in die Höhe züngelten. Stattdessen öffnete sich der dunkle Nachthimmel, hell erleuchtet riss das Himmelszelt golden auf und ein Engel fuhr mit strahlendem Glanz hernieder. Seine Leuchtkraft war so mächtig, dass sich die Leute die Augen bedecken mussten, um das göttliche Wesen schemenhaft durch ihre Finger erkennen zu können. Vor allen Anwesenden rettete der Engel Peristera aus dem Feuer und stieg mit ihr in die Höhe. Gemeinsam verschwanden sie im Glanze des Himmelszelts, das nach dem Ereignis schlagartig so finster wie zuvor war, als wäre nichts Bemerkenswertes geschehen.
Beschämt knieten sich die Leute nieder und begannen, zu beten. Keiner konnte es leugnen, sie alle waren Zeugen eines göttlichen Wunders geworden. Nur der scheinbar Vorsitzende des Obersten Rates, der Peristeras Verurteilung verkündet hatte, stand noch immer mit offenem Mund da und konnte nicht fassen, was er eben gesehen hatte.
Nele wachte verwirrt auf. Wo war sie? Was war das für ein merkwürdiger Traum? Überrascht stellte sie fest, dass sie immer noch in der Holzbank der Kirche saß. Sie musste über die Schwermut in ihrem Herzen eingeschlafen sein. Aber etwas hatte sich grundlegend verändert. Die vergossenen Tränen hatten ihre Seele ein Stück weit gereinigt. Sie spürte endlich auf eine unerklärliche Art und Weise, dass Gott sie immer begleitet hatte, obwohl oder gerade, weil sie sich seit dem Tod ihres Mannes so trotzig verhalten hatte. Doch die schmerzhafte Sehnsucht nach der Schönheit vergangener Tage blieb unliebsam bestehen. Ihren Söhnen Elias und Jonas fehlte ein männliches Vorbild, das sie unmöglich selbst ersetzen konnte. Ihr verstorbener Vater, Neles Ehemann, hatte eine Wunde in dieser Familie hinterlassen, die nicht heilen wollte.
Da Nele sich nun fast zwei Jahren emotional über Wasser gehalten hatte, beschloss sie genau in diesem Moment, zu drastischen Maßnahmen zu greifen und etwas zu ändern, so konnte es auf keinen Fall weitergehen. Sie musste das für sich selbst und nicht zuletzt für ihre Kinder tun. Es war an der Zeit, das spürte sie deutlich.
Mit aufgekeimter Bestimmung richtete sie nun ihre Worte an Gott: „Vater im Himmel, ich kann einfach nicht mehr allein sein. Ich brauche wieder einen Ehemann und meine Kinder einen Familienvater. Jan kommt leider nicht mehr zurück, er ist hoffentlich bei dir. Bitte hilf mir, dass ich spätestens in einem Jahr den richtigen Partner an meiner Seite gefunden habe. Ich will nicht unverschämt klingen, aber es muss sich etwas tun. Die Zeit ist reif dafür und ich hoffe, dass du mir in diesem Vorhaben beistehen wirst. Amen.“
Entschlossen stand Nele auf, legte ihre Hand aufs Herz, atmete einmal tief durch, um das ausgesprochene Ultimatum an Gott zu bekräftigen. Sie verließ schnurstracks die Kirche, als hätte sie Angst, sie könnte ihre Entscheidung selbst rückgängig machen. Ihr plötzliches Vorhaben, wie sie einen Mann fürs Leben finden könnte, bekam in ihrem Kopf konkrete Züge. Sie würde sicher nicht in irgendwelchen Bars nach einem geeigneten Kandidaten suchen, so viel stand fest. Sie wollte einen Familienvater und keinen Lebemann, der ausschließlich auf Spaß und Vergnügen aus war. Sie musste sich etwas Passendes ausdenken, an welchen Orten sich vernünftige und ernst zu nehmende Männer aufhielten, die für eine Beziehung auf Dauer geeignet waren. Sie zermarterte sich auf dem Heimweg bereits den Kopf, wie sie das Problem lösen könnte.
Der Traum über Peristera war dadurch nach kurzer Zeit schon wieder vergessen. Nele maß dem Fantasiegebilde über die vermeintliche Hexe keine Bedeutung bei. Es war höchstwahrscheinlich nur Zufall gewesen, so etwas Merkwürdiges zu träumen.
Ein paar Tage später war Nele stolz auf ihren entschlossenen Tatendrang, endlich hatte sie wieder eine Aufgabe, die sie nach vorne blicken ließ. Sie hatte eine Liste angefertigt mit den Männern, die sie in Zukunft besuchen wollte. Doch als sie noch einmal auf das Geschriebene blickte, kamen plötzlich wieder Zweifel auf. Sie musste verrückt geworden sein, als sie die Namen auf das weiße Papier geschrieben hatte. Anfänglich hielt sie es für eine ausgezeichnete Idee, aber je genauer sie es sich überlegte, umso mehr kam in ihr das Gefühl auf, dass dieser Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Was dachte sie sich bloß dabei? Sie schob die Liste zur Seite, nur um sie ein paar Sekunden später gleich wieder zur Hand zu nehmen.
„Einen Versuch ist es allemal wert. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, ermahnte sich Nele selbst und sprach es laut aus, um nicht gleich wieder das Handtuch zu werfen. Außerdem würde in Kürze Martha, eine gute Freundin, eintreffen, um die Jungen zu hüten, während Nele unterwegs war auf ihrer selbst gewählten Mission, einen neuen Partner zu finden. Es gab jetzt kein Zurück mehr, wenn Nele in Zukunft nicht mehr allein sein wollte. Natürlich musste sie sich innerlich auf Rückschläge gefasst machen, aber das war immer noch besser, als weiterhin zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen.
Da klingelte es auch schon an der Tür. Samuel und Jonas stürmten umgehend auf Martha los, als sie eintrat, und begrüßten sie überschwänglich. Als die Freude der Jungen sich etwas gelegt hatte, hielt die Freundin Nele noch kurz auf und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen.
„Bist du dir sicher, dass es richtig ist, deinen Jugendschwärmereien hinterherzujagen? Die werden doch alle selbst