Therese Larotta. Walther von Hollander

Therese Larotta - Walther von Hollander


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schrien nach Futter — war der Schnee schon hoch vor der Tür zusammengeweht. Sie musste sich ganz umziehen, so nass war sie von Schnee und Schweiss.

      Nachher heizte sie in der einen Stube, setzte sich im Dunkeln an den Ofen und wärmte sich den Rücken. Immer wieder schob sie die Holzkloben ins Feuer und horchte auf das Knacken und Prasseln, auf das Rasseln des Wassers, das aus den feinen Holzadern herausgekocht wurde. „Ich friere wie der Mann“, flüsterte sie und schauderte zusammen. Jetzt in diesem Augenblick, jetzt wusste sie es, jetzt gestand sie es sich ein, dass der Mann auf den Tod krank war und dass sie viele Jahre noch so allein würde sitzen müssen, zwischen Herbst und Winter. Wollte sie etwa mit dem Mann sterben? Nein, nein! Sie hob abwehrend die Hände. Nein, nein! Sie wollte noch leben, und sie hatte in diesem Augenblick eine fürchterliche Angst, dass er sie mitziehen würde.

      Lange stand sie nachher am Bett der beiden Jungen, die nun schon grosse kräftige Kerle geworden waren, Bengels, denen die harte Hitze und die schneidende Kälte gut taten, stand im Dämmer des kleinen Schlafzimmers, starrte die Wiege an, die zwischen den Betten stand und nun leer bleiben musste, und sagte leise in die Dunkelheit hinein: „Ich will noch bleiben.“

      Als Larotta nach zwei Tagen wieder vom Tal heraufkam, fiel sie ihm zum ersten Male in ihrer Ehe leidenschaftlich um den Hals. Sie umarmte ihn, als wäre er vom Himmel zurückgekommen. Und so war es auch für sie. Noch hatte sie ihn, den sie in der ersten Nacht schon tot gesehen, den sie schon hergegeben hatte, noch hielt sie ihn, noch konnte sie zu ihm sprechen.

      Der Bauer war ganz verdutzt. Woher wusste sie denn, dass er zum ersten Male in seinem Leben leichtsinnig gewesen war, dass er ihr aus Dankbarkeit etwas Grossartiges mitgebracht hatte, einen Schafspelz nämlich, nicht einen Kutscherpelz etwa, wie seiner war, sondern eine richtige Pelzjacke vom Kürschner gearbeitet, mit einem guten kunstseidenen Futter, wie sie die Damen im Sommer hier trugen? Nein ... Therese ahnte nichts von diesem Pelz. Sie war ganz beschämt, als er das Paket vor sie hinstellte. Sie musste es gleich aufmachen. Das verlangte er. Er hob mit zwei Fingern die Jacke aus dem Seidenpapier des Kartons, drehte sie nach allen Seiten und hielt sie ihr hin.

      „Immer einsteigen“, krächzte er und versuchte eine Verbeugung wie ein Sommergast. „Immer einsteigen. So machen’s doch die Männer da oben bei ihren Frauen.“

      Therese wurde über und über rot, fasste die langen Ärmel des Kleides mit den Fingerspitzen und fuhr, ohne sich umzusehen, in die Pelzjacke hinein. Es war der glücklichste Tag in der Ehe Peter Larottas und seiner Frau Therese.

      4

      Der Winter hatte drei Abschnitte. Oktober, November mit den wolkigen und nebligen Tagen, mit den Stürmen, die in den Schluchten heulten, über die Berge kamen und in die Täler fegten. Das waren die einsamen Monate, in denen das Land seinen Einwohnern gehörte.

      Dann kamen die sonnigen Monate: Dezember, Januar und Februar, die Monate, in denen die Bauern ein bisschen mit den Gästen herumstanden und an den Sportereignissen teilnahmen. Sie bewunderten die Schlittschuhläufer und die Skispringer, die sich nur zum Spass (und nicht um zueinanderzukommen) die Eisen und die Hölzer unter die Füsse schnallten und die manchmal besser laufen und springen konnten, als die Einheimischen, die doch mit den Hölzern an den Beinen geboren waren.

      März bis Mai herrschten wieder schlechtes Wetter und Einsamkeit, und dann war der Sommer wieder da und das Jahr hatte sich um sich selbst gedreht. Auf diese Weise gab es auch hier vier Jahresviertel, obwohl man nur zwei Jahreszeiten hatte, Sommer und Winter, die noch nicht einmal ganz deutlich voneinander zu unterscheiden waren, weil es im Sommer so viele kalte Nächte gab und im Winter so viele heisse Tage.

      Die Larottas trotteten auch das zweite Jahr noch immer ein bisschen neben dem Zeitverlauf her. Bald waren sie der Zeit voran, zum Beispiel im Oktober, als ihnen der Schnee zum erstenmal wieder bis an die Fenster stand und man sich vom Haus zum Stall durchschaufeln musste, und bald waren sie zurück. Sie konnten es nicht verstehen, dass schon März sein sollte und die Wintersaison zu Ende und anderenorts gar schon der Winter beendet war. Denn jetzt legten sich Guggis und Frau zum Winterschlaf nieder, jetzt fingen die Bauern im Nebental die richtige Winterarbeit an, das Spinnen und Schnitzen, das Hobeln und Tischlern, das Flechten von Matten und Hüten, das Schweineschlachten und Würstemachen.

      Peter Larotta, der von dem Herumsitzen, von dem Vorsichhinstieren, Essen und Rauchen schon ganz unruhig war, liess sich bei Guggis im Tischlern unterrichten. Er zimmerte mit dem Wirt zusammen Vorratsgestelle für die Konserven, Holzstühle, neue Raufen für das Vieh, und er konnte sogar schon gleichmässige Besenstiele drehen. Das Handwerkern war das einzige, was das Herzklopfen ein wenig milderte und die Unruhe vertrieb, die sich seiner sonst immer mehr bemächtigte. Wenn er ordentlich arbeitete, wurden sogar die Schmerzen betäubt, die oben in den Lungenspitzen sassen und langsam, Woche für Woche, sich weiter nach unten durchfrassen.

      Er arbeitete manchmal die halbe Nacht in dem Riesenkeller des Berghotels und kam sehr spät nach Hause, die Hände klebrig vom Harz des Holzes, die Schürze voll feinen Holzstaubes und die Lungen so überreizt, dass er oft bis in den Morgen hinein wachlag und leise in die Kissen hineinbellte.

      Therese Larotta begann in dieser Zeit ihren Mann ein wenig zu lieben. Sie verstand es immer wieder, ihn ohne Worte zu beruhigen und zu trösten, und es war seltsam, wie der Trost, den sie dem Kranken spendete, sie selbst wieder tröstete. Sie schämte sich auch nicht mehr, ihn anzureden, ihn zu sich hinüberzuziehen, ihn zu streicheln und vorsichtig zu küssen, alles Dinge, die sie früher nicht gewagt hatte und die der gesunde Bauer wahrscheinlich sich verbeten hätte. Oder? Vielleicht hätte er sich auch als gesunder Mensch ihrer Liebe erfreut. Aber jetzt zog er sie manchmal an sich, als müsse er sich ihrer Gegenwart versichern, packte er sie bei den Schultern, als wollte er sie für alle Ewigkeit festhalten, sah er sie an, flehentlich und drohend zugleich, aber natürlich wortlos. Denn wie hätte er sagen können, was er eigentlich fühlte. Er wollte sie nicht auf dieser Welt lassen. Er wollte sie mit nach drüben nehmen, wenn er sterben musste.

      Übrigens alterte er von Monat zu Monat. Nachdem er die Sprache verloren zu haben schien, nahm auch das Gehör ab, und als der Schnee endlich wegging, als der dritte Sommer also begann, blieb sein Haar schneeweiss, und auch der Bart war von Froststreifen durchzogen. Er ging schon ein wenig geduckt, die Schultern bogen sich aufeinander zu, der Rücken wurde rund. Das Gesicht trocknete ein und schnurrte zusammen, und nur die Augen wurden grösser und grösser.

      Therese Larotta kam in diesem Sommer nicht viel ins Berghotel. Sie musste dem Mann noch mehr helfen als sonst. Sie musste diese und jene Arbeit für ihn tun, ohne dass er es merkte. Denn manchmal mitten im Mähen befiel ihn ein solches Zittern, dass er sich lang ins Gras warf, die Augen misstrauisch auf seine Frau gerichtet, die dann immer schnell sich abwandte und davonging, und manchmal fuhr er nachts mit Schreien hoch, in denen alles gestaute Verschweigen durchbrach.

      Eines Tages schickte Frau Guggis einen Arzt, der als Hotelgast oben war. Er war ein berühmter Spezialarzt für Lungenleiden, ein uralter Herr mit langem weissem Bart, der um den Mund von Nikotin gelbbraun und wie naturfarben gefärbt war, und mit sehr gelenkigen, sommersprossigen und behaarten Händen. Er fand den Bauern auf der Wiese beim Heuen, klopfte mit losen Fingern auf seiner Brust herum, zuckte die Achseln und sagte: „Können ruhig weitermachen.“ Er ging dann ins Haus. Therese stand vor der Tür und wartete auf den Arzt. Sie bat ihn, einzutreten. Aber er war von seinem Berufsleben her gewöhnt, keine Zeit zu haben. Er blieb nur einen Augenblick stehen, wies mit einem Finger auf die Frau und schüttelte geringschätzig den Kopf. Er sagte: „Sie sollten sich vorsehen, oder wollen Sie durchaus auch sterben?“

      Therese sah den Arzt hilflos an. „Was ist denn?“ fragte sie schüchtern. (Aber sie wusste es ja ganz genau.) Der Arzt seufzte. „Was ist denn? Was ist denn?“ murmelte er. „Er ist sterbenskrank. Zwei Monate, drei Monate höchstens.“

      Damit wandte er sich um und marschierte in Richtung des Berghotels ab.

      Therese Larotta sah ihm entsetzt nach. Wenn ein anderer, wenn ein Arzt das sagte, dann war es viel schlimmer, als wenn sie es dachte. Dann war es endgültig in der Welt. Sie schrie leise und scharf auf und lief hinter dem Todbringer her, in Holzpantoffeln, die bei jedem Schritt laut klapperten, das Kopftuch so auf dem Arm,


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