Therese Larotta. Walther von Hollander
ihn beim Arm und zwang ihn, stehenzubleiben. „Was soll ich denn tun?“ seufzte sie atemlos. „Sie müssen mir doch sagen, was ich tun soll.“
Der Alte musterte sie mit seinem gleichgültigen und durchdringenden Blick. „Das will ich Ihnen sagen“, flüsterte er. „Ihr Mann ist verloren. Er hätte unten im Tal vielleicht noch ein paar Jahre leben können. Aber hier oben ... bei dem Wechsel ... da musste es so kommen.“
Therese wiederholte seufzend: „Was soll ich denn tun?“
„Nehmen Sie sich und Ihre Kinder in acht“, sagte der Arzt jetzt befehlerisch. „Sie sind ja noch jung und ...“
Er beendete den Satz nicht. Denn die Bäuerin hatte sich umgedreht und ging, ohne weiter ein Wort zu verlieren, langsam fort. Was sollte sie dazu sagen? Sie war wirklich noch jung. Selbst hier in der Sonne konnte man keine Falten in ihrem runden Gesicht entdecken. Sie war jung, ihr ganzes Leben war sie zu jung gewesen. Als sie den Peter Larotta heiratete, war sie zu jung, seine Frau zu sein, und jetzt, da er sterben sollte, war sie zu jung seine Witwe zu werden.
Witwe? Sie blieb stehen und sah sich scheu um, als ob jemand ihren Gedanken hätte hören können. Dann begann sie den Berg wieder hinunterzulaufen, schneller und immer schneller, als könnte sie ihrem Schatten entwischen, der ihr zuflüsterte: „Witwe, Witwe“, atemlos am Haus vorbei, bis auf die Wiese, auf der Peter Larotta das Gras mähte, als ob nichts geschehen war.
Fünfzig Meter vom Bauern entfernt hielt sie plötzlich an. Sie hatte ja gar nicht überlegt, was sie ihm sagen wollte. War sie etwa gelaufen, um ihm die Todesbotschaft zu bringen? Ganz langsam ging sie jetzt auf ihn zu, den Kopf gesenkt, als suchte sie etwas. Gott sei Dank, dass sie einen Rechen im Heu fand, den sie aufraffen konnte, um das Heu zu wirbeln und zu wenden. So kam sie ihm langsam Schritt für Schritt näher.
Peter Larotta sah sie lauernd an. Warum sprach sie nicht? Ach, die Antwort war brennend rot in ihr Gesicht gezeichnet. Aber er wollte keine Antwort haben. So wandte er sich einfach wieder seiner Arbeit zu, und auch Therese wandte sich um und ging die Heuwiese zurück.
Als sie einander nachher beim Essen gegenübersassen, sahen sie, dass der Todesschreck in der Tiefe ihrer Augen sass. Dort blieb er die ganze Zeit und flackerte immer wieder heraus, so sehr sie beide es auch voreinander zu verbergen trachteten.
5
Therese hatte beschlossen, in dieser letzten Zeit ihrem Mann nach allen Kräften Gutes zu tun. Aber es war schwierig, weil Larotta misstrauisch jeden Überschwang abwehrte und zu leben verlangte, als ob nichts geschehen war.
Der Bauer arbeitete von Tag zu Tag langsamer. Er schien es nicht zu merken, und es wurde niemals darüber gesprochen, wenn Therese eine Arbeit aufnahm, die ihm aus den Händen glitt. Hilfe durfte sie natürlich auch nicht nehmen, obwohl sie leicht einen Schnitter aus Italien hätte kriegen können. So musste sie die Heuernte fast allein mit den beiden Jungen in den Stall schleppen. Die Knirpse halfen, wo sie konnten, aber sie konnten nicht viel.
Therese versuchte auch vorsichtig zu lernen, wie die Abrechnungen mit dem Sommervieh gemacht wurden, die Milchverrechnungen und die Verkäufe von Butter, Sahne und Käse. Das nahm viel Kraft und Zeit, und es blieb ihr kaum die Kraft, freundlich zu sein, Larotta zu trösten, seine Todesgedanken zu verscheuchen oder auf ihn achtzugeben, dass er sich nicht erkältete. Nein ... sie war zu müde, an alles und jedes zu denken. Zu müde auch, um nachts sich um den Mann zu kümmern, um ihn zu sich herüberzuziehen und um ihn zu wärmen. So kam es, dass Larotta sich wieder und wieder sein Recht nehmen musste, wortlos und hart, und sie ertrug das wortlos und hart. Schweigend, verbissen kämpften sie miteinander. Wollte er wirklich, dass sie ihn ins Dunkle begleitete? Fast schien es so. Oder wollte er noch ein Kind haben, um den hochmütigen Guggis da oben, den kinderlosen, unfruchtbaren Guggis zu beweisen, dass nicht „aller Tage Abend“ war?
Larotta konnte in diesem Herbst die Kühe nicht nach Promontogno zurücktreiben. Zuerst verschob er es noch von Tag zu Tag, indem er behauptete, das Wetter sei noch gut genug und die Kühe würden noch fetter werden und noch mehr Milch bringen. Aber schliesslich, als der erste Schnee über die Wiesen ging, musste Therese es doch übernehmen. Peter, der älteste Junge, begleitete sie, und der Esel Josef ging mit ihr, denn sie wollte allerlei für den Winter einkaufen, was sie nicht allein wieder hinaufschleppen konnte.
Je tiefer sie den Steilweg von Maloja hinabstiegen, um so bedrückter wurde Therese. Als sie an die ersten Birken kam, als sie die erste Brombeere fand und den ersten bunten Buchenbaum, hielt sie die Herde an, setzte sich in den Strassengraben und weinte fassungslos. Peter, der Sohn, sah ihr eine Weile verlegen lächelnd zu. Dann fing er an, mit den Hunden zu spielen, versuchte den Esel Josef als Reittier zu zähmen und wälzte sich, als der Esel ausschlug, mit Triumphgeschrei im Gras.
Im Dorfe wurde Therese mit eisiger Verwunderung begrüsst. Die Larottas umstanden sie misstrauisch. Sie durfte doch nicht im Ernst glauben, mit einem Male Mannsarbeit tun zu können! Nahm sie wirklich an, dass die Bauern mit ihr abrechnen und Abmachungen fürs nächste Jahr treffen wollten? Und was für merkwürdige Moden brachte sie aus den Bergen mit! Lief in einer Pelzjacke herum bei angenehmstem Herbstsonnenschein. Ausserdem konnte sie noch immer nicht ordentlich Italienisch, obwohl sie doch — warte mal — acht, nein zehn Jahre mit Larotta verheiratet war. Sie zweifelten auch sehr daran, ob Larotta wirklich so krank war. Jeder werde in seinem Leben sich irgendwann einmal gründlich erkälten. Das gehe wieder vorüber, und ausser Larottas Grossvater hatten alle Männer in der Familie achtzig Jahre und darüber erreicht. Gino Larotta, der Schwiegervater Thereses, der vierundachtzigjährige Patriarch der Familie, unter dessen unsinniger Herrschsucht alle Larottas seufzten, Gino Larotta war besonders aufgebracht: „Kein Wunder, dass der Junge da oben kränkelt! Habe ich ihm etwa befohlen, in den Schnee hinaufzuziehen? Augenblicklich kehrt ihr zurück! Verstanden? Augenblicklich!“
Therese widersprach mit keinem Wort. Sie wusste, es hatte keinen Sinn. Es war für sie nur gut, dass sie so schlecht empfangen wurde. Sonst hätte sie weiter mit dem Gedanken gespielt, dass sie nach Peters Tode vielleicht ins Unterland zurückkehren könne. Nun wusste sie, dass sie im „Haus am Wasser“ bleiben musste. Sie beeilte sich sehr mit ihren Abrechnungen. Sie strengte sich an, alles ordentlich zu machen, und sie erreichte bei den meisten Bauern, dass sie ihr für das nächste Frühjahr auf alle Fälle wieder ihre Kühe zusagten.
Therese hatte viel Geld eingenommen und konnte allerlei einkaufen. Stiefel und Wollsweater für die Jungen, einen neuen grauen Schal für sich selbst (was sollte sie mit dem bunten anfangen?), eine Tischdecke, obwohl sie das gar nicht mit Peter besprochen hatte, und schliesslich ging sie noch scheu, allein in den Tuchladen.
Sie brauchte schwarzes Tuch für ein Kleid. Der Kaufmann sah sie erstaunt an. Schwarzes Tuch? Sie war doch noch nicht alt genug, um sich das Alterskleid zu nähen, und ihr Mann lebte doch noch, soviel er wusste. Therese antwortete nicht. Sie nahm vom besten schwarzen Tuch vier Meter und legte es ganz unten in den Einkaufskorb. Sie musste sich dann nur noch überlegen, was sie ihrem Mann mitbringen konnte. Es musste eine Kleinigkeit sein, die es ihn aber trotzdem nicht merken liess, dass er nicht mehr ganz zu den Lebenden gerechnet wurde. Sie konnte aber nichts Rechtes finden, und so blieb es denn bei einem kleinen schwarzen Schlips und einem Paar Manschettenknöpfen, die schliesslich die Jungen „einmal“ erben konnten.
Am Nachmittag des zweiten Tages begann sie wieder den Anstieg. Die erste Strecke stieg sie so mühsam, dass sie sich ein paar Kehren vom Esel Josef ziehen liess. Aber je höher sie kam, um so leichter wurde ihr. So war sie schon an die Höhenluft gewöhnt. Alle hundert Meter fiel ein Gewicht von ihr ab.
Der frühe Abend war kalt, aber ganz klar. Die Berggipfel drängten sich nah an die Täler heran, schnitten scharf und glänzend in den grünen Himmel, der nur ganz allmählich abblasste, ergraute und dann schwarzblau wurde, von Sternen überschüttet.
Gegen acht Uhr war sie zu Hause. Larotta hatte sie sicherlich kommen hören. Ausserdem hatte Paul, der Jüngere, sie schreiend angekündigt. Trotzdem ging er ihr nicht entgegen. Er sass steif unter der Hängelampe. Das Licht fiel gleissend auf sein wirres weisses Haar. Das Gesicht, das gespannt auf Therese gerichtet war, blieb im Dunkeln.
Therese holte erst mal das Rechnungsbuch