Ninas Geschichte. Fríða Á. Sigurðardóttir
nichts hiervon weiß er, als er in der Nacht zitternd auf einem Stein am Strand sitzt, allein im Schatten des Felsens, zu seinen Füßen ein toter Vogel, mit dem das Meer spielt, das ihn hin und her wirft am Strand, und auf einem Grashügel in einiger Entfernung ein Hund, der leise und kläglich wimmert.
Nina nippt wieder an der Kognakflasche. Courvoisier, drei Sterne. War in Helgis Tasche. Das wärmt. Läßt sie das Klagen vergessen, das ihr der Wind zuträgt, den toten Vogel am Strand vergessen, die offenen Vogelaugen, die ins Leere starren.
Lebte noch sechs Tage –
Nina kauert sich zusammen, nippt nochmals an der Flasche, greift nach ihrem Anorak und zieht ihn über. Ein Frösteln in ihr, das sie nicht verläßt.
»Geht nur«, sagte sie. »Ich mag nicht«, sagte sie. »Ich hab etwas anderes vor.« Keß, cool. Kannte die Stille nicht. Das Flüstern im Gras. Das Tosen der blutfarbenen Berge. Das alles sind Geschichten, Märchen, die sie nichts angehen, sie gehören nicht in die Gegenwart, in ihr Leben.
Sie sitzt dort im Gras auf halbem Weg vom Strand zum Hof, es wird schon Nacht. Die Nebelschwaden oben an den Bergkanten kommen langsam die Hänge herabgeschwebt, schicken einen naßkalten Windhauch voraus.
Nina, ein Kind ihrer Zeit, kam hierher auf der Suche nach etwas, von dem sie selbst nicht wußte, was es war, ließ sich locken von alten Geschichten, von farbenprächtigen Worten, wenn die Welt schwarzweiß ist, das Dasein Verzweiflung, Leere. Nicht die Leere, die ihr entgegenklaffte, als sie ganz oben am Berg an einem Felsvorsprung hing, eine andere Leere, in der sich Raubfischetummeln: Hiroshima, Nagasaki, Berlin, Ungarn, Fische, die Worte verschlingen, sie sinnlos machen, obszön. Ideale, Glaube, Freiheit, Schönheit, Hoffnung. Kein Faden mehr in den Händen, kein Knäuel, dem man folgen könnte, nichts – das Wort der Zeit. Der Einsame schwebt durch die Leere, verwirrt, gequält, keine Zeit für X-beinige Greise und alte Weiber, die längst begraben sind, für längst untauglich gewordene Worte.
Das Flüstern im Gras wird lauter.
Doch Nina hört es nicht. Sie schließt ihre Augen und Ohren. Nippt am Kognak.
Unterdrückt den Gedanken, sie müsse den Gesang des Windes verstehen lernen, die Poesie der Wellen, das Leben des Landes, sie müsse fühlen, wie das Blut pulsiert, um die Welt hinter der Welt erreichen zu können. Müsse den Geruch nach Moder, Furcht, Lust und Haß kennen; auf dem falben Pferderücken sitzen und auf die Stelle schauen – siehst du nicht den weißen Fleck in meinem Nacken, Garun, Garun – und nicht loslassen, nicht vom Pferd herunterspringen. Die Maden im Fleisch krabbeln spüren, um die Widersprüchlichkeiten des Lebens zu erfassen.
Aber sie wendet sich ab. Will andere Wege gehen. Vorwärts, nicht zurück. Wenn sie bloß fortkäme von hier.
Noch immer hört sie das Klagen, schmerzlich, jammervoll.
»Alles«, murmelt sie, »wenn ich nur fortkomme von hier.« Weiß nicht, was sie meint. Zu wem sie spricht. »Alles, wenn sie nur kommen.« Hat das Seil um ihre Taille vergessen und den Gang über das Geröll voller Lachen. »Alles.« Und versucht, sich an etwas zu erinnern, das ihr helfen könnte. Ein Boot in vier Tagen, in einer ganz anderen Bucht. Die sie nicht findet. Über unzählige Berge, blutfarbene Berge.
Ein Rabe fliegt krächzend über sie hinweg. Läßt sich auf dem halbverfallenen Schornstein der Ruinen des Hofes nieder, blickt neugierig auf das Wesen, das halb versteckt im hohen Gras sitzt. Hat zwei andere gesehen, hoch oben im Gebirge, humpelnd, sie können nicht fliegen, und ein drittes auf einem Stein am Strand, draußen unter dem Felsen, zu seinen Füßen Atzung, von einem wimmernden Köter bewacht.
Kra, schreit er, krra, als gleichzeitig laute Rufe vom Berg herab zu hören sind: Nina! Sie hallen in den Bergen ringsherum wider. Nina – Nina! Wo bist du – bist du – bist du –
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