Ninas Geschichte. Fríða Á. Sigurðardóttir
als unbrauchbar erwiesen. Und er hatte den Kopf gesenkt und das Tuch sorgsam wieder über das Gesicht gelegt.
Da bemerkte er, daß Sunnevas Truhe verschwunden war. Die Truhe, die am Fußende ihres Bettes gestanden hatte, seitdem Sunneva hergekommen war. Das einzige, was sie mitgebracht hatte. Eine grüne Truhe mit einem Blumenmuster auf dem Deckel, in das die Anfangsbuchstaben ihres Namens und ihr Geburtsjahr eingeflochten waren. Weg. Und er taumelt hinaus, hört nicht das Rufen Gudridurs, schiebt seinen Nachbarn Sveinn zurück, der aus der nächsten Bucht gekommen war, um mit seinen Leuten hier im Felsen Eier zu sammeln, und dann Thorkell drinnen beim Schafpferch, der ihn am Arm packt, und den er abschüttelt, wie einen lästigen Hund, er sieht ihn fallen, er erinnert sich an Thorkells Augen, ja, und dann ist er am Fuß des Felsens angelangt, soweit man überhaupt kommt, steht zitternd da, die Flut hat eingesetzt, und er ist wie von Sinnen, in seiner Brust ein stechender Schmerz, quälend, so quälend, ein Schmerz, den er seitdem nicht mehr losgeworden ist.
Und alles, was er erlebt hat, wird unwirklich gegen diese Stunde, wird Täuschung –
So war das.
Sunnevas Lächeln.
Weit hat es ihn gebracht, dieses Lächeln. So weit, daß er sich selbst nicht mehr kennt, daß er wie der Vogelkadaver ist, mit dem die Brandung spielt und den sie nach Belieben hin und her wirft.
Geh, sagte er, und sie ging. Verschwand in die Frühlingsnacht hinaus, als habe es sie nie gegeben. Fügte ihm unendliche Schmach zu.
Rebekka. Nie hätte sie so etwas getan.
Und er sehnt sich zurück in jene Zeit, als das Leben noch einfach war, rein war, gut, und nicht voll dunkler Träume, Sünde, Auflösung.
Alles um ihn herum bricht zusammen.
Und die anderen starren ihn an, warten darauf, daß er aus den Trümmern wieder alles aufbaut. Hol sie, sagen ihre Augen, hol sie.
Aber das kann er nicht.
Sunnevas Lächeln. Dieses Lächeln voller Unschuld, voller Freude, bezauberte ihn gleich beim ersten Mal, da er es sah, rührte etwas tief in ihm an, etwas, das er nie zuvor gespürt hatte.
»Unschuld!« sagt er laut und bricht in schallendes Gelächter aus, das in einer Art Wimmern endet.
Doch, er war zufrieden damit, eine Frau zu haben, von der er wußte, daß andere sie begehrten, er war sogar heimlich stolz darauf gewesen und hatte sich an dem Wissen gefreut, daß er allein es war, der nachts auf ihrem weißen, weichen Arm ruhte, daß er allein das ungeteilte Recht auf sie hatte. Ein Dummkopf war er. Ein alter Trottel. Zweifelte nie an ihrer Treue. Und glaubte, was er sah. Dachte, sie, die Magd, sei zufrieden mit ihrer Aufgabe als Hausfrau, ja sogar dankbar für ihre Rolle, auch wenn der Hof klein war und die Arbeit hart. Er beobachtete sie bei Arbeit und Spiel und sammelte dieses seltene Lächeln wie Kostbarkeiten in einer Schatztruhe, verwehrte ihr überhaupt nichts. Dumm, wie er war. Bis sie vor ihm stand und unter seinem Blick erblaßte.
Geh, hatte er gesagt. Und sie ging. Eine folgsame Frau, Sunneva.
Eva, nannte er sie, der sich hierher verirrte. Er kennt andere Namen, Stefan, die besser zu ihr passen würden. Ja, das ist sicher.
Zweifellos hatte sie auch Jakob das gewährt, was ihr fremdländische Geschenke einbrachte und die Schamröte ins Gesicht trieb, vielleicht noch anderen, was weiß er. Der Student, der damals hierherkam, überallhin lief er ihr nach, verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Und noch andere. Er kann noch andere nennen. Und er tut es, während die Geißel der Eifersucht ihn peinigt, ihm das Fleisch von den Knochen schlägt.
Die Brandung zischt zwischen den Steinen, und bedrohliche Bilder tauchen vor seinen Augen auf, Fieberträume, die sich wie eine Sturmbö auf ihn werfen, über ihn hereinstürzen, ohne daß er sich dagegen wehren kann. Nur ein Bild ist deutlich, deutlicher als alle anderen: Sunnevas heller Leib, der sich in Wollust windet, wie er es nie gesehen hat, sich in hemmungsloser Lust um einen jungen, kräftigen Männerkörper schlingt, einen unbekannten, und doch bekannten, die Glieder ungezügelt vor Begierde, sie strecken sich wie Schlangen, ein Schlangenknoten aus Fleisch, pulsierend und zappelnd in hemmungslosem Rausch. Rundherum in der Dunkelheit tanzende Menschengestalten, nein, es sind keine Menschengestalten, sondern Teufel, Dämonen, die wüste Beschimpfungen ausstoßen, die Gesichter zu widerlichem Grinsen verzogen, lodernd vor Bosheit und Gier; Gesichter, die er kennt. Ein Bild nach dem andern, und dahinter das wachsbleiche Gesicht des Jungen, Jakob, der ihn mit schwarzen, fremden Augen anschaut, von einer kahlen Stelle auf dem Stubenboden, an der vorher eine grüne Truhe mit Blumenbildern auf dem Deckel stand, daraus wird das Gesicht Sunnevas, durch eine Grimasse der Lust entstellt, die am ehesten einem Grinsen ähnelt, einem Todesgrinsen auf einem leichenblassen Gesicht, einem so weißen, Hände gefaltet auf der Brust, die nicht mehr atmet, knochige Hände, kräftig, die Wunden fast alle verheilt, reglos –
Und ein Schluchzen steigt aus seiner Kehle auf, er versucht zurückzugehen, einen Weg zu finden zu jener Wirklichkeit, die er hier in der Nacht auf einem Stein am Strand verloren hat. Den sicheren Boden wiederzufinden, auf den er sein Leben gebaut hat, so daß es in die Tiefen verschwinde, dieses dunkle Grauen, das ihn zu sich ziehen will; diese Fieberträume, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, sind auf keine Weise mit ihm verbunden, sondern Teil von etwas ganz anderem, von etwas, das er immer gefürchtet und gemieden hat – und vielleicht hat er deshalb darauf gewartet.
Es ist die dunkelste Stunde der Nacht, bewölkt, und die See liegt blauschwarz vor ihm, hellgraue Flecken weiter draußen, in dem dunklen Blau verstreut, das draußen am Horizont mit dem düsteren Himmel zusammenfließt. Das Licht der Nacht ist verschwunden. Hat es nie gegeben. Nur dieser weißliche Widerschein vom Treibeis am Horizont, und er fühlt, wie die Dunkelheit ihn bedrängt, sich über seinem Kopf schließt, hört die alte Sina von der Strafe für Hochmut und Stolz murmeln, während er durch die Leere irrt. Und dann plötzlich ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, ein Lächeln, und er greift danach, krallt sich krampfhaft fest, um nicht zu fallen, nicht abzustürzen –
Sunnevas Lächeln.
Und er wundert sich noch immer über diese seine junge Frau, die meinte, Freude sei den Menschen geläufiger als Kummer. Die sich über einen Vogel im Flug freuen konnte, eine Eisschicht auf einer Pfütze oder sogar nur über eine Fliege an der Wand. Die Blumen sah, wo andere nur Unkraut sahen. Und plötzlich, wie ein Pfeilschuß mitten in all dem Grauen, trifft ihn die Erkenntnis, daß die Freude, von der sie spricht, etwas ist, das außerhalb seines Verständnisses liegt, etwas, das ihm nicht gegeben ist, er weiß jetzt, daß sie das Leiden nicht ausschließt, auch nicht den Tod, dies nicht als Widerspruch oder Gegensatz auffaßt, sondern als etwas, das zusammenpaßt, zusammengehört, leise in die gleiche Richtung weiterfließt.
Dann ist es verschwunden, zurück bleibt nur bitterer Schmerz, der schwer wie ein Felsbrocken auf ihn fällt.
Hol sie, jammern die Augen Fridmeys, die nachts neben Jakobs Leiche sitzt und nicht schlafen kann. Hol sie, flüstern die tödlich verletzten Augen Thorkells, der am Eingang zum Speicher auf Fridmey wartet. Hol sie, dröhnt der Hammer des alten Einar, Schlag auf Schlag, hol sie, hol sie. Sogar Gudridurs Augen blicken ihn fragend an.
Doch er schiebt sie zur Seite, schüttelt sie ab, wie einen Hund, der ihm die Hand schlecken will.
Er kann es nicht. Kann es einfach nicht. Auch wenn er es wollte, er kann es nicht.
Und läßt den Kopf hängen, ein Mann mit grauem Haar, klein und stämmig, die Schultern vorgebeugt, wie unter einer drückenden Last, in ihm eine Angst, die ihn vermutlich nie mehr verlassen wird.
Er sitzt dort auf einem Stein in der düsteren Nacht, gefangen in einer Situation, aus der es keinen Ausweg gibt. Er weiß nicht, daß bald ein kleiner Pfropfen links in seinem Kopf ihn flach vor Thorkells Füße legen wird, genau an jenem Ort, an welchem Nina viele Jahre später wie eine Schnecke im Gras sitzt. Ein Pfropfen, der ihm eine Gasse aus der aussichtslosen Lage sprengen wird, in der er sich befindet, und ihm wiedergeben wird, was er endgültig verloren glaubte, Sunneva. Es wird seinen Preis kosten, einen hohen Preis, aber den bezahlt er, ohne mit der Wimper zu zucken. Kein Preis ist zu hoch, um Sunneva zurückzubekommen, um dem Dunkel zu entfliehen. Er