Ninas Geschichte. Fríða Á. Sigurðardóttir
er, Fridmey?« fragt die Stimme weiter, lauter, und sie versucht zu antworten, während weiter grüngelbe Galle aus ihrem Mund quillt. Lebt, Flüstern der Wellen, der Mund voller Galle, stößt die Hand von ihrer Stirn. Weg. Weg mit dieser Hand. Hat alles vergessen, was Sunneva ihr beigebracht hat, die Mutter vergessen, die Schwester, das Licht eines neuen Lebens, eines besseren Lebens – erinnert sich nur an ihren Schmerz.
An diesem Tag –
Jakobs Körper, der am Seil hängt – ein blutiger Kopf, der sich in Stefans Armen zur Seite neigt – Gudridurs Stimme, ein hoher, einförmiger Ton, der immer lauter wird, fällt über den Felsen hinab, verliert sich im Geschrei der Vögel, im Tumult, im Lärm. Nein. Gudridurs Gesicht. Ein Stein. Gudridur, die vielleicht auch ihren Traum hatte, sich vielleicht bestimmte Vorstellungen gemacht hatte, all die Jahre, in denen sie das Haus versorgte, nachdem Rebekka starb, die Bäuerin. Bevor Sunneva kam und alles änderte. Änderte –
Jaakoob
Ein stechender Schmerz, und sie wird zur Seite geschleudert, das Geschrei verstummt. Sunneva hat sie geohrfeigt. Reicht ihr etwas Feuchtes, um sich das Gesicht abzuwischen. Fridmey erhebt sich langsam auf die Knie, streicht sich über das Gesicht, wischt Tränen und Erbrochenes ab. Sie zittert. Steht dann unsicher auf den Beinen, weist Sunnevas Hand zurück. Fridmey. Nicht mehr dieser schluchzende Körper, der sich zwischen den Steinen am Strand krümmte, sich in dem schwarzen Schreien auflöste; Fridmey, die Verlobte Thorkells, des Sohnes auf dem Hof mit seinen blaßblauen Augen, die Freundin Sunnevas, Fridmey.
»Komm«, sagt Sunneva und zieht Fridmey das nasse Tuch aus den Händen. »Jetzt ist keine Zeit für Tränen.«
So sehe ich sie. immer vor mir. Zwei Frauen, die eine blond, die andere dunkler, beide zerzaust wie nach einem Kampf, auf dem Weg zu dem grasbewachsenen Haus, das längst eingestürzt ist. Mehr als ein Jahrhundert später sitzt Nina auf den Ruinen und sieht, wie sie aus der Dämmerung kommen. Sie gehen schnell, Sunneva ein kleines Stück voraus, Fridmey hinterher, beide nach vorn gebeugt, als duckten sie sich vor einem Sturm, die Hände an den Seiten. Im Hintergrund ein heller Schoner, der vom Land wegsegelt, blaugrüner Schimmer auf dem Gras im Abendlicht. Dunkel gekleidete Frauen im Schatten des Felsens, sie gehen mit schnellen, entschlossenen Schritten; keine von ihnen blickt sich um.
»Sie hat Sunneva nie vergeben«, sagt Marias Stimme durch die Jahre.
»Dummes Zeug«, hört man Thordis’ Stimme von weit her sagen, Mutters Stimme. »Es wurde immer gesagt, daß Schwiegermutter und Schwiegertochter besonders gut miteinander ausgekommen seien. Nie ein kränkendes Wort zwischen ihnen. Und was gab es da schon zu vergeben?«
»Nichts«, sagt Marias Stimme. »Und vielleicht doch alles.«
»Ach gute Maja!« Und in der Stimme liegt Unwille, der an Scham grenzt, fast schon an Schmerz, über solche Gefühlsduselei und Sentimentalität, solche Romantik. »Sie wohnten Seite an Seite auf demselben Grasbuckel, über vierzig Jahre lang.«
»Und was ändert das, liebe Schwester?«
»Niemand wohnt all die Jahre in Uneinigkeit.«
»Du bist ein Kind, Thordis.«
Aber das Mädchen Nina Katrin Sunneva weiß, daß Fridmey Sunneva nie vergeben hat. Sie weiß es. Sie ist elf Jahre alt, bald zwölf, und hat über schwere Schicksale und die Liebe in Büchern gelesen. Kann es kaum erwarten, selbst an diesem aufregenden Tanz teilnehmen zu dürfen.
»Jakob«, fragt sie ungeduldig, verärgert darüber, daß ihre Mutter so ablehnend reagiert und in eine Geschichte eingreift, die sie nichts angeht. »Was wurde aus Jakob?«
»Was soll das eigentlich, dem Mädchen solche Geschichten zu erzählen. Ich glaube, es wäre besser, du würdest mir beim Abwasch helfen, statt deine Urahnin der Hurerei zu bezichtigen, von allem anderen ganz abgesehen.«
»Ja, aber liebe Disa, ich will viel lieber Geschichten erzählen.«
Und Marias Lachen schallt durch die Stube.
»Jakob«, quengelt Nina wieder und will am liebsten die Tür zur Küche schließen, damit ihre Mutter aufhört, sich einzumischen und alles kaputt zu machen. »Was wurde aus Jakob?«
»Jakob«, sagt Maria und zögert, den Namen auszusprechen, sieht vielleicht in den Augen des Mädchens den Wunsch, daß alles gut ausgehen soll, aber dahinter auch das Verlangen nach Tragik, Schrecken und Tod. »Jakob,« sagt sie wieder, und ihre Augen verdunkeln sich, die Geschichte nähert sich von neuem.
Nina kuschelt sich tiefer in den Sessel und sieht gebannt zu, wie Maria einen braunen Zigarillo aus einem Etui auf dem Tisch schüttelt und ihn anzündet. Eine dünne Goldkette umschmeichelt die helle Seidenmanschette, als sie die lange, dünne Zigarre an ihre Lippen hebt, und das Mädchen atmet den Duft tief ein, den Duft Marias. Dieser Schwester ihrer Mutter, die wie ein Bild aus einer Zeitschrift oder aus dem Kino aussieht, obwohl sie älter ist als Mutter, und im Ausland gelebt hat. Maria, eine rauhe, bezaubernde Stimme, eingehüllt in Zigarrenrauch und einen schwachen Duft von Chanel No. 5.
Jakob.
In der Abendbrise ein starker Geruch von Eigelb, Vogelkot und Blut, der Geruch des Frühlings, mit Blut vermischt.
Eine traurige Prozession nähert sich von den Felsen her. Eine schweigende Prozession, die sich gebückt über den Hang hinab bewegt, ein schwarzer Punkt in der unendlichen Landschaft, der sich langsam vorwärts schiebt. Ein trauriges Häufchen, mit schwerem Schritt, unter einer noch schwereren Last.
Der Hieb ist gefallen, die graue Pranke hat ihre Macht gezeigt.
Es ist Sunneva, die dieser dunklen Gruppe entgegenläuft. Hat Fridmey angewiesen zu warten, die Glut anzufachen und Wasser auf dem Herd abzukochen, ihm ein Bett zurechtzumachen, zu warten. Und das Bett wird sie ihm weich zurechtmachen, so weich sie nur irgend kann, während ihre Ohren jedes Geräusch wahrnehmen, jede Bewegung während des endlosen Wartens, das ihr beinahe den Verstand raubt. »So ist es eben«, murmelt die alte Sina und humpelt umher, will helfen, darf aber nichts anfassen. Muß sich wieder aufs Bett zu ihrem Strickzeug zurückziehen. Aber sie berührte Fridmey leicht an der Wange, als sie vorbeihumpelte, vielleicht zufällig, vielleicht auch nicht, wer weiß. Doch wie auch immer, es war wie ein Licht, das in der Dunkelheit aufleuchtete. Nicht lange. Aber dennoch, ein kleines Licht. Eine kleine Weile.
Sunneva untersucht Jakob schweigend, streicht vorsichtig Blut von seinem Gesicht. Seine Augenlider beben, öffnen sich nicht, die Haut ist über die hohen Wangenknochen gespannt, grau und fahl. Sie kennt diese Farbe. Die offene, zerrissene Wunde vom Scheitel bis über das Ohr hinunter klafft ihr entgegen. Der Körper gekrümmt, als habe ein Riese ihn in seiner Faust zerquetscht. Sie wischt halbgeronnenes Blut vom einen Mundwinkel ab, und eine seltsame Ahnung überkommt sie, eine Erkenntnis, die sie von sich zu schieben versucht, während sie an Jakobs Seite geht. Denn es ist Einbildung, Unsinn. Niemand kann so etwas so schnell wissen. Aber sie kann sich nicht dagegen wehren, so stark drängt es sich ihr auf. Sie weiß, weiß, daß ein neues Leben in ihr gefruchtet hat. Weiß es mit vollkommener Sicherheit.
Ihr wird schwarz vor den Augen, sie kommt erst wieder zu sich, als sie unsanft angestoßen wird, so unsanft, daß sie stolpert.
»Laß ihn in Ruhe!« Es ist Gudridur, die Stimme kalt wie eisiger Stahl, der sich ins Fleisch schneidet. Die Männer blicken ausdruckslos vor sich hin, tun, als hörten sie nichts. »Jetzt wirst du ihn in Ruhe lassen! Du hast schon genug getan …« fährt sie fort, verstummt aber und starrt mit offenem Mund auf das Tuch, das aus Sunnevas Hand auf den Boden gefallen ist. Ausgebreitet liegt es da auf der rotgetränkten Erde, blau mit breiter Bordüre und Fransen, ein Schultertuch, das nicht von hier stammt, das ist sicher, es bewegt sich leicht wie ein Lufthauch auf Erde und Steinen, mit einem Duft von unbekannten Welten in seinen Farben. Ein Geschenk dieses Tages, mit Blut befleckt, mit Tränen und Erbrochenem.
Einen Augenblick lang starrt auch Sunneva, dann reißt sie das Tuch vor Gudridurs Augen an sich, knüllt es fest in ihren Händen zusammen, während ihr Blick auf ihren Ehemann fällt, der sich sogleich abwendet.
Etwas wie ein Lächeln überzieht Gudridurs Gesicht, eine lächelnde