Ninas Geschichte. Fríða Á. Sigurðardóttir
konnte, daß er sie einmal mit solchen Augen anschauen würde! Das ist Hexerei! Und sie weiß auch, wessen Schuld das ist.
Das Schweigen folgt den Menschen ins Haus hinein. Man spricht nicht einmal richtig über die Wetteraussichten für den nächsten Tag, sagt nur ein paar vereinzelte Sätze. Bloß die alte Sina murmelt ununterbrochen etwas vor sich hin, während sie zu Bett geht. Gudridur meint, alte Gebete zu hören, oder sogar Beschwörungen. Gegen böse Mächte. Was sicher nicht schadet, denn hier scheint einiges in der Luft zu liegen, und zwar nichts Gutes.
Allmählich wird es still in der Stube, das Räuspern und Schnupfen verstummt und das Schnarchen beginnt, die feuchte, schwere Luft zu teilen. Zusammen mit Sinas Gemurmel. Ab und zu verstummt sie eine Weile, dann hört man sie schimpfen und fluchen, sogar ausspucken, schließlich beginnt das Gemurmel von neuem. Gudridur sagt alle Gebete auf, die sie kann, leiert sie immer wieder Wort für Wort herunter, aber nichts hilft. Es will ihr einfach nicht gelingen einzuschlafen, trotz der vielen Gebete. Sie ist voller Unruhe, immer verfolgen sie Jakobs Augen. Und sie stöhnt und wirft sich hin und her. So scheint es aber auch noch anderen zu gehen, denn die Leute schlafen ungewöhnlich unruhig in dieser Frühlingsnacht, die nie ein Ende nehmen will.
Aber sie endet doch. Wie andere Nächte. Und am Morgen erhebt man sich und macht sich wieder auf den Weg zum Felsen.
Es ist kurz vor sechs Uhr abends, als ein Mädchen hoch oben am Berg auftaucht. Wie ein herabstürzender Vogel wirft sie sich die Hänge hinunter, fliegt über Steine und Geröll, Moospolster und Moorsenken, fällt in einen Bach, der nach dem Tauwetter stark angeschwollen ist, rappelt sich aber gleich wieder auf und stürmt weiter; ein dunkler Vogel, der direkt auf den Hof zu hält.
»Alles in Ordnung hier?«
Ein Gesicht in der Tür, ein Lächeln. Nicht Margret, die mit mir in dieses Zimmer kam, in dem die Freesien duften, leise, aber festen Schritts, die Beine voller Krampfadern unter den dicken Gummistrümpfen. Ein Mädchengesicht, jung.
Hastig verdecke ich das Blatt mit meinen Händen, schaue sie an, gebe keine Antwort.
»Alles in Ordnung hier?«
Eine unverständliche Frage, zu absurd, als daß man darauf antworten könnte.
»Möchtest du vielleicht eine Tasse Kaffee?« fragt sie weiter, die Stimme etwas leiser, verlegener, das Lächeln verschwunden.
Ich schüttle den Kopf, will keinen Kaffee, ich bin beim Laufen, mit Fridmey, bin in eine Geschichte verstrickt; der schwere, nasse Rock flattert um meine Beine, hemmt bei jedem Schritt, ich hätte den Rock aufschürzen sollen, der eine Schuh ist auseinandergegangen und außerdem ist der Riemen gerissen, ich habe den Geruch des spät erwachten Frühlings in der Nase. Es juckt mich unter den nassen Wollsocken, aber Fridmey rennt weiter. Und während sich in einer anderen Welt eine Tür schließt, gehe ich ihr nach ins Haus hinein, in diese jämmerliche Hütte, die in meinen Augen keine menschenwürdige Behausung ist, ihr aber großartig vorkommt; ich weiß, daß dieses Haus mit dem Loch, in dem ihre Eltern wohnten und immer noch wohnen, nicht zu vergleichen ist, und weiß all die Verbesserungen zu schätzen, die Sunneva mit der Zeit veranlaßt hat: Die holzverkleidete Dachschräge schmückt sich mit neuen Brettern, die Fußböden sind erneuert, die Wände repariert und die Fenster vergrößert. Nicht zu vergessen die Sauberkeit. Ein weiterer Grund für Gudridurs Ärger und Verbitterung. Sogar den alten Knecht Einar hat Sunneva dazu gebracht, sich mit der Lauge zu waschen, die sie zusammenkocht und die von allem Ungeziefer befreit. Aber Fridmey läuft weiter, verschwindet in dem dunklen Gang, vorbei an der Küche und der Speisekammer, der Schiebetür zum Stall und zur Scheune, in die Stube hinauf, wo die alte Sina am hellichten Tag dösend auf ihrem Bett liegt, untätig, wie sonst nie, die Stricknadeln sind auf den Boden gefallen. Ich bin ganz benommen von dem Erdgeruch und der Feuchtigkeit, der stickigen Luft, der Dunkelheit. Und Sinas Gemurmel über Gäste, hier sei ein Gast gekommen, zum zweiten Mal, verliert sich in Übelkeit und Schwindel. Doch Fridmey ist verschwunden, steht auf dem Hofplatz und sieht sich um, Entsetzen im Gesicht. Sunneva. Eine warme Hand an ihrer Wange, ein Gesicht, das sie anlächelte, als sie es zum ersten Mal sah, sagte, jetzt werde alles gut, sie müsse sich vor nichts fürchten, sie, die junge Magd auf dem Hof. Sunneva. Die Mutter, die Schwester, das Licht des Lebens.
Nimm dich in acht, Fridmey, stell keine solchen Forderungen.
Und Fridmey läuft schon wieder los. Hat Sunneva am Strand erspäht. Schreit ihren Namen. Es wird aber nur ein heiseres Flüstern.
Am Strand steht eine Frau, die Fridmey nicht kennt, noch nie gesehen hat: ein schlaffes Gesicht, von einem stummen, gierigen Glanz erfüllt, die Lippen geschwollen, die Augen glasig. Eine Unbekannte.
»Sunneva«, flüstert Fridmey, aber die Frau hört und sieht sie nicht. Sie sieht nur das Boot, das sich vom Land entfernt.
»Sunneva!« ruft Fridmey, und die Frau löst widerwillig ihren Blick von dem schwarzen Kopf und den breiten Schultern, die sich so schnell, so schnell entfernen; sie blickt das Mädchen an, als hätte sie es nie zuvor gesehen. Und Fridmey sinkt auf dem Strand zu Boden.
»Sunneva«, flüstert sie ins Gras, »Sunneva.«
»Ja«, sagt die Frau, und aus ihrer Stimme klingt Ungeduld. Auch ihre Stimme ist fremd. »Was willst du?«
Fridmey richtet sich auf und blickt dem Mann nach, der an Bord des weißen Schoners klettert. Einen Augenblick lang hebt er sich deutlich gegen die helle Schiffsseite ab, und es sieht so aus, als ob er eine Kutte trägt, eine schwarze Kutte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sie sieht, daß er zum Land hin winkt, sieht, daß Sunneva ihren Arm seinem Arm entgegenstreckt und ein Lächeln über ihr Gesicht huscht, ein geheimnisvolles Lächeln auf einem fremden Gesicht, und sie würde am liebsten den ausgestreckten Arm packen und rufen: Nein! Nicht winken! Siehst du nicht, wer das ist! Aber sie tut es nicht, wagt es nicht angesichts des Zaubers, der hier in der Luft liegt, sondern schreit: »Es hat einen Unfall gegeben«, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken.
Sie steht dort am Strand, die weiße Hand erhoben, die dicken, blonden Zöpfe haben sich gelöst und fluten ihr über den Rücken, leuchten in der Sonne; sie lehnt sich vor, ihr Körper ist kraftlos und schwer, als sei sie eigenartigen Mächten ausgeliefert. Die Luft um sie vibriert in rötlichem Schein, einem Feuer, das sie im nächsten Augenblick zu verschlingen droht.
»Ein Unfall. Es hat einen Unfall gegeben. Sunneva.«
»Ein Unfall«, wiederholt die Frau am Strand, als verstehe sie das Wort nicht, das Bild des dunklen Mannes hält ihre Augen fest, will sie nicht loslassen. »Ein Unfall?« sagt sie nochmals fragend und dreht sich langsam Fridmey zu, als sehe sie das Mädchen erst jetzt, die Augen rastlos, als erwache sie aus einem Traum. »Wer?« fragt sie dann scharf.
Fridmey öffnet den Mund, um Antwort zu geben, aber statt Worten bricht Schluchzen hervor, ein schwerer Schmerz, der sie fast erstickt. »Jakob«, gelingt es ihr schließlich hervorzustöhnen. »Ein Stein«, stöhnt sie weiter und versucht aufzustehen. Jakob. Etwas durchbohrt sie, zerreißt sie innerlich, so daß sie wieder niedersinkt und anfängt, sich in den Tang zu übergeben.
Jakob.
Sie, ein erst vierzehnjähriges Mädchen, Magd, ein armes Ding im Aschehaufen. Er, vom Fischen zurück, kräftig, anders als alle anderen, bereits ein Vogelfänger, der Ziehsohn auf dem Hof. Lachen, Scherzen, ein Kuß in dunklen Gängen. Schmerz. Süßer als alles andere. Leben. Traum.
An diesem Tag wird deine Seele von dir genommen.
Woher kommen diese Worte?
Ein Blick –
»Lebt er?« fragt Sunneva. Die Frau, die hier am Strand stand und durch Fridmey hindurchsah, ist verschwunden, das Gesicht ist wieder das Gesicht Sunnevas. Sunneva, die sie um ihren Traum betrog, als sie hier vor fünf Jahren auftauchte. Vor sechs. Ein Blick nur, und sie wußte es. Wußte, daß es nur die Phantasien eines einsamen, dummen Dings waren, und Gudridurs Widerwillen und ständiges Nörgeln daher unnötig. Jakobs Augen sagten es. Blickten Sunneva an. Verfolgten sie. Immer.
An diesem Tag wird deine Seele –
»Fridmey«, sagt die