Ninas Geschichte. Fríða Á. Sigurðardóttir
und Helgi auf einer Tour durch diese Berge, auf einer Wanderung durch die Öde –
In der Ferne hört man einsames Vogelgeschrei – –
Das ist die Stunde des Vogels. Und des Felsens. Die Stunde der Betriebsamkeit und des Abenteuers in einer stillen Bucht im hohen Norden.
An regnerischen Tagen steht man früh auf und schüttelt sich den Schlaf unsanft aus den Gliedern. Dann geht man los. Man geht schräg über die grasigen Bergterrassen hinauf, höher und höher, um zum Felsen zu gelangen. Eine Gruppe von Menschen mit Kiepen auf dem Rücken und voller Spannung, denn niemand weiß, was der Tag bringt.
Ganz oben auf dem Felsen wartet das Seil, aufgerollt wie ein Lindwurm aus alten Erzählungen. Das ist der Wurm, der Gold gibt. Wenn Gott will. Alles geht nach Gottes unergründlichem Willen.
Die Leute trocknen sich die triefenden Nasen. Der Morgen ist kühl und man geht zügig voran. Die Rücken krümmen sich beim letzten Stück, und die Muskeln spannen sich. Wieder will man alles wagen und den Felsen besiegen.
Kalt starrt der Felsen seine Besucher an. Er sieht keinen Unterschied zwischen Mensch und Vogel. Die schwarzen Felswände wimmeln von Leben, alles wimmelt hier von Leben, bis ganz hinunter in den Abgrund, wo die weiße Gischt der Brandung harmlos gegen die tangbewachsenen Steine spült. Lautes, geschäftiges Leben. Aber auch Tod. Ein Stein fliegt mit lautem Sausen vorüber, und die Bewohner eines Felsenabsatzes sind ausgelöscht, verschwunden; übrig nur noch ein paar Fetzen, die dem fallenden Gestein folgen, blutgetränkte Fetzen. Ein paar Federn schweben leicht in den Frühlingsmorgen hinaus. Hinab in diese seltsame, kreischende Welt soll es jetzt gehen, diese gefahrvolle Welt der Fruchtbarkeit und der Vernichtung, wo die Pranke des Todes lauert, um jeden wegzureißen, der es wagt, dem Felsen die Stirn zu bieten.
Die Stunde des Felsens. Die Stunde der Lebensgefahr. Aber auch die Zeit, zu der fremde Schiffe am Horizont auftauchen. Mit weißen Segeln suchen sie diese Buchten im Norden auf und werfen Anker. Spiegeln sich erhaben in der blanken Oberfläche der Bucht, während die Segel eingeholt werden. Diese geheimnisvollen Märchenschiffe, die den unbekannten Duft ferner Länder mit sich führen, der ganz anders ist als der schwere, herbe Geruch des Felsens. Und in der Morgensonne legt ein Boot vom Schiff ab und nähert sich dem Ufer.
Im Haus singt die alte Sina mit ihrer rauhen Greisinnenstimme beim Stricken vor sich hin:
Es gehen die Mädchen
nach Süden am Strand,
mit ihren langen Schürzen
und blauer Leinewand.
Soll es so sein,
eine davon will ich frei’n.
Dann verstummt sie und untersucht die graue Socke, denn da ist etwas nicht so, wie es sein soll, und schau her, hatte sie es doch geahnt, hier hat sie eine Masche fallen lassen und müht sich ab, die verflixte Masche wieder auf die Nadel zu holen, ohne aufziehen zu müssen, was ihr schließlich auch gelingt, auch wenn es zuerst Schwierigkeiten macht; und wieder singt sie den Vers von den Mädchen am Strand.
»Eine davon will ich frei’n«, singt sie mit neuer Kraft, verstummt dann und schaut still vor sich hin, wobei sie ein wenig hin und her schaukelt. »Ach ja, lange ist es her«, murmelt sie, und kratzt sich mit einer Stricknadel im schütteren Haar unter dem Kopftuch. Blickt mit ihren halbblinden Augen auf den Sonnenstrahl, der voller Lebenskraft den Weg durch das Rauchloch gefunden hat, verfolgt ihn dorthin, wo er auf dem Stubenboden zerbricht, ein heller Streifen auf dem dunklen Boden. Der Frühling ist auf dem Hof eingekehrt. Und mit ihm kommen die Eier, die gesegneten Eier. Der alten Sina läuft das Wasser im Munde zusammen und sie fährt fort, alte Weisen und Verse vor sich hinzusingen, die zum Tage passen.
Auf dem Hofplatz steht die Bäuerin und hält, die Hand über den Augen, Ausschau. Ihr Gesicht verrät nicht, was sie denkt.
Niemand weiß, wo Stefan, der Bauer, seine junge Braut hergeholt hat. Manche sagen, aus dem Norden oder Osten, oder gar aus dem Süden, andere flüstern von fernen Ländern oder der Welt der Elfen. Aber wie dem auch sei, so erschien dieser gut fünfzigjährige Witwer eines schönen Tages hier mit einem blutjungen Mädchen an seiner Seite, der zukünftigen Bäuerin. Ein schweigsames Mädchen mit blondem Haar und wundersam unergründlichen Augen, die allen nahegingen, die zu lange in sie schauten. Und die ganze Gegend war entrüstet und schlug sich auf die Schenkel und harrte mit erwartungsvollem Schaudern der Ereignisse. Aber nichts geschah. Es wurde nicht einmal ein Kind geboren. – Sunneva, ein heidnischer, fremdartiger Name. Die Leute in dieser Gegend kannten ihn nicht. – Aber tüchtig war sie, das mußte man ihr lassen, machte jede erdenkliche Arbeit, eine Frau, der man ihre Leichtigkeit und Beweglichkeit ansah, nie war auch nur ein Staubkörnchen an ihr zu sehen. Es hieß, sie sei so reinlich, daß man es kaum mehr natürlich nennen konnte. Sunneva. Die Leute sagten, sie verstünde sich auf so einiges. Was genau, wußte man nicht, nicht direkt, aber sie war anders, das war nicht zu übersehen. Manchmal hörte man sie eigenartige Lieder singen, und es hieß, wer ihr zuhöre, sei danach nicht mehr derselbe. Und sie lachte, wo andere keinen Grund zum Lachen sahen. Verschwand auch manchmal zu abendlicher Stunde, wenn alle gewöhnlichen Christenmenschen schlafen gegangen waren. Sprach wenig über das, was sie tat. Es hieß, sie sammle Kräuter. Und man sagte, sie verstehe sich auf sie. Und manchmal konnte man in der Dämmerung diesen geheimnisvollen Gesang hören, hohe Töne, die direkt in den Himmel zu fliegen schienen, und jeden mit sich zu ziehen, der zuhörte. Deshalb war es besser, vorsichtig zu sein. Oft steckt ein Wolf im Schafspelz. Das wußten die Menschen in dieser Gegend. Und obwohl alles genau mitverfolgt wurde, schien doch nichts darauf hinzudeuten, daß sie ihrem Mann nicht genau die Frau war, die er haben wollte. So seltsam das auch sein mochte.
Und der Tag vergeht.
Der Abend bricht an, hüllt das Meer, die Erde und den Himmel in ein unwirkliches Licht. Und an der Grenze zwischen Tag und Nacht tauchen die Leute vom Felsen mit ihrer Bürde auf, treten mit ihren Kiepen und Bündeln wie fremde Wesen oder Fabeltiere aus dem Abend heraus. Der Tag war ergiebig. Der Kampf mit dem Felsen ist überstanden, der Sieg errungen. Für diesen Tag.
Am Rand der Anhöhe bleiben sie stehen und verschnaufen. Die Bucht liegt vor ihnen im Abendlicht, eng und karg von hier aus gesehen, ein Fleck, der sich aus der Umklammerung des Bergriesen dem Meer zuwendet.
Aber was liegt dort und schaukelt am Strand?
»Ein Boot?« sagt Thorkell, Stefans Sohn, mit Verwunderung und Sorge in der Stimme.
Und sicher, es sieht aus wie ein Boot. Aber nicht wie eines, das sie kennen. Die Leute schauen einander an, und ein böser Verdacht macht sich breit. Der Bauer Stefan zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber wenig und beschleunigt seinen Schritt den Berghang hinunter. Ihm folgt sein Neffe, der Vogelfänger Jakob, der dreiste Kerl, von dem gesagt wird, er fordere den Felsen und das Schicksal mit gottlosen Sprüchen heraus, während er sechzig Klafter tief an der Felswand hängt. »Es ist nur Gottes besonderer Milde und Barmherzigkeit zu verdanken, daß er die bösen Geister und Ungeheuer der Klippen noch nicht auf sich gezogen hat«, sagt die alte Sina. Und Jakob lacht. Die bösen Geister des Felsens fürchtet er nicht, nur die eigene Angst. Die ist unmännlich und wird niemals zugegeben. Und es wäre ja auch zwecklos. Denn Nahrung muß man besorgen. Deshalb lacht er. Aber als er jetzt bergabwärts rennt, lacht er nicht, er hat Stefan weit überholt, besinnt sich aber schließlich und bleibt mit verbissenem Gesicht stehen. Man sagt auch, daß er zuweilen recht lang in die klaren Augen der jungen Hausfrau geschaut habe. Hinterdrein kommen Thorkell und Einar, der Knecht, zuletzt Gudridur und Fridmey. Alle wissen, daß man sich nur wenig auf die Ehre jener ausländischen Ritter verlassen kann, die über die Meere segeln, man kann nie wissen, was man von ihnen zu erwarten hat, selbst wenn ihre Waren gut sind. Sunneva hat sich allerdings als geschickt im Umgang mit ihnen erwiesen. Tanzte ihren sonderbaren Tanz mit diesen dunkelhaarigen Männern, einen Tanz, den sie offensichtlich zu schätzen wußten; schwirrte von einem zum anderen, eine Hand strich über blonde Zöpfe, streckte sich nach der schmalen Taille, Finger näherten sich Brüsten, die in einem dunklen Mieder steckten, aber dann war alles verschwunden, ein Trugbild nur, das sich in Luft auflöste, während ausgelassenes Lachen erschallte. Am Abend hatte sie die Waren ergattert, die sie haben wollte; mit vergnügtem Gesicht und Glanz in