Oktober. Walther von Hollander
stehen müssen, und schräg gegenüber einen Schlächterladen mit Würsten im Fenster, einem halben Schwein und einem Ochsenviertel.
„Ich freu’ mich so“, sang Ilse, „ich freu’ mich so.“
Maria wurde ein wenig mutiger unter Ilses Freude. Der doppelte Schreck von gestern, der sie die Nacht über verfolgt hatte, der Schreck über das plötzliche Auftauchen Zylvercamps und der nicht ganz klare Schreck über diesen Baudis ... sie wichen ein wenig zurück.
Sie sagte: „Wenn ich den Guido heirate, werde ich viel Zeit haben. Wahrscheinlich kommt er in den Generalstab, und da arbeiten sie ja eigentlich immer. Ich habe ihn auch gefragt, wozu er eigentlich eine Frau braucht. Er sagte: um mit den Gedanken irgendwo zu Hause zu sein. Hübsch, nicht wahr? Aber ich brauche nicht zu sitzen und zu warten. Ich werde ein Atelier haben.“
Ilse winkte ab. „Das wird nur zuerst sein, später wirst du nicht mehr malen wollen. Und wenn erst Kinder da sind ...“ Sie brach seufzend ab.
Maria hatte sich aufgesetzt. „Davon verstehst du nichts, Ilse“, sagte sie scharf und beinahe böse. „Ich werde immer malen. Ebenso kannst du einem Menschen sagen: Du wirst nicht mehr atmen wollen, wenn du erst Kinder hast. Immer und unter allen Umständen werde ich malen. Hast du verstanden?“
Ilse erwiderte nichts. Sie brach das Gespräch einfach ab. Wenn Maria dieses Gesicht machte, ein Gesicht, steinern, mit Falten rechts und links vom Mund wie eine Meduse, dann hatte es keinen Zweck, zu sprechen ...
2
Es war nachmittags um drei. Die Sonne kam bei ihrem Gang über die wipfelbunten Tiergartenbäume am Turm der Kaiser-Friedrich-Kirche vorbei und fiel in das Atelier Zylvercamps.
Sie prallte mit Bündeln von Sonnenstrahlen durch das Glasdach, durch die Glaswände und füllte den Raum mit flirrender Helligkeit und einer trockenen, angenehmen Hitze. Denn ein leichter, kühlender Wind kam von den Bäumen her, ein Nordwestwind, genau aufs Atelier gezielt.
Zylvercamp liebte diese Sonnenstunde am meisten. Es war seine beste Arbeitsstunde. Er hatte das Atelier so in die Hausecke brechen lassen, daß er die ganze Nachmittagssonne bekam, wenn sie überhaupt schien. Er haßte die Nordateliers mit der kellrigen Schattenluft, aus der auch — wie er sagte — nur Schattenbilder kommen konnten, von Leuten gemalt, die durch die Sonne in ihrem Farbsinn gestört wurden. Die also den Quell aller Farbigkeit nicht ertragen konnten. Die künstliches Nordlicht haben mußten, Häuserlicht, Kalklicht, damit ihre kümmerlichen Farben nicht das letzte Leuchten verloren.
Zylvercamp betrat jetzt sehr schnell das Atelier. Er kam vom Nachmittagsschlaf. Seine rechte Wange war kindhaft gerötet, und der rötliche Haarkranz, der seine Glatze umstand — lockig und nun mehr und mehr von Grau durchsetzt, das langsam das Sonnenrote im Haar auslöschte —, war ein wenig verwühlt. Er trug ein blusiges blaues Hemd mit Taschen und sehr weite blaue Leinwandhosen, seine gewöhnliche Arbeitskleidung.
Er trank schnell eine winzige Tasse Mokka, die in einer Ecke des Ateliers aufgestellt war, und stopfte eine seiner langen, dünnstengligen Holländerpfeifen, während er schon das Bild betrachtete, das auf der Staffelei stand.
Es war ein Selbstporträt. Zylyercamp, im blauen Hemd und blauen Leinwandhosen, malend. Als er mit einundzwanzig Jahren das erste wirklich gute Selbstporträt gemalt hatte, hatte ihm Trübner, sein Lehrer in Karlsruhe, aufgetragen, er solle alle sieben Jahre ein Selbstporträt malen. Merkmale am eigenen Lebensweg. Ehrliche, ganz und gar ehrliche Spiegelfängereien.
Zylvercamp hatte es treulich eingehalten und bis auf das Selbstporträt von damals, den Einundzwanzigjährigen mit einer Stahlbrille darstellend, mit einer Löwenmähne roten Haares, mit Koteletten wie ein Bohemien, mit hellen Hosen wie ein Geck, mit guten, hellen, klaren Augen und einem unfertigen, gierigen Mund ... bis auf diese Jugendarbeit, die in der Nationalgalerie hing und von da in die Lexika und Kunstgeschichten gewandert war, besaß er alle Selbstporträts.
Er brauchte nur in jenen Winkel hinter dem Diwan an den „Giftschrank“ zu gehen und sie rauszuholen. Er hatte nicht übel Lust dazu. Aber zuerst mußte er arbeiten. Keine Entschuldigung galt mehr. Er war in den letzten Tagen nicht vorwärtsgekommen. Er hatte gefaulenzt und gepatzt. Er war spazierengegangen, als ob man jemals Zeit hätte. Als ob man „später“ irgendwas nachholen könnte. Er wußte genau, daß jede Zeit nur ihr eigenes Werk kennt, daß nichts nachgeholt werden kann, wenn die Zeit vorbei ist.
Also angefangen! Das Modell, den Maler Zylvercamp, vorsichtig von der Seite im Spiegel angegangen. In den hellen Augen saß noch etwas Schlaf. Nein, wenn man näher zuschaute, die Kälte und die Schrecken der Dunkelheit. Wenn man ganz genau hinschaute und wagte, das Geschaute zu malen, so mußte in den Augen langsam der Tod hervorglimmen.
Und was war Tod? Nichts mehr sehen können, nichts mehr unterscheiden können, nichts mehr empfinden, nichts mehr gestalten können. Nichts, niemals mehr malen können. Also vorwärts, male jetzt wenigstens den Tod, wenn er zum Vorschein kommt.
Aber es war nicht der Tod. Es war der Traum, der in den Augen saß. Ein Traum allerdings, sehr nahe am Tod.
Die Ebene um die Bauernkate zu Hause in Ohrau kam darin vor. Die Nesselgrube gleich hinten am Erlengebüsch mit dem winzigen Teich im Grunde, in dem die Feuersalamander hockten, über dem die Gössel schnatterten. Die Nesselgrube, in der die alte Matratze verschimmelte und verrottete, die Kochtöpfe und Eimer ohne Boden und vor allem jene Blechkaffeekanne, die der Großvater sich immer zurückholte, weil sie sein Leben begleitet hatte und die deshalb nicht verrosten durfte, sondern das Gnadenbrot haben sollte in der Dämmerecke über dem Herd im Altenteil. Aber der Vater, ein sehr harter Mann, ein Mann, der für das „Vernünftige“ war, brachte sie immer wieder in die Nesselgrube zurück.
Eine löchrige Kanne aufbewahren, welch ein Unsinn!
Zwischen diesem Gerümpel, den Resten eines armen Lebens, wuchsen die Nesseln, dunkelgrün und üppig. Die nährten sich gut von Rost und Schimmel.
Und nun der Traum: Zylvercamp wachte als Knabe in seinem Kinderbett auf, weil das Bett plötzlich viel zu klein wurde. Er war in einer Nacht riesenhaft gewachsen, ein Mann geworden. Eine Stimme aber rief ihm zu, er solle aufstehen.
Im gleichen Augenblick fühlte er sich gehoben, schwebte durch die Wand in die große Tenne, flog dicht über dem gebuckelten Lehmboden in den Kuhstall, umflog die milchwarmen Kühe, übersprang den oktoberleeren Gemüsegarten und landete in der Nesselgrube.
Er stand zwischen Nesseln und Gerümpel. Er hob die Kaffeekanne des Großvaters auf. Er suchte den alten Melkeimer, über den seine Mutter sich vierzig Jahre lang vierzigtausendmal in der Stalldämmerung gebückt hatte, den Kartoffeltopf, in den er heißhungrig unzählige Male gegriffen hatte, die Waschschüssel, in der er als kleines Kind gewaschen worden war und die viele Jahre noch unter der Regentraufe gestanden und die Regenlieder der Traufe beantwortet, die Schmelzlieder der Dachrinne mitgesungen hatte.
Er hockte sich jetzt auf die Matratze der Großmutter, die man gleich nach dem Tode der Alten auf den Nesselfriedhof hinaustrug, wie er unzählige Male am Bett der alten Frau gekniet und die alten Gebete mitgesprochen, die zittrigen Gesangbuchverse mitgesungen hatte.
Die Stimme sagte: Sieh dir das alles noch einmal an! Zylvercamp nickte. Die Stimme aber fuhr fort: Und dann laß es liegen.
Zylvercamp aber sagte: Das geht nicht, das darf man nicht. Es ist doch alles noch zu gebrauchen. Und hatte die Blechkanne des Großvaters erhoben ... Wer bist du überhaupt?
Ich? fragte die Stimme ... viermal, zehnmal: Ich? Ich? Ich? ...
Und jedesmal hatte sie den Stimmklang eines anderen Menschen. Es schien die Stimme der Großmutter zu sein und die Renate Zylvercamps, die Stimme der Mutter und die Stimme Maria von Nemeschs.
Ich? ... Ich? ... Ich? ...
3
Das war der Traum gewesen. Zylvercamp aber hatte jetzt ein paar Pastellstifte ergriffen und zeichnete den Nesselgrund. Aber sich selbst zeichnete