Oktober. Walther von Hollander
diesem Löwenmaulbild hatte er Renate getroffen, eine pommersche Landfrau mit dem feinknochigen Gesicht und der zarten Haut der Städterin, mit straffen Haaren, die über der Stirn wie Pferdehaare abgeschnitten waren. Er hatte gesehen, daß sie lange unter dem Bild stand und schließlich überwältigt weinte. Und er hatte sie einfach weggeholt, weggefangen wie ein junges Pferd von der Steppe. Er wußte es genau: damals, als er voll guter Ideen und Einsichten, aber mit geringen Verwirklichungen im schlimmsten Übergang steckte, da er unmutig, lebensunsicher und lebensüberdrüssig war, hatten ihn ihre Freudentränen zum Leben zurückgeholt.
Sie hatten ihn erschüttert wie ein Erdbeben, und es war endlich ans Licht gekommen, was an Lebensfreude, an Klarheit, an Heiterkeit und Klugheit in ihm gesteckt hatte.
Da kam die große Zylvercamp-Zeit, aus der das Porträt Nummer vier stammte. Es war um den fünfzigsten Geburtstag herum gemalt. Selbst die beginnende Glatze leuchtet auf diesem Bild. Die Augen, ein wenig malerhaft zusammengekniffen, funkeln vor Farblust, vor Lebensfreude. Welch ein Gefühl, auf der Höhe des Lebens zu leben! Welch eine rasende Lust, das zu gestalten, was schon lange gewartet hatte, gestaltet zu werden! Welche Kraft kommt daher, daß man Kraft ausgibt! Daß man sich in immer wieder neuen Schöpfungen verschwendet. Daß man sich in Gestaltungen ergießt, die bleiben, in armselige, viereckige Leinwandstücke voll Ewigkeit.
Das verdankte er Renate. Und er verdankte ihr, daß alles Schwere leicht wurde. Selbst das bedrückte Gewissen. Er nahm doch nicht gern einem Mann seine Frau weg. Er mochte diesen Scheffer aus Pommern gern, einen schweigsamen Mann, einen stolzen Herrn, dem nie und nirgends etwas zugestoßen war, was er nicht überwinden konnte. Aber dies überwand er nicht. Genau wie Renate erdbebenhaft Zylvercamp aufriß und — wörtlich — entdeckte, genau so stürzte ihr Weggehen das Leben des Gutsbesitzers Scheffer zu.
Renate wußte das. Sie sprach damals das tollkühne, das hochmütige Wort, daß in jeder Schöpfung Geburt und Tod stecke. Und daß man es sich darum genau überlegen müsse, ob man schöpferisch zu sein wage. Denn man könne nicht wissen, ob bei einer Schöpfung Leben herauskomme oder Tod. Sei man aber erst einmal in der Schöpfung drin, so müsse man es ganz sein und könne sich nicht mehr darum kümmern, ob man das Leben anderer gefährde. Ein zweischneidig-gefährliches Wort, das heißt, mit einer Schneide gefährlich für den, über den es gesprochen wurde, und mit einer Schneide für den, der es sprach.
Denn jetzt, vierzehn Jahre nachdem es gesprochen war, jetzt fiel es Zylvercamp wieder ein, und er erkannte, daß es auch ihr Leben zerschneiden konnte.
Er packte bei diesem Gedanken seine Bilder fröstelnd zusammen. Er sah wieder das letzte, das unvollendete Selbstporträt an. Das bedeutete einen Abstieg. Deutlich. Ein Herunterkommen, mindestens einen Stillstand. Wo war der Mut hin? Wahrscheinlich mit dem Hochmut davongegangen. Wo die Kraft, das ewig Wechselnde einzufangen? Starr blickte der Mann auf dem Bild. Griesgrämig, lauernd. Er wartete. Worauf wartete er? Auf einen Anstoß von außen. Auf einen Anruf. Auf die Stimme, die ihm den Weg weisen sollte.
Er nahm die Palette noch einmal auf, er legte sie still wieder hin. Er spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.
Er saß fest. Das war ganz klar. Das Leben, das er führte, hatte ihn versandet. Mochte es nun zu satt, zu reich, zu erfolgreich, zu bequem, zu einfach sein oder war es in die unzähligen Bilder übergegangen und ihm war nichts mehr geblieben. Er war festgefahren. Mit seinem Lebensboot, mit der ganzen Fracht von Erkenntnis und Arbeit, von Familie und Freundschaft, von Kampf und Erfolg.
Er war festgefahren, und er konnte nicht loskommen, wenn nicht Hilfe von außen kam. Oder wenn er etwas von der Fracht seines Lebens über Bord warf. Das war klar. Er mußte bald loskommen. Er mußte bald wieder aufbrechen. Er konnte nicht liegenbleiben und mehr und mehr versanden.
Er wußte das schon seit einiger Zeit, und in diesem Augenblick meinte er nur genau zu spüren, daß er ohne Hilfe von außen, daß er ganz von sich aus nicht mehr die Kraft finden würde.
Von außen mußte das kommen, was ihn losriß. Darum hatte Maria von Nemesch diese helle und dunkle Gewalt über sein Herz und über sein Leben. Sie war zur rechten Zeit gekommen. Sie war ihm gesandt.
Der dritte Oktober
1
In der Nacht hatte es gestürmt. Der erste Herbstzyklon ging über die Stadt. Die Bäume des Bellevueparkes hatten geheult wie pommerscher Wald (fand Renate Zylvercamp). Am Morgen war es hellgrau, seefarben. Vom Altan aus sah man zum erstenmal die Umrisse von ein paar Dächern jenseits des Großen Sterns. Viele Blätter mußten gefallen sein.
Zylvercamp erschien nicht zum Frühstück. Er schlief lange in den Morgen hinein. Renate hatte vorsichtig in sein Schlafzimmer hineingelugt und gesehen, daß er wirklich fest schlief, die Hände wie gewöhnlich zu Fäusten geballt und neben den Kopf gelegt, als müsse er das Schicksal drohend verscheuchen, das sich über ihn herstürzen wollte.
Renate wußte, daß es ein schlechtes Zeichen war, wenn er lange schlief. Er wünschte dann, nicht am Leben teilzunehmen. Er hatte die große Fähigkeit, sich einen langen Schlaf zu erzwingen. Er hatte sogar die Selbstüberredungsgabe, die ihn Tag für Tag müder werden ließ. Einmal, damals, als Frank, ihr Junge, so krank war, hatte er einfach sechsunddreißig Stunden durchgeschlafen, bis die Krise zu Ende war. Sie hatte das immer „großartig“ gefunden. Heute zum ersten Male war sie ein wenig böse auf seine Fähigkeit, einfach aus der Welt, aus dem Leben auszusteigen und die anderen sich abzappeln zu lassen.
Renate kam jetzt gegen elf Uhr aus dem Hause in der Brückenallee. Es war nun schon wieder sonnig. Drüben im Park hatte der Sturm so viel hellgelbe Blätter hinuntergeblasen, daß es aussah, als wäre Sonne gefallen. Es erinnerte übrigens an Schnee, der bald fallen würde Machte also nicht froh.
Renate stieg in ihren kleinen hellblauen Wagen, den sie das Himmelsschiffchen genannt hatte. Sie fuhr ziellos die Charlottenburger Chaussee hinunter bis zur Siegesallee und bog dann scharf hinüber zur Tiergartenstraße.
Sie stand ein paar Minuten später atemlos, eine hellgelbe Eintrittskarte in der Hand (wieder diese Herbstblätter!), in der Zylvercamp-Ausstellung der Galerie Bigel.
Sie war ganz allein in der Ausstellung. Natürlich. Wer sollte um elf Uhr an einem herrlichen Herbsttag eine Ausstellung ansehen. Es waren drei Räume. Ganz hinten im letzten Raum, durch alle drei Türen sichtbar, hing das Löwenmaulbild. Es gehörte immer noch Bigel und war unverkäuflich. Er hängte es als Wertmesser, als Maßstab in alle Ausstellungen hinein. Zylvercamp sollte selbst vergleichen, ob er mit sich mitkam, ob er weiterkam oder zurückblieb. Bigel hatte das Bild in seinem Testament Renate Zylvercamp zugesprochen, weil sie nächst diesem Bild am besten bezeugen könne, was mit Zylvercamp eigentlich sei.
Renate ging durch die Säle und maß an dem Löwenmaulbild die anderen. Es waren weit bessere Bilder seitdem entstanden. Zum Beispiel die Lärchen aus dem Fextal. Zylvercamp hatte die drei einsamen Lärchenbäume aus seinem Garten gemalt. Sie waren wohl dreihundert Jahre alt. Strotzend von Kraft, unverbogen. Voll vom Wiegen der Winde und dem Stöhnen der Stürme. „Die Unnahbaren“ hatte er sie in seiner Titelsucht genannt. Selbst Doktor Altpeter hatte diesen Titel als zu literarisch abgelehnt. Aber Zylvercamp hatte recht, und Doktor Altpeter und die Malerkollegen, die sich ereiferten, hatten unrecht. Das Unnahbare war in den drei Lärchen gestaltet und Hoheit und Frost der Einsamkeit. Ja, so kalt, so durchdringend war diese Einsamkeit, daß Renate schauderte.
Sie spürte, daß der Mensch es nicht aushält, so unnahbar und so einsam zu sein, und daß er doch oft so allein ist wie ein Baum. Sie spürte, daß der Mensch zugrunde gehen muß, der nicht manchmal allein ist, und daß auch der Mensch zugrunde gehen muß, der immer allein ist. Und nun hatte sie den Mut, zu dem Bild hinzugehen, um dessentwillen sie gekommen war, dem Porträt Maria von Nemeschs.
Zylvercamp hatte es im Frühjahr gemalt, als Renate oben im Fextal in ihrem Häuschen saß und eingeschneit war, so daß keine Post durchkam. Und als endlich Post durchkam, war kein Brief dabei, sondern ein Telegramm: „Glücklich bei einem Porträt.“
Man konnte bei diesem Porträt wirklich glücklich