Oktober. Walther von Hollander
Sie konnte unmöglich länger den Film ansehen.
Und nun, nachdem sie geschlafen hatte, unruhig, von Träumen gequält, die sich nicht fangen ließen, die weggewischt waren, wenn sie aufwachte, ruderte sie hier in der vernebelten Sonne auf dem See.
Was sollte sie tun? Sie war jetzt in die Nähe des Ufers gekommen. Sie landete. Sie lief, als wüßte sie schon, was sie tun wollte, über den Landungssteg durch den Garten hinauf in ihre Wohnung.
Sie setzte sich an den Schreibtisch. Das war doch sehr einfach: sie mußte schnell an Guido von Wrede schreiben, und Wrede mußte sie schützen. Wenn sie schon heiratete, dann, nicht wahr, mußte doch der „Mann“ sie schützen.
Schützen? Vor wem wünschte sie geschützt zu werden? Vor Baudis etwa? Der war ihr doch ganz ungefährlich. Oder in einer Art gefährlich, daß niemand sie schützen konnte.
Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich von Gewalten umstellt, mit denen sie nicht fertig werden konnte. Mochten sie nun wie Zylvercamp die Gegenwart bedrohen oder wie Baudis die Vergangenheit, die Erinnerung ...
Die Erinnerung? Wäre sie jetzt weitergegangen, sie hätte das Rätsel schon lösen können. Aber sie hatte wohl die Kraft noch nicht. Sie setzte sich also und schrieb einen etwas zaghaften Brief an Wrede. Es stand keine Forderung darin. Kaum eine Bitte. Eigentlich nur eine Einladung. Er solle so bald als möglich nach Berlin kommen. Es sei, wenn sie es recht überlege, recht wichtig für sie. Vielleicht könne er sich doch einen Herbsturlaub geben lassen. Unterschrift: Maria.
Das war ja nicht viel. Aber es war doch ein großer Schritt. Aus dem Dunkel heraus, wie sie es wünschte? Oder in das Dunkel hinein, wie ihr Herz sagte?
2
Es war gegen vier Uhr nachmittags. Ein paar Gewitterwolken stiegen über dem Tiergarten auf.
Renate Zylvercamp sah vom Fenster des Ateliers aus unten im Bellevuepark die Kinderwagen in Bewegung geraten, die alten Leute und die Berufsmenschen, die hier kurz zwischen ihrer Arbeit einkehrten.
Sie stand am Fenster, wie so oft, wenn Zylvercamp malte, und starrte hinunter in das vertraute Gewimmel, aus dem sie einzelne Menschen genau kannte, den Bankboten zum Beispiel, der an jedem Tag zwischen vier und fünf erschien, das Hutfräulein, das mit vielen Hutkartons manchmal zu Gaste war und dann immer von einem jungen Mann in Wandervogelkleidung erwartet wurde. Den Invaliden kannte sie, der sich in seinem Rollwagen in schnellem Tempo über die Wege hantelte, zwei gebückte Alte, die sie Großbart und Kleinbart nannte und die gerade in diesem Augenblick einträchtig mit ihren Stöcken auf Renate wiesen, weil hinter ihr das letzte Stückchen Blau von eiligen grauen Wolken verdeckt wurde.
Jetzt kam der erste Windstoß, fegte über die Wipfel, wirbelte eine Staubwolke auf und warf sich gegen die Atelierscheiben. Renate schloß die Fenster und wandte sich um.
Zylvercamp malte versunken an dem Übergang zwischen Wange und Kinn, jener Partie, die bei Männern am klarsten ihr Alter zu verraten pflegt. Er hatte sie jetzt genau getroffen und legte befriedigt die Pinsel weg. Er kam zu Renate herüber und setzte sich zu ihr auf den Diwan. Renate schenkte Tee ein. Zylvercamp zog behaglich die Beine auf den Sitz und starrte in den Himmel, der mit niedrigen Wolken ziemlich dicht über dem Glasdach vorüberzog. Gerade fielen die ersten Tropfen.
Zylvercamp zeigte mit dem Stiel seiner Pfeife auf das Bild. „Gut“, murrte er, „ausgezeichnet“.
Renate nickte. „Ganz famos“, sagte sie, „aber du schonst dich wahrhaftig nicht.“
Zylvercamp sah überrascht auf. „Schonen“, fragte er, „warum soll ich mich schonen?“
Renate antwortete so vorsichtig, wie es sich für die Frau eines Künstlers geziemt: „Man könnte dich auch anders sehen.“
Der Maler hörte nur die Einschränkung in der Einwendung heraus. „Wenn man mich auch anders sehen könnte“, sagte er sehr scharf, „dann ist das Bild schlecht. Ein zufälliges Bild. Nichts Endgültiges.“
Renate mußte lachen. Sie packte ihren Mann bei seinem Haarkranz und beutelte ihn. „Früher hättest du mich mit so einem Unsinn erschreckt“, sagte sie (aber in Wirklichkeit war sie erschrocken), „jetzt weiß ich schon genau, was ich sage. Das, was du malst, ist das genaue, das tadellos getroffene, das intuitiv erschaute Selbstporträt. Du, wie du dich siehst. Damit also hast du recht.“
Zylvercamp hatte wieder seine Augen auf die Oberlichtfenster gerichtet. Er sah gespannt zu, wie die Gewittertropfen sich vermehrten, wie sie langsam in Regenbäche übergingen, die das Glas gelblich überspülten. Es tat ihm leid, daß der Sommerstaub weggewaschen wurde, als ob mit ihm auch das Schöne dieses Sommers wegfloß, das Flirrende des Sonnenscheins, die Hitze, unter der man nackt im Atelier herumspaziert war und „Lichtbilder“, tolle Blumenbilder, famose Menschenbilder „verfertigt“ hatte.
„Worin habe ich nicht recht“, fragte er langsam, „was habe ich nicht getroffen?“
„Das, was du noch nicht weißt“, lächelte Renate, „das, was hinter der Wirklichkeit sitzt, den inneren Kern hast du noch nicht mitgemalt, von dem du mir einmal erzählt hast. Das Kommende.“
„Das Kommende weiß niemand“, sagte Zylvercamp trotzig. Er hatte immer noch die Augen zum Oberlicht gehoben.
Renate aber zog ihn jetzt bei den Ohren herunter. Sie verlangte, daß er sie endlich einmal ansah. Seit ein paar Wochen, nein, seit Monaten, hatte er um sie herumgesehen, hatte er mit ihr gesprochen wie Odysseus mit den Schatten der Unterwelt. Nun erbat sie sich ein wenig Blut von ihm, um zu seinem Leben emporzusteigen, um einen Augenblick wie ein Mensch in der Sonne zu leben.
„Was du mir da sagst, ist mir wieder viel zu geheimnisvoll“, wehrte sich Zylvercamp. „Ich bin ein einfacher Maler, ein Mensch, der die Dinge sehen soll, wie sie sind. Kommt mit den Dingen auch ihr Hintergrund, ihr Untergrund, ihr Wurzelwerk auf die Leinwand, so ist das ein Geschenk, eine göttliche Gnade. Etwas, das man weder vom Schicksal noch von sich verlangen kann.“
Renate seufzte. Hier begann also wieder einmal das endlose Gespräch ihrer Ehe über die Wirklichkeit, über die Übersinnlichkeit und Sinnlichkeit, über den Sinn der Kunst, über das Geheimnis der Wirkung von ewigen Kunstwerken, ein vielgestaltiges Gespräch, jahrelang in tausend Stunden begonnen und über tausend immer wieder aufklaffende, immer wieder überbrückte Abgründe geführt, ein Gespräch, in dem jeder seine Feigheit und seine Tapferkeit hatte, seine Winkel, die er nicht gerne betrat, seine Steckenpferde, die er gerne ritt und die plötzlich scheuten und dem andern in die Parade ritten.
Aber jetzt in diesem Augenblick hatte sie wieder Anschluß gewonnen, hatte sie mit der Angel ihrer Rede ihn aus dem See der Trübsal herausgeholt, hatte er angebissen, und sie hielt ihn.
„Du sollst die göttliche Gnade nicht geschenkt nehmen“, sagte sie, „denn sie ist schon in dir. Du sollst nur in Wirklichkeit umsetzen, was schon in dir wirkt. Warum willst du nur malen, was du siehst, und nicht das dazu, was schon in dir brodelt, den Geist also, das, was hinter dem Fleisch unsichtbar wirkt?“
„Weil man das nicht kann“, sagte Zylvercamp hart.
Renate aber antwortete: „Dann wirst du es eben können machen. Wenn es bisher niemand fertiggebracht hat, dann mache du es doch als erster. Glaube mir, es ist bitter nötig.“
„Was ist also bitter nötig?“ fragte Zylvercamp, immer noch ein wenig widerwillig.
Renate sagte unerschrocken: „Es ist bitter nötig, das Neue zu malen, das schon in dir steckt. Das zu gestalten, wogegen du dich wehrst.“
„Ich wehre mich nicht“, sagte Zylvercamp, „denn ich spüre nichts, wogegen ich mich wehren sollte. Ich spüre nur das, was ich gemalt habe, und nichts mehr. Gar nichts mehr. Alles andere ist nicht da.“
„Es ist aber da“, sagte Renate beschwörend, „deshalb mußt du es malen. Du sagst in deinem Bilde sehr viel. Aber du verschweigst beinahe mehr.“
Und als ob