Oktober. Walther von Hollander
hatte — in seinen Hieroglyphen — daruntergeschrieben: Porträt der neuen, Wunschbild der alten Generation, und in den Rahmen hatte er einen seiner Vexiersprüche geritzt:
Wärt ihr nicht alle so leer,
Wolltet ihr nur so voll Fülle sein,
Fiele das Sterben den alten Menschen nicht schwer,
Würde die Welt morgen vollkommen sein.
Renate stand zehn Minuten vor dem Bild. Sie schrieb sich den mühsam entzifferten Spruch in ihr kleines Notizbuch. Sie war gerührt. Sie betrachtete mit einer gespannten und schmerzlichen Aufmerksamkeit das Gesicht Marias, als müßte sich daraus lesen lassen, was sie tun müsse. Sie fand Maria wieder sehr schön und sehr anziehend. Sie erinnerte sich auch gut, daß Zylvercamp immer, wenn Maria bei ihm gewesen war, sich so heiter und so lebendig gab, wie sie ihn im Anfang ihrer Ehe gekannt hatte. Sie war nicht eifersüchtig. Wie hätte sie auf einen so schönen Menschen böse oder neidisch sein dürfen? Aber ein stechender Schmerz der Hilflosigkeit traf ihr Herz und sollte es nie mehr verlassen. Sie spürte es ganz körperlich. Sie tastete nach dem Herzen. „Was soll ich tun?“ flüsterte sie.
In diesem Augenblick legte sich die Hand Bigels auf ihre Schulter. Der Kunsthändler wies lachend auf die Eintrittskarte, die Renate noch in der Hand hielt. Daß wenigstens einer noch die deutsche Kunst und die armen Kunsthändler unterstütze! Daß wenigstens einer noch sich für Zylvercamp interessiere!
„Ein schönes Bild, Bigel“, sagte Renate ernst, „ein wunderschönes Bild!“
Der Kunsthändler nickte. Es gehörte sicherlich zu den besten Zylvercamps. Aber ... nein, er sprach nicht weiter darüber. Renate drängte auch nicht. Sie sahen sich zusammen die schwächeren Bilder an. Das Porträt des Gesandten, in dem ein brutaler Verismus steckte, ein überflüssiger Trotz. Die Gewaltigen der Erde sollten nur nicht denken, daß ein Zylvercamp ihretwegen Fälschungen beging. Darum war das Bild ein wenig ins Unbedeutende und Häßliche verfälscht. Es hingen auch noch ein paar Landschaften da, die sehr effektvoll waren, sehr gekonnt, aber gekrampft und falsch betont.
Die beiden sprachen das ganz sachlich durch. Sie fühlten sich ja verantwortlich für Zylvercamp. Sie hatten ihn durchgesetzt. Sie kannten ihn von allen Menschen der Welt allein in seinen Schwächen und in der Größe, die, wie sie beide fanden, noch immer nicht ganz herausgekommen war.
Bigel begleitete Renate zum Wagen. Sie hatte den Motor schon angelassen und Bigel die Hand zum Abschied gereicht.
„Was meinen Sie, Bigel“, sagte sie da schnell, „sollte ich wohl gehen?“
„Wie meinen Sie das?“ wich Bigel aus. Er verstand sie aber natürlich sehr gut.
„Gehen und Platz machen“, antwortete Renate und nickte in Richtung der Säle, in denen Marias Bild hing.
„Nein, nein“, stotterte Bigel, „und außerdem, wohin wollten Sie denn gehen?“
„Wohin?“ fragte Renate. „Ich weiß es nicht. Darauf kommt es auch nicht an.“
„Unsinn“, sagte Bigel scharf, „Sie sind mindestens so viel wert wie Zylvercamp.“
„Darum dreht es sich nicht, Bigel“, lachte Renate. „Aber vielleicht ist es auch Unsinn. Ich weiß es nicht.“
Damit fuhr sie fort.
2
Am Nachmittag wollte Renate mit Zylvercamp sprechen. Sie klopfte vorsichtig an der Ateliertür, nach dem Morsesystem, das sie sich erdacht hatten. Dreimal kurz, einmal lang, das hieß: Ich möchte dich dringend sprechen. Die Antwort konnte lauten: Einmal kurz gleich: Geht nicht, Arbeit. Zweimal kurz gleich: Geht nicht, Besuch. Oder dreimal kurz: Komm.
Sie stand und horchte. Aber es antwortete niemand. Sie ging hinein. Die Sonne blendete und fiel jetzt gerade auf das Zylvercampsche Selbstporträt. Immer mehr, so sah Renate, verdunkelte sich das Gesicht des Gemalten. Immer fragender wurde der Blick. Immer ungeduldiger der Gesichtsausdruck und — so schien es ihr, immer abweisender.
Aber vielleicht kam die Melancholie besonders durch die grelle Sonne heraus, die blendend und flirrend um das Bild wob.
Renate beschloß jedenfalls, dieses Bild noch öfter anzusehen. Es würde genauer als Zylvercamp selbst Auskunft geben können, wie es um Zylvercamp stand — und damit um sie.
3
Zylvercamp war zum Schauspieler Baudis hinausgefahren, sehr böse, daß er vor der Arbeit ausriß. Aber manchmal, das hatte er in einem langen Arbeitsleben gelernt, mußte er ausreißen, weglaufen, die Arbeit stehenlassen. Allzu stramm macht unfruchtbar. Allzu schlaff allerdings erst recht.
Zylvercamp saß jetzt in dem großen Arbeitszimmer des Schauspielers und rührte in seiner Teetasse, die Augen starr auf den Fußboden geheftet, so als wollte er es vermeiden, den unzähligen Baudis-Bildern in Öl, in Pastell, in Radierung und in vergrößerten Fotografien ins Gesicht zu sehen. Es war übrigens auch ein Zylvercamp dabei, Baudis als König Lear, ziemlich versteckt in einer Ecke aufgehängt, weil es, obwohl vor zehn Jahren gemalt, einen zu alten Baudis darstellte.
Baudis sprach sehr schnell und sonor, mit jener Stimme, die Unzählige aus dem Theater und aus dem Kino kannten.
Er sprach von sich, von seinen Erfolgen und von dem, was er das Geheimnis der ewigen Jugend nannte. Er hatte sich ganz nah zu Zylvercamp gebeugt. Die lange Zigarre, eine verkohlte und verkokelte Virginia, schwenkte er wie einen Bleistift belehrend in der Hand.
„Der Wechsel, mein lieber Zylvercamp, hat mich so jung erhalten. Das ist es. Heute hier, morgen in Zürich. Heute den Lear und morgen den Faust. Heute im Theater und morgen früh in Tempelhof im Atelier. Man muß mit allem wechseln. Sie wissen, daß man mich auslacht, weil ich immer wieder heirate oder eine neue Freundin habe. Manche nennen es Narretei und Alterswahn. Ich weiß ganz genau, was die Leute sagen. Mit Ihnen kann ich darüber sprechen. Sie stehen auf der Höhe Ihres Ruhmes und Ihres Schaffens. Sie haben Erfolge, die Ihnen keiner abnehmen kann. Darum sind Sie auch nicht neidisch. Aber alle anderen sind neidisch. Weil ich Geld verdient habe, weil ich wieder und wieder Ruhm ernte, weil man sich meinen Namen zuflüstert, wenn ich durch Berlin gehe. Oh, das ist eine wunderbare Sache. Das tut gut. Ich leugne es nicht. Ich brauche das. Ich spitze die Ohren, ob sie es auch flüstern, das Honigwort: Baudis, Baudis, Baudis.“
Er kicherte dabei wie eine alte Hexe. Er wisperte wie eine Klatschbase. Er leuchtete vor Zufriedenheit. „Alle beneiden mich“, flüsterte er. „Aber sie wissen nicht, wie schwer es errungen ist und wie schwer zu halten. Man merkt es den Kollegen doch an, wie sie aufpassen, ob man nachläßt. Wie sie darauf achten, ob man nicht endlich ein paar Falten mehr hat. Diese verfluchten Großaufnahmen, eine total unkünstlerische Sache zudem. Sie passen alle auf, ob man nicht endlich von der Rampe runterschlägt. Da ist doch noch mancher, der meine Generaldirektoren spielen möchte und die Cracks unter den Verbrechern und den Othello oder den Jago. (Schade, daß man nicht beide spielen kann.) Sie würden mich am liebsten von der Szene herunterschießen. Aber dazu sind sie natürlich zu feige, und deshalb warten sie, ob nicht endlich die Kraft nachläßt. Aber ich beweise es ihnen immer aufs neue, daß ich noch da bin und noch lange dazubleiben gedenke. Und das ist auch der Grund, weshalb ich wieder geheiratet habe. Vielleicht haben auch Sie sich gewundert ...“ Zylvercamp schüttelte den Kopf. Er hatte zu Renate gesagt, als die Anzeige eintraf: Sie wird siebzehn sein und noch dümmer als die vorige.
„Nein“, sagte er jetzt, „ich habe schon vier Frauen bei Ihnen überlebt, und ich habe immer gedacht, daß eine fünfte, sechste und siebente kommen wird.“
Baudis lachte schallend. „Es ist nicht unmöglich“, sagte er, „man kann es nicht wissen. Obwohl ich es doch manchmal müde bin. Ihnen kann ich es ja gestehen.“
Zylvercamp sagte: „Sie haben wacker gekämpft, Baudis, und ich glaube, Ihre Müdigkeit wird wieder vorübergehen. Nicht wahr?“
Baudis nickte. „Ganz bestimmt“,