Oktober. Walther von Hollander
junge Dame, von Ihrem Anblick ganz gebannt, auf Sie zuging. Allerdings kam sie nicht ganz bis zu Ihnen.“
„Es war Ihre Bekannte“, lachte Baudis. „Und Sie haben sie mir weggejagt. Die sind Sie mir schuldig.“
Zylvercamp sagte: „Ich wollte sie Ihnen bringen. Es ging nicht. Ich habe sie nicht eingeholt.“
Und nach einer Pause: „Sie kennen sie also nicht? Es war allein die magische Kraft Ihrer Persönlichkeit?“
„Ich kenne sie wahrhaftig nicht. Aber sie ist außerordentlich schön“, sagte Baudis. „Verraten Sie mir wenigstens, wersie ist.“
Zylvercamp nannte Marias Namen. Er war immer noch überzeugt, daß Baudis schwindelte. Denn er hatte doch mit eigenen Augen gesehen, daß Maria auf diesen Mann zuging, so entschlossen, so geradeaus, wie sie alles anging, was sie sich einmal vorgenommen hatte. „Sie heißt Maria von Nemesch“, sagte er.
Baudis nickte. „Nemesch?“ fragte er. „Nemesch ... warten Sie ...“
„Sie kannten den Namen?“ fragte Zylvercamp.
„Man kennt so viele Menschen“, wich Baudis aus. „Unzählige Menschen sind durch mein Leben gegangen. Ich meine, ich habe den Namen schon gehört.“
„Es gab in Deutschland nur einen Mann dieses Namens“, sagte Zylvercamp streng.
„Aber er wird doch eine Frau gehabt haben, da er eine Tochter hat“, lächelte Baudis.
„Er war Strafrechtler in Jena“, sagte Zylvercamp.
„In Jena?“ wiederholte Baudis. „Nein, ich entsinne mich nicht.“ Zylvercamp stand auf. Er spürte, daß er bei Baudis nicht weiterkam. Er mußte Maria fragen.
Er ging schnell fort. Auf der Treppe hielt ihn noch die neue Frau auf und spielte eine kleine Eifersuchtsszene wegen „Herrn Zylvercamps Freundin, die in der Untergrundbahn verschwand“. Zylvercamp solle nur aufpassen. Sicherlich werde er nicht leicht „noch einmal eine so schöne Frau bekommen“.
„Sie haben recht“, sagte er und schüttelte ihr die Hand. „Als alter Mann muß man verflucht aufpassen.“
Er trat aufatmend aus dem dumpfen Hause. Er fragte sich, ob er sich nicht nur in diesem Gespensterringen gegen das Alter an Maria von Nemesch anklammere, an eine Leidenschaft für sie, um allen anderen Fragen und Kämpfen auszuweichen. Er konnte die Frage im Augenblick nicht beantworten.
Er ging durch die Gärten von Dahlem. Es war schon ziemlich dunkel. Hinten, nach Spandau zu, war der Himmel noch ein wenig aufgeschlagen wie ein großes feuriges Auge. Rechts über Berlin wölbte sich schon die leuchtende Abendkuppel, der Widerschein der Lichter. Unter den Bäumen aber war es Nacht. Eine bunte, schwüle Nacht mit Duft aus den Gärten von Rosen, die noch in Fülle blühten, und von exotischen Blumen, die fremd und betäubend dufteten.
Die Dunkelheit malen, hatte sein Lehrer Trübner gesagt, ist das Schwerste in der Malerei. Manche haben es nie gelernt. Aber alle, die es schließlich konnten, haben erst alt werden müssen. Im Alter, wenn man allein ist, wird man scharfsichtig und scharfhörig, auch wenn man nicht mehr gut sieht und hört. Deshalb ist es schön, zu altern.
Zylvercamp schüttelte den Kopf. Er drohte mit dem Stock in das verlöschende Sonnenuntergangslicht. Er wollte nicht alt werden. Ganz einfach: er wollte nicht. Selbst nicht um den Preis, daß er die Dunkelheit malen lernte? Nein, selbst nicht um diesen Preis.
Vielleicht hoffte er auch noch, er würde es auch in der Fülle aller seiner Manneskräfte schaffen, so zu sehen, daß er die Dunkelheit malen konnte.
Er als erster.
Der vierte Oktober
1
Maria von Nemesch kam im Bademantel über den Landungssteg. Sie ging an jedem Morgen, auch jetzt noch im Oktober, vom Bett aus ins Wasser. Sie hatte eigentlich ihre kleine Wohnung in Wannsee mit den großen Unbequemlichkeiten genommen, um so viel wie möglich im Wasser und auf dem Wasser zu sein. Sie war, wie ihr Großvater, der General Schüler, einmal gesagt hatte, kein Mensch, sondern ein Wassergeschöpf, sehr ungehörig für die Enkelin eines Landrattenkommandeurs.
Sie sprang an diesem Oktobermorgen schnell in den Kahn und ruderte mit aller Kraft hinaus. Es war kalt. Der Nebel stand über dem See, ein wenig von Sonne durchwoben, aber auch immer wieder von einem frischen Wasserwind zu richtigen Wolken zusammengeschoben, die sich feucht wie Schwämme anfühlten.
Vor einer solchen Wolke flüchtete Maria im Kopfsprung ins Wasser, sehr schlank, in einem hellgelben Badeanzug mit roter Kappe.
Sie schwamm dreißig Meter unter Wasser, tauchte auf, kraulte ihrem Kahn nach und kletterte gewandt wieder hinein. Die Sonne kam gerade heraus. Maria ruderte mit allen Kräften immer weiter vom Ufer weg. Vielleicht, wenn sie ordentlich ruderte, kam ihr eine Erleuchtung. Vielleicht fiel ihr ein, was sie tun sollte und darum tun mußte. Den ganzen Tag zuvor war sie nicht zum Nachdenken gekommen. Sie war bei zwei Verlagen gewesen und hatte ihre neuen Modefiguren gezeigt, elegante, zerbrechliche Geschöpfchen, ausgezeichnet dafür zu brauchen, daß man sie mit den Erfindungen spekulativer Modeschöpfer behängte. Sie hatte im Auftrag ein Titelbild für eine Zeitschrift gemalt. Das war ein sehr eiliger Auftrag gewesen, der in fünf Stunden, gleich im Verlag, erledigt werden mußte.
Man hatte ihr die Farben und das richtige Papier besorgt, man hatte ihr ein ganzes Sortiment von Pinseln gekauft und ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Bei ihrer Begabung war es doch eine Kleinigkeit, ein Bild zu malen, das irgendwie das Behagen des Herbstes schildern sollte, die Anziehungskraft des heimeligen November.
Der Schriftleiter hatte sich in Feuer geredet. Sie sollte schildern, wie mitten in der trüben märkischen Novemberebene Berlin aufflammte als eine riesenhafte Lichtblüte, wie es immer heller wurde um die Stadtmenschen, je mehr die Sonne an Licht verlor.
Maria hatte einfach ein paar Schaufenster gemalt, die mit herbstlich leuchtender Stapelfracht die Gesichter der Flanierenden und Schauenden anstrahlten. Ein recht hübsches Titelbild.
Dann aber hatte es noch einen kleinen Streit gegeben. Der Redakteur wollte, daß sie als Zylvercamp-Schülerin einen der — wie er sich ausdrückte — tollkühnen Zylvercampschen Titel darunterschrieb. Er fand auch gleich einen. November: Das Licht von innen. Das war in der Tat die sehr gute Parodie eines Zylvercamp-Titels. Maria aber wandte sich mit Hoftigkeit dagegen, daß man „das Besondere der wenigen meisterlichen Menschen verhöhne“.
Der Redakteur verteidigte sich erbittert. Maria wollte nun ihr Bild nicht mehr hergeben. Die Sekretärin, Fräulein Stock, mußte den Streit zum Ausgleich bringen. Der Redakteur durfte das Bild behalten, und der Titel lautete nun einfach und richtig: Großstadtnovember.
Damit war die Sache für die Redaktion erledigt, aber nicht für Maria. Sie fuhr nach Hause und versuchte zu arbeiten. Es ging nicht. Sie versuchte zu lesen. Es ging nicht. Was sollte werden? Sie hatte doch von Zylvercamp Abschied genommen. Sie hatte ihm gesagt, daß sie nicht wiederkommen würde. Und jetzt, bei der ersten Gelegenheit, brannte die große Zuneigung, nein, die Liebe zu ihm, einfach mit ihr durch. Sie mußte für ihn kämpfen! Welch ein Unsinn! Er konnte sich selbst verteidigen. Nein — es mußte ein Ende haben. Das hatte sie sich geschworen. Sie hatte sich am Abend in ein kleines Kino in Wannsee geflüchtet, mit einer ziemlich gleichgültigen Bekannten aus dem Haus, einer blonden Pastorentochter, Ellen Stau mit Namen, die zum Film wollte.
Sie hatte sich nicht für das Programm interessiert, und mit einemmal war Baudis auf der Leinwand erschienen, und der gleiche Schreck hatte sie erfaßt wie vor ein paar Tagen auf dem Kurfürstendamm, als sie über die Straße weg auf dieses Gesicht zugegangen war.
Sie saß und grübelte und wartete nur immer, daß Baudis wieder auf die Leinwand kam. Er hatte, wie meist, einen bösen Generaldirektor zu spielen. Dieser hier schmuggelte und mogelte. Es war nichts Besonderes an der Leistung, und Maria war schon geneigt, die ganze Sache mit Baudis für irgendeine dumme Revolte der Nerven zu halten, als der Baudis auf der Leinwand aus einem