Frau ohne Welt. Teil 2: Der Krieg gegen das Kind. Bernhard Lassahn

Frau ohne Welt. Teil 2: Der Krieg gegen das Kind - Bernhard Lassahn


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was für ein Menschenbild wir haben.

      Die Formulierung ist natürlich nicht korrekt. Die Kinder haben denselben Fehler gemacht, den wir machen würden, wenn wir von einem »dreistöckigen Hausbesitzer« sprächen – der Hausbesitzer selber ist nicht dreistöckig, und die Bücher sind nicht nackt. Die Kinder wollten auch nicht darauf hinweisen, dass irgendwo Bücher ohne Schutzumschläge herumlägen. Sie verrieten etwas anderes: Für sie war Nacktheit nicht etwas, was in gewissen Büchern vorkommt, sondern etwas, was diese Bücher durch und durch kennzeichnet.

      Den gleichen Fehler machen wir, wenn wir von einer »Männersprache« reden oder von einer »männlichen Gesellschaft«. Unsere Sprache ist keine Männersprache. Und die Gesellschaft ist nicht männlich. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es Männer gibt. Das ist selbstverständlich, das muss nicht extra erwähnt werden.

      Es soll etwas anderes damit gesagt werden: Mit der Verkürzung auf »männliche Gesellschaft« machen wir eine Aussage darüber, welche Rolle die Männer in dieser Gesellschaft vermeintlich spielen. Wir unterstellen, dass Männer aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit die Gesellschaft – oder die Sprache – so stark dominieren, dass damit alles andere, was man sonst noch über sie sagen könnte, in den Schatten gestellt wird. So haben auch die Kinder gedacht, als sie von »nackten Büchern« sprachen: Sie meinten eigentlich Bücher, in denen es Zeichnungen von Nackedeis gibt. Doch das war für sie so überwältigend, dass alles andere zweitrangig, ja sogar nichtig wurde.

      So wie die Kinder diese Bücher sehen, so sehen wir heute den Menschen, als würden wir alle auf der Reeperbahn leben und hätten es mit einer Non-Stop-Sex-Party zu tun. Auch wenn wir nur ein Konto eröffnen oder einen Text schreiben wollen, in dem es gar nicht um Sex geht, immer sollen wir »geschlechtersensibel« handeln und in allen Lebenslagen berücksichtigen, dass es Männlein und Weiblein gibt – als wüssten wir es nicht.

      Stellen wir uns vor, jemand würde bei jeder passenden und auch unpassenden Gelegenheit seine Essensgewohnheiten erwähnen und sagen: »Ich möchte gerne eine Fahrkarte kaufen. Ich bin übrigens Vegetarier.« Oder: »Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist? Ich bin übrigens Vegetarier.«

      So sollen wir uns verhalten.

      Die allumfassende Sexualisierung ist zum obersten Gebot geworden. Doch die Überbetonung schlägt schnell in ihr Gegenteil um und führt zur Banalisierung. Wir werden ständig mit Reizen traktiert und stumpfen ab, je mehr die Sexualität aus den Zusammenhängen von Liebe und Fortpflanzung gelöst wird und nur noch kleine Vergnügungen übriglässt, die mehr und mehr an Bedeutung verlieren, so dass wir ohne Sehnsucht zurückbleiben wie Überlebende, denen man alles genommen hat und die längst emotional pleite sind.

      Dennoch: Sex soll unser ein und alles sein.

      Schon der Sprachgebrauch soll unsere Anpassung an die Zwangssexualisierung ausweisen: Bei jeder Pluralbildung sol len wir die Doppelnennung (Leserinnen und Leser) oder das Binnen-I (LeserInnen) verwenden. In der Schule gibt es heute keine Schüler mehr, sondern »SuS« (Schülerinnen und Schüler). Wir sollen auch das sogenannte generische Maskulinum (die Leser) meiden und stattdessen von Lesenden sprechen. Deshalb gibt es an unseren Universitäten keine Studenten mehr, sondern, obwohl sachlich falsch, nur noch Studierende, denn alles, was einen männlichen Beiklang hat, soll aus dem Sprachgebrauch und aus unserem Bewusstsein vertrieben werden.

      Wir sollen so reden, als wäre unser Selbstverständnis dermaßen stark von unserer Geschlechtszugehörigkeit bestimmt, dass alles andere nicht mehr zählt. Als wären wir so gründlich von der Geschlechterfrage durchdrungen und durchfeuchtet wie eine Packung Papiertaschentücher, die versehentlich in die Waschmaschine geraten ist.

      So ist es heute bei den Erwachsenen. Ist es bei Kindern, die noch nicht geschlechtsreif sind, auch so? Sind sie auch oversexed?

      Als Sigmund Freud unterstellte, dass schon kleine Kinder ein – wenn auch verdrängtes – Interesse an Sex hätten, wurde er heftig angefeindet. Gerade von feministischer Seite wurde ihm vorgeworfen, dass er damit die Kinder verraten und den Päderasten ein Einfallstor geöffnet hätte. Von nun an würde Missbrauch als normal angesehen werden können. Freud, so meinten sie, hätte sich mit seinen Überlegungen mit Kinderschändern verbündet und auf ihre Seite geschlagen; denn die könnten nun behaupten, dass die Kinder eine sexuelle Begegnung genauso gewollt hätten wie sie selbst. Sie könnten sich problemlos auf »einvernehmlichen« Sex berufen.

      Bei Freud war das noch Theorie, Spekulation. Alfred Kinsey ging einen Schritt weiter. Er wollte den Beweis erbringen, dass es eine frühkindliche Sexualität tatsächlich gibt, und legte dazu den Kinsey-Report vor, der aus zwei Bänden besteht: Sexual Behavior in the Human Male (1948) und Sexual Behavior in the Human Female (1953). Kinsey gilt bis heute als Pionier der sexuellen Revolution. Er hat in der Tat eindrucksvolle Zahlen in die Welt gesetzt, die sich zwar später als gigantischer Schwindel herausstellten, was aber seinem Ruhm nicht geschadet hat. Sein Report gilt nach wie vor als Grundlagenwerk.

      Kinsey hat sich speziell für die Orgasmusfähigkeit von Kindern interessiert. Besonders die kleinen Jungs hatten es ihm angetan, die ganz kleinen, die Babys. Sie alle wurden bei ihm unter »male« subsumiert – also unter »männlich« –, ohne dass sie dafür ein Mindestalter haben mussten. Er unterstellte, dass sie wie Erwachsene zum Orgasmus, ja sogar zum multiplen Orgasmus kommen könnten. Eben das wollte er mit seinen Forschungen belegen. Indirekt war damit aber noch etwas anderes gesagt: Wenn Kinder zu Orgasmen kommen können, dann sollten sie sie auch haben.

      An dieser Stelle kann man leicht einem wissenschaftstheoretischen Fehlschluss erliegen. Vielen, die mit statistischem Material arbeiten, ergeht es so. Man muss jedoch immer berücksichtigen, dass der Ist-Zustand noch nichts über den Soll-Zustand aussagt.

      Wenn wir Fliegenbeine oder Erbsen zählen und schließlich wissen, wie viele es davon gibt, heißt das noch lange nicht, ob es mehr oder weniger davon geben sollte. Solche Fragen stehen immer außerhalb der Versuchsanordnung. Zahlen sind buchstäblich »nackt«. Sie sagen uns nicht, wie wir mit ihnen umgehen sollen.

      Was wollte Kinsey mit seinen imposanten Zahlen zeigen? Für ihn war die behauptete Orgasmusfähigkeit eine Art Goldmine, die man unbedingt ausbeuten müsse. Das tat er dann auch.

      Schon Säuglinge im Alter von fünf Monaten, so behauptete er, könnten wiederholte Orgasmen erreichen. In den berühmt gewordenen Tabellen (englisch tables) 30–34 präsentierte er Daten zur Orgasmusfähigkeit von insgesamt 317 männlichen Säuglingen und Kindern – wie beispielsweise in table 34 (aus Sexual Behavior in the Human Male, S. 180). Daraus kann man ersehen, dass ein elf Monate alter Säugling innerhalb von 38 Minuten 14 Orgasmen hatte, ein zweijähriges Kleinkind sieben Orgasmen in neun Minuten. Die Zahlen machen den Eindruck, als wollte jemand einen Rekord aufstellen. Genau darum ging es Kinsey. Das Maximum an Orgasmen, das Kinsey beobachten konnte, waren 26 Höhepunkte in 24 Stunden bei einem vierjährigen Jungen. Doch selbst das war ihm noch nicht genug. Kinsey spekulierte, dass in derselben Zeiteinheit noch mehr Orgasmen möglich gewesen wären.

      Er hatte den Ehrgeiz, möglichst imposante Zahlen zu präsentieren, doch nur »32 Prozent der Jungen im Alter zwischen zwei bis zwölf Monaten kamen zum Höhepunkt«, wie er bedauernd einräumen musste, und er beklagte, dass es »einige« präadoleszente Jungen gäbe, »… die den Höhepunkt selbst unter anhaltender, verschiedener und wiederholter Stimulation nicht erreichten«. Dennoch blieb er davon überzeugt, dass eine bis dahin unentdeckte Orgasmusfähigkeit existiere: »Es ist sicher, dass ein noch höherer Anteil der Jungen multiple Orgasmen hätte haben können (…). Sogar die jüngsten Säuglinge, fünf Monate alt, sind zu solch wiederholten Reaktionen in der Lage.«

      Seine Zahlen werfen verschiedene Fragen auf. Was bedeutet es für ein zehnjähriges Kind, wenn es 24 Stunden lang, wie in der Tabelle aufgeführt, pausenlos unter Beobachtung steht? Was für eine Art von Beobachtung wird das gewesen sein? Wie lange – und auf welche Art? – wurden Jungen stimuliert, bis man schließlich zu dem Ergebnis – besser gesagt: zu der Einsicht – kam, dass sie doch keinen Orgasmus haben können? Es sind immerhin 68 Prozent der Jungen, die getestet wurden, also gut zwei Drittel; denn, wie beschrieben, nur 32 Prozent von ihnen hatten einen Orgasmus. Einen Orgasmus?


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