Religion – Eine Zukunft für die Zukunft. Anand Buchwald
die ihr immanenten Fallstricke zu umgehen, denn alles, was mit Glauben zu tun hat, neigt ganz grundsätzlich zu einem unkontrollierten Eigenleben und zu Selbsttäuschung.
Diese andere Richtung verneint nicht grundsätzlich den Glauben an Gott oder die Bedeutung der Religion, sondern koppelt sich von ihren ritualistischen, dogmatischen, politischen und beengenden Aspekten ab und nimmt die Religion als Vorstufe für eine weiterführende Entwicklung an. Das, was über die Religion hinausführt, ist die Spiritualität. Diese beschäftigt sich nicht mit den üblichen heiligen Büchern und einer vermenschlichten und mechanistischen Gottesauffassung und begrenzenden Vorgaben, sondern mit dem Göttlichen an sich. Die Spiritualität nimmt Gott nicht als eine wesensfremde und unnahbare, aber doch auch irgendwie menschliche Entität wahr, sondern als Grundlage unseres Seins, der man sich progressiv annähern und mit der man auch ganz konkret in Beziehung treten kann, und dies nicht nur auf oberflächliche Weise, sondern durchaus tiefgehend bis hin zu einer Einswerdung, die nicht im Fokus der religiösen Gottesauffassung steht und die mit der traditionellen Religionspraxis auch kaum erreicht werden kann. Die Spiritualität verhält sich zur Religion wie die Realität zu einer Art Traumwelt.
Wenn jemand eine spirituelle Erfahrung und einen Glauben besitzt, dann formuliert er sie in den für ihn selbst passendsten Worten. Aber wenn er überzeugt ist, dass dieser Ausdruck der einzig korrekte und wahre für diese Erfahrung und diesen Glauben ist, wird er dogmatisch und neigt dazu, eine Religion zu erschaffen.
Mira Alfassa – Die Mutter
3. Kapitel
Die individuelle Evolution der Religion
Die Religion und ihre Genese ist zwar am Sichtbarsten ein gesellschaftliches und in ihrer Bedeutung ein zunehmend globales Phänomen, aber sie ist in noch viel größerem Maße vor allem eine zutiefst individuelle Angelegenheit, die weit über die „Richtlinienkompetenz“ der organisierten Religion und ihrer Institutionen hinausgeht. Diese können große Veranstaltungen planen und wichtige Feste zelebrieren, sie können Reden halten und Dogmen festlegen, sie können Rituale vorgeben und Gedanken, Empfindungen, Denkweisen und Ge- und Verbote in die Gläubigen pflanzen und damit in gewissem Rahmen beeinflussen, was in den Menschen vorgeht, sie können Stimmungen, Urteile und Vorurteile erzeugen und abbauen, aber sie können dies nicht aus eigener Machtvollkommenheit tun, sondern nur das nutzen und beeinflussen, was im Menschen natürlicherweise bereits angelegt ist. Sie können den Menschen gewollt oder ungewollt auf den Weg zu Gott führen oder ihn davon abbringen, und doch sind sie nur mehr oder weniger fähige Mittler, die dem, was im Menschen schlummert, wie mehr oder weniger ungeübte und planlose Billardspieler, einen Anstoß geben.
In unterschiedlicher Tiefe ist im Menschen eine Offenheit da, eine Bereitschaft zu glauben, die wie eine Andockstation auf zellularer Ebene wirkt, wie ein Schloss, das auf den passenden Schlüssel wartet, um eine neue Dimension des Seins zu öffnen. Es ist die Fähigkeit und vor allem die Bereitschaft zu glauben. Dabei ist es erst einmal unerheblich, worum es dabei geht. Dieses Glauben-können und vielleicht sogar Glauben-wollen hat womöglich sogar eine biologische Komponente. Ganz grundsätzlich gibt es zwei unterschiedliche Methoden, etwas zu lernen: Die eine basiert auf Erleben und Erfahren, die andere auf dem Annehmen übermittelter Erfahrungen.
Als kleines Kind ist man in seinen allerersten Lebensjahren vom Wissen der Alten abhängig, und der Versuch, nur durch Erfahrung zu lernen, wäre ausgesprochen fatal, schon allein, weil die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Umwelt bei Neugeborenen extrem eingeschränkt ist, und später, weil man manche Erfahrungen, wie etwa giftige Maiglöckchen zu essen, nur einmal machen kann. Der größte Lernerfolg und der umfangreichste Erfahrungsschatz kommt durch die Kombination der beiden Methoden zustande, durch Erleben und die nachfolgende oder begleitende Wissensvermittlung oder durch eine Wissensvermittlung, die durch das Erleben überprüft (Feuer tut weh) oder einfach geglaubt wird (Maiglöckchen sind giftig). Ohne diese Bereitschaft zu glauben, würden wir jegliches Wissen anzweifeln und müssten alle Erfahrungen mit ihren teilweise recht negativen Folgen selbst machen, und da uns darüber hinaus der Erfahrungsreichtum unserer Vorfahren verschlossen bliebe und wir auf diesen Fremderfahrungen auch nicht aufbauen könnten, würde unsere individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung stagnieren, es fände also keine Evolution statt, und der Mensch wäre nie entstanden. Der Mensch ist also ohne die Fähigkeit und die Offenheit zu glauben nicht wirklich vorstellbar. Sie gehört zu den Grundlagen seines Seins.
Und diese Offenheit ist ihrer Natur nach nicht diskriminierend — und kann es auch gar nicht sein —, sondern zuerst einmal für alles aufgeschlossen, was ihr begegnet. Erst in der späteren Entwicklung bekommt sie alle möglichen Arten und Größen von Scheuklappen verpasst. Dies geschieht durch negative Erfahrungen, durch die Konzentration auf bestimmte Entwicklungslinien, die bestimmte Bereiche inhaltlich oder durch Beschränkungen der Kapazität ausschließen, oder durch einseitige Wissensvermittlung und Konditionierung von Seiten der Eltern, der Freunde, der Schule oder durch gezielte Propaganda von Menschen, die ihren begrenzten Horizont für das Maß aller Dinge halten. Diese Menschen — und jeder von uns trägt etwas von ihnen in sich — sind nicht von Natur aus beschränkt, sondern haben sich einer Sache oder einem Glauben geöffnet, die sich als absolut darstellt und darum kein weiteres Wachstum, keine neuen Erfahrungen und keine Ausweitung zulässt und sich zum Teil auch auf die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits stützt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Karl Marx die Religion als „Opium für das Volk“ bezeichnet hat, denn starke, süchtig machende Rauschgifte verändern das Bewusstsein und den Blick auf die Welt, indem sie dem Menschen Scheuklappen verpassen und bestimmte Sichtweisen und Entwicklungen nicht mehr zulassen, ihn also in seiner Freiheit, in seiner Erkenntnisfähigkeit, in seiner Wahrnehmung der Welt und der Realität und in seiner Offenheit des Glaubens einschränken. Und die Religion schränkt den Menschen nicht nur in seiner Beziehung zur Welt ein, sondern auch in seiner Fähigkeit zu glauben. Sie ist also eigentlich ihr eigener und deshalb größter Feind.
Man könnte die Religion darum mit Karl Marx für überflüssig und gefährlich halten. Aber die Religion hat durchaus eine Funktion im menschlichen Sein, auch wenn diese kaum wahrgenommen und gefördert wird. Ihre Grundlage ist diese Fähigkeit zu Glauben, die Ausdruck einer grundsätzlichen Offenheit ist, und die Bereitschaft, an etwas zu glauben, das auf Anhieb nicht bewusst wahrnehmbar ist und dem wissenschaftlichen Weltbild zu widersprechen scheint, hält die kreative Neugier und die Bereitschaft, Dinge wahrzunehmen und das eigene Weltbild auszuweiten am Leben, wenn auch mit Einschränkungen, die sie zu einer Sackgasse machen können. Dies ist aber nicht unumgänglich.
Michel Montecrossa hat mit dem Bild eines sechsteiligen Bewusstseinsrades einen Ort und eine Bedeutung der Religion in der menschlichen Bewusstseinsentwicklung aufgezeigt, in der sie einen wichtigen Platz einnimmt und nicht als Sackgasse der inneren Evolution endet.
Der Ausgangspunkt dieser inneren Evolution ist genau genommen die Zeugung und Empfängnis, aber praktisch manifestiert sie sich im Einklang mit dem Wachstum der Wahrnehmungsfähigkeit des Kleinkindes. Sein Selbstempfinden ist anfangs eher global und vor allem auf der vitalen und der körperlichen Ebene egoistisch, und seine Wahrnehmung ist weniger analytisch als vielmehr künstlerisch. Ein Baby hat zwar ein Bewusstsein seiner selbst, aber noch kein denkendes und reflektierendes Bewusstsein, und dementsprechend ist seine Wahrnehmung auch ein ungefiltertes Einströmen von Eindrücken auf allen Sinneskanälen. Wahrnehmung bedeutet, dass man das, was man über die Sinne aufnimmt, mit seinem Bewusstsein und mit dem, was in diesem vorhanden ist, in Beziehung setzt. Man kann darüber nur spekulieren, was ein neugeborenes und sich entfaltendes Bewusstsein ausmacht, aber es wird gewiss keine großartige mentale Struktur enthalten. Vielmehr wird es aus Empfindungen bestehen, und wenn man davon ausgeht, dass der Mensch mit einer Seele zur Welt kommt, die in eine Weltenseele oder eine universale oder göttliche Seele oder in ein Großes Bewusstsein eingebettet ist, mit ihr in Beziehung steht und aus ihr schöpft, dann ist davon auch etwas in seinem Bewusstsein gegenwärtig. Die ersten Strukturen, die ein Kind in seinem Bewusstsein aufbaut, sind also globale Empfindungsstrukturen, die es zu seiner noch nicht völlig ausgeformten Persönlichkeit