Religion – Eine Zukunft für die Zukunft. Anand Buchwald

Religion – Eine Zukunft für die Zukunft - Anand Buchwald


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ausbildet, ist darum von Eindrücken geprägt, die nichts Mentales an sich haben, sondern pure Empfindungen sind, also Licht und Dunkel, Farben in unendlichen Abstufungen und Intensitäten, Gerüche aller Art, Geschmacksempfindungen von zart bis heftig und von süß bis umami, helle und dumpfe und klare und verwaschene und leise und laute Klänge, Tastempfindungen, Kälte, Wärme, Berührungen, harte, weiche, flüssige Konsistenzen, Formen in endloser Vielfalt, Körperempfindungen wie Hunger und Durst, das Fließen des Urins, die körperliche Nähe und die Berührung anderer Menschen, die Empfindungen, die sie einem entgegenbringen, ihre Ausstrahlung, ihre Präsenz und ihr Temperament …

       All dies sind Eindrücke und Empfindungen, die zueinander und zum eigenen Bewusstsein und der eigenen Persönlichkeit in Beziehung gesetzt werden, und das ist anfangs und für lange Zeit weniger eine geistige, als vielmehr eine künstlerische Arbeit, denn die Kunst beschäftigt sich, zumindest anfänglich und für eine lange Zeit nicht mit mentaler Analyse und rationalen Beziehungen, sondern mit innerer und äußerer Wahrnehmung, mit Empfindungen und Ausdruck und mit emotionalen und seelischen Verbindungen. Die synergetische Wahrnehmung, die Verarbeitung von Eindrücken, ihr gegenseitiges In-Beziehung-Setzen und die Bezugnahme zu ihnen ist ein wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Bewusstseins.

       Und lange ehe die Welt mental und rational entdeckt wird, wird sie künstlerisch erforscht und entdeckt. Wenn das Kind sprechen lernt, verknüpft es Klangbilder mit optischen Bildern und einer Vielzahl weiterer Eindrücke, und erst daraus entsteht dann ein mentales Bild. Sprache und Sprechen lernen ist in diesem Alter noch ein zutiefst künstlerischer Vorgang, zu dem sich mit wachsendem Fortschritt noch mentale Elemente hinzugesellen.

       Sowie das Kind mehr Kontrolle über seinen Körper erlangt, beginnt es, zusätzlich zu Mimik und Körpersprache und -kontakt physisch zu kommunizieren. Und natürlich findet diese Kommunikation künstlerisch statt, denn da das Bewusstsein bislang fast ausschließlich künstlerisch geprägt ist, ist auch der Ausdruck künstlerisch, und außerdem bedeutet Kunst ja auch die Kommunikation zwischen der inneren und der äußeren Welt; sie macht die äußere Welt verstehbar und verhilft der äußeren Welt, den anderen Menschen, zu einem Einblick in die innere Welt, sei es in ihre eigene oder in die des Künstlers.

       Bislang hat das Kind Eindrücke von außen empfangen, jetzt möchte es selbst Eindrücke schaffen und sich ausdrücken, und dazu wird alles benutzt, was greifbar ist und sich in irgendeiner Form manipulieren lässt, zuerst die Stimme und dann Bauklötze, Stifte, die Gegenstände der Umgebung und die Spielsachen. Durch diesen künstlerischen Ausdruck wird das künstlerische Bewusstsein stärker ausgebildet und individualisiert. Je reichhaltiger die Möglichkeiten sind, die ihm dafür zur Verfügung stehen, desto reichhaltiger wird auch die resultierende künstlerische Persönlichkeit ausfallen. Genau genommen ist der ganze Mensch an sich ein selbst geschaffenes Kunstwerk, das sich in einem stetigen Prozess der Verfeinerung, der Konkretisierung und des Wachstums an Ausdruck und Erkenntnis befinden sollte. Dieses künstlerische Bewusstsein ist die hauptsächliche Grundlage für unsere Fähigkeit, Verknüpfungen und Beziehungen herstellen zu können; das mentale Bewusstsein ist davon nur der Nutznießer und für seine Existenz wahrscheinlich sogar darauf angewiesen.

       Auch heute noch wird die Kunst, selbst wenn man sich gerne mit ihr umgibt, belächelt und als nebensächlich und unwichtig abgetan, dabei ist sie der Schlüssel für unser weiteres Leben und die Grundlage unserer Entwicklung und Entfaltung. Bei der Kunst muss man eine Unterscheidung zwischen ihrer reproduktiven und ihrer kreativen Form treffen. Die reproduktive Form ist etwas weniger wertvoll, da sie sich nicht mit der Schöpfung von Neuem befasst, aber sie vermittelt denen, die sie ausüben, die Möglichkeit, ihre technische Grundlage und ihre Fertigkeiten zu trainieren und zu verfeinern, so dass sie, wenn sie sich der schöpferischen Seite zuwenden, die Fähigkeit zu einem optimalen Ausdruck besitzen. Außerdem fördert reproduktive Kunst, vor allem in der Musik, das Eintauchen in die Seele des Kunstwerks und erlaubt dem Empfänger der Wiedergabe gleichfalls, dessen Dimensionen zu erforschen. Die kreative Kunst hingegen bietet einen weiteren bedeutenden Aspekt. Der Künstler, also der aktiv schöpferische Mensch, nimmt die Welt tiefer und reichhaltiger wahr, als der nur mentale und rationale Mensch; er kann mehr Verbindungen erkennen und herstellen, die Welt umfassender wahrnehmen und für neue Entwicklungen und Erkenntnisse offener sein.

       Darum ist der künstlerische Aspekt unseres Lebens, unserer Erziehung und Bildung, und dazu zählt auch die sportliche und die kreative körperliche Betätigung, von immenser individueller, gesellschaftlicher und globaler Bedeutung und sollte in Bildungsfragen immer an erster statt an letzter Stelle stehen. Die innere Evolution des Menschen läuft nicht so ab, dass man eine Entwicklung vollzieht und sie dann mit dem Eintreten in die nächste Entwicklungsstufe abschließt, wegsperrt und ignoriert, sondern dass jede Stufe die Grundlage (und in gewisser Weise auch Bestandteil) der nächsten und aller kommenden ist, denn jede Stufe mag zwar eine größere Wahrheit in sich bergen, ist aber für sich allein nicht lebensfähig und nur ein Aspekt dieser größeren Wahrheit, so wie auch das Leben auf dem körperlichen Dasein aufbaut und ohne dieses nicht existieren könnte und keine Ausdrucksmöglichkeit hätte, oder wie der Geist für seine Existenz und seinen Ausdruck auf Leben und Körper angewiesen ist.

       Darum sollte man die Kunst, in welcher Form auch immer, zeitlebens und möglichst vielfältig pflegen, andernfalls man Gefahr läuft, sich in der nächsten Entwicklungsstufe zu verlieren und sie für die einzige Realität zu halten, wie es bei zu vielen Menschen der Fall ist, weshalb wir auch in einer so zerstörten und kalten Welt leben, die von Pseudo-Rationalismus und eiskaltem Kapitalismus regiert wird.

       Diese nächste Stufe besteht in der Entwicklung der Ratio, der Vernunft, des analysierenden Verstandes. Die Kunst nimmt Beziehungen wahr und empfindet und erlebt sie, und irgendwann fängt der Mensch an, diese Beziehungen und Verbindungen mit gesteigertem, aktivem Interesse zu betrachten und sie dann zu analysieren. Das ist der Einstieg in eine wissenschaftlich geprägte Seinsweise und Bewusstseinsstufe. Wenn von Wissenschaft die Rede ist, denkt man immer zuerst an Hochtechnologie, an biologische Forschung und an chemische Versuche, aber diese sind nur die hochgezüchteten und isolierten Ausdrucksformen des wissenschaftlichen Bewusstseins, das in jedem Menschen existiert. Eine der ersten Ausdrucksformen und Anwendungen dieses Bewusstseins und seiner analytischen Fähigkeiten ist das Erkennen und Erlernen der Sprache, zusammen mit der Einführung von Ordnung, durch die auch erstmals die Konzepte von Unordnung und Chaos entstehen. Analyse bedeutet, Dinge zu betrachten, sie zu vergleichen und auf mentale Weise zueinander in Verbindung zu bringen. Dabei werden sie kategorisiert, und es wird eine Systematik erzeugt, die es erlaubt, alle Dinge, die einem begegnen, einzuordnen. So wird eine Ordnung geschaffen, die mehr oder weniger optimal und vor allem künstlich ist. Jeder Mensch hat sein eigenes Ordnungssystem, mit dem er einigermaßen gut zurechtkommt und das er im Laufe seines Lebens immer wieder umarbeiten und ergänzen muss, wenn er neue Beobachtungen macht und neue Fakten in Erscheinung treten. Solange man dazu in der Lage ist, bleibt man geistig beweglich und innerlich jung und kann gut mit neuen Erkenntnissen und Entwicklungen umgehen. Wenn man aber frühzeitig und überzeugend vermittelt bekommt, dass nur eine bestimmte Sache oder Sichtweise richtig ist, leidet die Flexibilität dieses inneren Ordnungssystems, das ja nur ein eigentlich unzureichendes Hilfsmittel ist, um die Welt zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden, weil dadurch bestimmte Gedankengänge und Schlussfolgerungen oder neue Ordnungskategorien tabu, also nicht mehr „denkbar“ sind. Die schulische Erziehung beginnt langsam, sich von dieser Dogmatik zu lösen, weil wissenschaftliches Arbeiten unter der Fuchtel des Dogmas fehlerhaft und unproduktiv ist, weil die notwendige Objektivität und die Offenheit für Neues fehlen. Politik und Religion sehen diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen oder ungern, da der Mensch dadurch weniger vorhersehbar und steuerbar ist. Menschen, die dogmatisch indoktriniert sind oder die aus verschiedenen Gründen diese Flexibilität und die Anpassung der Systematik nicht trainiert haben oder dabei nachlassen, geraten dann schnell aus dem Fluss oder entwickeln sich zu engstirnigen oder bigotten Persönlichkeiten und können auch nur eine tendenzielle Auffassung der Wissenschaft haben.

       Die Ordnung, die der Mensch sich schafft, ist notwendigerweise persönlich und somit subjektiv, was zu Verständnisproblemen führt, wenn zwei zu unterschiedliche Systematiken aufeinandertreffen. Das sollte uns vor Augen führen, dass diese Ordnung ihrer Natur nach künstlich ist und auf jeden Fall suboptimal. Die ideale künstlerische Wahrnehmung hat dieses Problem nicht, denn sie findet


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